Eine Metakritik zu »Allegro Pastell«
Zum ‚Politischen‘ in der männlich-geprägten Popliteratur seit Faserland (1995) haben Kritik und Forschung bekanntermaßen ein gespaltenes Verhältnis. Systemaffirmative „Schlappschwanzliteratur“ (Biller 2000) und überhaupt der Untergang der „kritischen Kultur“ (Radisch 1999) sei das, was Kracht, Stuckrad-Barre und von Uslar produzierten, hieß es vor nunmehr zwanzig Jahren in der „Zeit“. Sinnvollerweise für mehr Differenzierung zwischen einem eher affirmativ verfahrenden ‚popliterarischen Mainstream‘ und experimentell-subversiven Pop-Texten von Goetz, Meinecke oder Neumeister sprach sich dagegen die Forschung aus (Winkels 1999; Ullmaier 2001; Ernst 2013) aus. Dass allerdings auch Affirmation durchaus subversiv sein kann, etwa indem sie ‚gegen die Rebellion rebelliert‘ (Conter 2004), hat man dann wiederum durch Tristesse Royale (1999) lernen dürfen. Die Möglichkeit der Verschränkung kontrovers-politischer Inhalte bei gleichzeitiger Oberflächenaffirmation bewiesen uns sämtliche Werke Christian Krachts seit 1979 (2001).
Mit Leif Randts Allegro Pastell (2020) ist jetzt ein Text erschienen, dessen bisher unbesprochene Qualität auch darin besteht, eben jenes ‚Politische‘ der Popliteratur abermals neu zur Verhandlung zu stellen. Bereits zu dieser Neuverhandlung gehört, dass das, was hier passiert, mittels der alten Begriffe und Theorien offensichtlich nicht mehr eindeutig als ‚politisch‘ oder ‚unpolitisch‘ eingeordnet werden kann. Zwar immer voll des Lobes, aber doch entsprechend uneinig über das ‚Politische‘ des Textes, zeigte sich so etwa die bisherige Kritik zum Roman: Während „taz“-Journalistin Doris Akrap in Randts Roman eine vollständige ‚Abwesenheit von Politik‘ erkannt haben wollte, attestierte Ijoma Mangold Allegro Pastell kurzerhand hymnenhaft das Potential, eine neue „Jugendbewegung“ begründen zu können. Der „Fetisch der Unmittelbarkeit“, so Mangold, könne jetzt „durch ein Konzept reflexiver Hipness ersetzt“ werden. Hiervon wiederum wenig überzeugt zeigte sich Jens-Christian Rabe in der „Süddeutschen Zeitung“. Viel zu sehr sei jene ‚Generation Y‘ in Randts Roman mit sich selbst beschäftigt, als dass sie wirklich aufbegehren könnte. Nicht zuletzt der Autor selbst äußerte sich in der Vergangenheit, gefragt nach dem ‚Politischen‘ seiner Texte, immer wieder äußerst ambivalent. „Mein Buch ist aus Versehen politisch“; las man etwa über den Roman Schimmernder Dunst über Coby County (2012) in der „Zeit“. Haltungen wie „‚links‘ – ‚rechts‘ – ‚kritisch‘ – ‚affirmativ‘ – ‚reaktionär‘ [und] ‚progressiv‘“ findet Randt erklärtermaßen überhaupt „nur teilweise hilfreich“ (Randt 2018: 138).
Eine alternative These zum ‚Politischen‘ in und von Allegro Pastell soll die folgende sein: Was in diesem Roman geschieht, hat mit Tagespolitik, Systemaffirmation, Rebellion oder gar Aktivismus tatsächlich wenig bis gar nichts zu tun. ‚Politisch‘ im progressivsten Sinne ist dagegen, wie dieser Text die sozialen Logiken, Narrative und Regeln unserer kreativ-kapitalistischen Gegenwart geradezu diskursanalytisch vermisst. Und wie es ihm dann gelingt, gänzlich ohne Kraftaufwand und äußerst subtil, die zuvor markierten Diskursgrenzen nach eigenen Regeln ästhetisch zu verschieben, sie zu erweitern oder gar neu zu setzen.
Was damit ganz praktisch gemeint ist, zeigt sich, wenn man Inhalt, Struktur und Verfahren von Allegro Pastell genauer betrachtet: Weniger ‚erzählt‘, sondern im popliterarisch-typischsten Sinne als Vermessungsschablone von Gegenwart funktionalisiert wird im Roman zunächst ein Beziehungs-modell zwischen den Figuren Jerome Daimler, seines Zeichens Webdesigner, und der Autorin Tanja Arnheim. Bereits der Beginn des Textes, eine Kussszene des Paares am Bahnhof, dient als Vermessung konsumierbarer, romantischer Topoi (Illouz 2007). Diese werden von den Figuren einerseits reproduziert, aber gleichzeitig, wie schon im CobyCounty-Roman, auch stetig in ihrer kulturellen Topoihaftigkeit mitreflektiert. „Für einen Moment“, heißt es im Text, überlegte Jerome „ob er ihr entgegenlaufen sollte, aber dann fand er es charmanter, einfach stehen zu bleiben“ (Randt 2020: 9). An anderer Stelle „kokettiert“ die Figur „mit der Rolle des überglücklichen heterosexuellen Partners“ (ebd.: 11). Nach „leicht pathetischem Sex“, der ebenso bewusst nach medialem Vorbild inszeniert ist, glaubt Jerome etwas für die „energetische Verbesserung des gesamten Planeten Erde“ getan zu haben. Dem „erste[n] Impuls, Tanja sofort von seiner Energiethese zu erzählen“, folgt wiederum die reflektierte Einsicht, „dass man ja nicht alles gleich zerreden“ (ebd.: 14) müsse.
Immer schon ‚gelernt‘ und mitgedacht bei Randts Figuren und Erzählern (darin sind sie denen von Rainald Goetz ähnlich) ist somit die ‚diskursive Gemachtheit‘ der Worte, Dinge und Mitmenschen. Vor allem ein kreativ-ökonomisches Dispositiv (Reckwitz 2012), das heißt, ein ganzes Netz aus urban-kreativen Lifestyle-Konventionen, Kreativinstitutionen und Selbstverwirklichungsidealen, produziert und reproduziert in Allegro Pastell diese Gemachtheit. Quasi ständig sind Randts Kreativsubjekte damit beschäftigt, über „Praktiken der Singularisierung“ (Reckwitz 2017: 64f.) Menschen und Dinge als potentiell ‚besonders‘, ‚interessant‘ oder ‚unaustauschbar‘ zu beobachten, zu bewerten bzw. sich anzueignen. Filme wie Call Me by Your Name, die Plattform Instagram oder ein Bekannter („angenehme Stimme, gerade Zähne“, Randt 2020: 30) werden so sozial-hierarchisch organisiert. Eine „Hyperkultur“ als Sphäre, „in der potentiell alles in höchst variabler Weise zum Gegenstand von Wert werden kann, aber natürlich nicht alles gleichermaßen von Wert ist“ (Reckwitz 2019: 36), steuert und reguliert Randts Figuren. Gleichzeitig sind diese dazu in der Lage, die Regulierungsprozesse des ‚Singulären‘ deutlich zu hinterfragen: „Das Lob eines Auftraggebers, eine zugewandte Kurznachricht, ein Wodka Red Bull – all das waren Auslöser von Hochgefühlen, aber brauchte es diese Auslöser überhaupt?“; fragt Jerome entsprechend an einer Stelle im Roman. Auch über Wege, einer diskursgesteuerten Erfahrung solcher Gefühle zu entkommen, scheint sich Randts Figur im Klaren. Er wolle, heißt es weiter, „Freude nunmehr als eine stetige Option begreifen“ (Randt 2020: 109).
Aus literarisch-politischer Hinsicht ist nun vor allem bemerkenswert, wie es Randt gelingt, die soziale Logik des kreativ-ökonomischen Dispositivs seiner fiktionalen Welt in eine strukturelle Textlogik des Romans (und umgekehrt) zu übersetzen. Die Überkapitel des Romans, „Phase Eins“, „Phase Zwei“ und „Phase Neu“, dienen dem Autor hierzu als Gerüst: Wie im Sozialen „das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard [und] das Andere gegenüber dem Gleichen“ (Reckwitz 2012: 10)[1] reproduziert wird, produzieren Randts Kapitel nach dieser effizienten Logik die Romanhandlung: Grundlage des „Love Commitments“ zwischen Jerome und Tanja ist so etwa die Tatsache, dass Jerome in „Phase Eins“ Tanjas ‚neue‘ Homepage programmiert und gestaltet (Randt 2020: 21). Eine Medienüberdrüssigkeit gegenüber dieser Homepage und Tanjas Erkenntnis, hierdurch von Jerome allzu genau reproduziert worden zu sein (ebd.: 87f.), führen spontan in „Phase Zwei“ zur Trennung des Paares. Marlene wiederum, Jeromes ‚neue‘ Partnerin in „Phase Neu“, heißt es im Roman, „war höchstwahrscheinlich die gesundeste Liebe seines Lebens“ (ebd.: 271). Ihr ökonomisches Vermögen („Sie würde immer Geld verdienen“), ihre ‚emotionale Stabilität‘ sowie ihre „gewisse Leichtigkeit“ (ebd.) werden durch Jerome quasi neu kreativ-ökonomisch diskursiviert. Eine Hierarchie des ‚Besonderen‘ erweist sich so als wiederhergestellt. Das Beobachten, bewerten und aneignen von Songs, Filmen, Sprechweisen oder Ausflugslokalen kann nun gemeinsam von vorne beginnen.
Nicht nur in Zusammenhängen der Liebe, sondern durchweg wird nach dieser Logik in Allegro Pastell eine keinesfalls subversiv-revolutionäre, sondern vielmehr genießerische ‚Politik des Besonderen‘ betrieben. Über die Archivierung bestehenden kulturellen Materials und damit einhergehender Präsenz- und Erfüllungsmomente hinaus (Baßler 2002, 2015; Schuhmacher 2003) sieht diese ‚Pop-Politik‘ vor, dass Randts Figuren an der ästhetischen Produktion des ‚Besonderen‘ direkt mitwirken. Auch der Handlungsraum ‚Maintal‘, den Jerome als „bedrückend und charmant“ (ebd.: 18) beschreibt, wird so zu einem ‚besonderen Ort‘, dessen kreativer Kultstatus sich überhaupt erst in der Erzählung ästhetisch-selbstreferentiell herstellt. Gleiches gilt für die Sportart ‚Badminton‘, die Tanja samt der damit verbundenen Mode der Decathlon-Eigenmarke Artengo „für sich wiederentdeckt“ (ebd.: 32) und sich also als ‚besonders‘ aneignet. Von der „puren Freude“ an einer „ungewohnten Tätigkeit“ wie dem „Landschaftsgärtnern“ ist später die Rede. Aufrichtig-philosophische Überlegungen zu staatlich ausgestellten „Jahresverträge für ungewohnte Tätigkeiten“ (ebd.: 56) schließen sich an.
In allen Fällen führen gerade diese Neudiskursivierungen des ‚Besonderen‘ durch Randts Figuren, wenn auch nicht zur Rettung monogamer Beziehung, so doch zumindest zum Erreichen einer höchst politischen Bewusstseinsform zweiter Ordnung. Was Ijoma Mangold in seiner Rezension als „reflexive Hipness“ einer potentiellen Randtschen Jugendbewegung beschrieben hat, erwächst in Allegro Pastell eben vor allem aus der Fähigkeit zu kognitiver Dissonanz. Gerade nicht als affirmative Systemopportunisten, sondern als ästhetische Mitgestalter von Gegenwart haben Jerome und Tanja im popliterarischen Sinne begriffen, dass nur über ein „gezielte[s] Nicht-mit-sich-eins-Sein“ noch Formen „nicht marktkonforme[r] Authentizität“ (Butler 2019: 280) zu erreichen sind. „Es war“, heißt es gen Ende des Romans, „schon wieder Sommer, schon wieder sehr heiß, und Fortschritt bestand vor allem darin, dass man sich selbst eventuell besser verstehen lernte“ (Randt 2020: 271). Nur ein Subjekt, das neben ständigem Konsumgenuss noch zu solch intellektuellen Reflektionen fähig ist, kann schließlich, so zeigt uns Randt, den Satz „Ich liebe dich“ (ebd.: 280) als letzten Satz des Romans sagen und ihn tatsächlich auch aufrichtig meinen.
Daran, dass Politik in der Popliteratur wie in der Pop-Realität durch ein Bewusstsein für diskursive Setzungen und die Fähigkeit zur Verschiebung dieser Setzungen funktioniert, hat uns Leif Randt mit Allegro Pastell also wieder erinnert. „Vielleicht“, so las man bereits in Randts Planet Magnon, „müssen wir uns gar nicht befreien, um glücklich zu werden. Vielleicht reicht es ja, wenn wir uns die Unfreiheit immer nur klar vor Augen führen.“ (Randt 2017: 15). Und der Autor selbst ergänzt manifestierend in einem Interview mit dem Schriftsteller Joshua Groß: „Schätze den Moment. Versuche, ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Betrachte dich von außen. Zerstöre dich nicht zu sehr durch Konsum, sondern nutze ihn bewusst, um zu genießen und deine Perspektive zu ändern. […]. Nur Fun kann die Lösung. Wenn der Fun darin besteht, in die Realpolitik zu gehen, ist das legitim.“ (Randt 2018: 136). Politisch-realer kann Literatur in Zeiten kapitalistischer Allmacht kaum sein.
Anmerkung
[1] Wahrscheinlich eine der erfolgreichsten Adaptionen dieser repetitiven, kreativwirtschaftlichen Logik stellt aktuell Cloud Rap dar, weshalb Randt passenderweise dem Kapitel „Phase Zwei“ folgendes Zitat des schwedischen Rappers Yung Lean voranstellt: „As long as you’re going up and down you’re all good.“ Auf die entsprechende Quelle, ein Interview mit Yung Lean, verweist Randt ebenso: Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Wbf-Q6d8uNI (zuletzt abgerufen am 05.03.2020).
Primärliteratur
Randt, Leif: Leuchtspielhaus. Roman. Berlin: Bloomsbury 2010.
Randt, Leif: Schimmernder Dunst über CobyCounty. Roman. Berlin: Piper 2011.
Randt, Leif: Planet Magnon. Roman. Köln: KiWi 2015.
Randt, Leif: Allegro Pastell. Roman. Köln: KiWi 2020.
Randt, Leif / Groß, Joshua: 10% Idealismus. In: Groß, Joshua/Hertwig, Johannes/Kassier, Andy (Hrsg.):
Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Fürth: starfruit publications 2018, S. 132-141.
Sekundärliteratur
Akrap, Doris: Gedanken im Wellnessbereich. In: taz, 09.03.2020. Verfügbar unter: https://taz.de/Leif-Randts-Roman-Allegro-Pastell/!5667929/ (zuletzt abgerufen am 14.03.2020).
Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C.H. Beck 2002.
Baßler, Moritz: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: Pop. Kultur und Kritik. Heft 6/2015, S. 104-127.
Biller, Maxim: Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit. In: Die Zeit, 13.04.2000.
Butler, Martin: Authentizität. In: Baßler, Moritz / Schumacher, Eckhardt (Hrsg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin: De Gruyter 2019, S. 267-282.
Conter, Claude D.: „Rebellion gegen die Rebellion.“ Gesellschaftsdiagnosen der Pop-Literatur der 1990er Jahre zwischen Selbstmord und Ehe. Ein Beitrag zur Debatte der Subversion und des Konservatismus der Popliteratur. In: Pankau, Johannes (Hrsg.): Pop – Pop – Populär. Populärliteratur und Jugendkultur. Oldenburg 2004, S. 49-68.
Ernst, Thomas: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2013.
Illouz, Eva: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
Mangold, Ijoma: Das absolute Jetzt. In: Die Zeit, 04.03.2020. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/2020/11/leif-randt-allegro-pastell-rezension-buch-literatur/komplettansicht (zuletzt abgerufen am 14.03.2020).
Rabe, Jens-Christian: Alles schon irgendwie okay. In: Süddeutsche Zeitung, 09.03.2020. Verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/leif-randt-allegro-pastell-roman-kritik-1.4834307 (zuletzt abgerufen am 14.03.2020)
Randt, Leif: „Mein Buch ist aus Versehen politisch“. Im Gespräch mit Frida Thurm. In: Die Zeit, 30.05.2011. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-05/interview-leif-randt-prosanova (zuletzt abgerufen am 14.03.2020).
Radisch, Iris: Mach den Kasten an und schau. Junge Männer unterwegs: Die neue deutsche Popliteratur reist auf der Oberfläche der Welt. In: Die Zeit, 14.10.1999.
Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 2012.
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017.
Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil 2001.
Winkels, Hubert: Zur deutschen Literatur 1998. Deutsche Literatur 1998. Jahresüberblick. Hrsg. von Volker Hage, Rainer Moritz und Hubert Winkels. Stuttgart: Reclam, 1999. 5-39.