Grenzüberschreitungen in den »Pirates of the Caribbean«. Rezension zu Heike Steinhoff: »Queer Buccaneers: (De)Constructing Boundaries in the ›Pirates of the Caribbean‹ Film Series«
von Alexandra Ganser
23.10.2012

Mainstream-Wissenschaft

Piraten haben die Populärkultur über die letzte Dekade hinweg großräumig zurückerobert. Spätestens seit dem frühesten 18. Jahrhundert, als auf Flugblätter gedruckte Piraten-Balladen bei Hinrichtungen massenhaft an die Schaulustigen verteilt wurden, wurden Piraten (und ein paar Piratinnen) als kriminelle (d.h. kriminalisierte) Figur zur symbolisch aufgeladenen Oberfläche: einerseits als Identifikationsfigur, als Outlaw und Held, dessen maritimer Gesetzesbruch zum selbstbestimmten, ja zuweilen revolutionären Abenteuer stilisiert wurde und der den Küstenbewohnern zudem ökonomische Vorteile brachte; andererseits auch in Alteritätskonstruktionen, die didaktisch veranschaulichen sollten, dass ein Leben außerhalb des Gesetzes nur am Galgen und danach in der Hölle enden konnte.

US-Amerika im Allgemeinen und Hollywood im Besonderen boten populäre PiratInnen eine willkommene Gelegenheit, sich als »outlaw culture« zu feiern, in der Freiheit und Mobilität als höchstes Gut verflacht und verklärt wird – man denke etwa an »Sea Hawk« (1940), »The Black Swan« (1942) und »The Crimson Pirate« (1952). Piratenfilme, ähnlich dem Western, sind ein zweischneidiges Genre. Sie bewegen sich zwischen der wiederholten Aktualisierung versteinerter Mythen und der spielerischen Grenzüberschreitung – auch, wie Heike Steinhoff in ihrer Monografie ausführt, in Bezug auf Nation und Geschlecht.

Soweit der Rezensentin bekannt, ist das vorliegende Buch die erste kulturwissenschaftlich orientierte Abhandlung, die sich ausschließlich mit der »Pirates of the Caribbean«-Filmserie beschäftigt, die seit 2003 in regelmäßigen Abständen die weltweiten Kinosäle füllt. Allein deswegen schon verdienen die neuesten PiratInnen eine solche Analyse; nicht zuletzt haben sie ihrerseits einen Boom im Piratengenre, v.a. in seiner Kinder- und Familienfilmvariante ausgelöst (zuletzt »Pirates! Band of Misfits«, 2012), der begleitet wird von erfolgreicher Piraten-Populärliteratur und dazu passenden Konsumgegenständen in der Kinderwarenabteilung, von Captain Sharky bis zum tetesept-Piratenbad für die Kleinsten.

Dass die Disneyfizierung des Piraten kein ganz neues Phänomen ist, durchaus nie gänzlich unterbrochen war und eigentlich bereits in der Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm, interessiert Steinhoff nur am Rande. Ihr geht es um die Untersuchung eines Phänomens des globalen Mainstreams, das transnational funktioniert, das »facilitates the construction and deconstruction of multiple discursive boundaries in terms of identity, gender, sexuality, ›race‹, ethnicity, class and nationality«, was die Trilogie für »myriad points of entry and engagement by diverse audiences across cultural and national borders« öffnet (S. 13), während es gleichzeitig dazu tendiert, westlich-hegemoniale Machtstrukturen zu verfestigen. Formal operieren die Filme über Dichotomien, so die Autorin, die sie mit »textual ambiguity« (ebd.) aufladen und so auch diskursiv in Frage stellen. Damit werden etwa spezifisch US-amerikanische Mythen reifiziert und gleichzeitig globale oder zumindest transnationale Themen und Dimensionen auf der Leinwand durchaus auch kritisch artikuliert.

Die Amerikanistin Steinhoff liest die Trilogie (die 2011 noch zu einer Tetralogie erweitert worden ist) im Kontext des »post-classical cinema« und neoliberaler Diskurse. Ihre Überlegungen führen den LeserInnen einmal mehr vor Augen, mit welchen filmischen Strategien Hollywood noch immer global reüssieren kann: indem es sich eine »economy of differences« (nach Anil Jain, S. 129) zu Nutze macht, die emblematisch für »a neoliberal western consumer culture that is governed by notions of flexibility, mobility, and contingency« steht, »a capitalist system in which cultural differences present a key aspect of revenue and identification« (S. 129). Anstatt daraus aber eine Viktimisierung oder kulturelle Kolonisierung des Publikums abzuleiten, die eine/n passiven ZuschauerIn implizieren würde, räumt die Autorin ein, dass das neoliberale Marketing von Ambiguität und Differenz nicht unbedingt zur Einebnung jedweder Widerständigkeiten führe, und zwar sowohl auf Text- wie auf politischer Ebene. In diesem Zusammenhang ist ja etwa, so würde ich hinzufügen, die Tatsache interessant, dass gegenwärtig die unterschiedlichsten umwelt- und netzpolitischen als auch antifaschistischen Gruppierungen auf Piratensemantik bzw. -symbolik zurückgreifen – was zeigt, dass die widerständische Energie der Figur vielleicht deswegen nicht getilgt werden kann, weil sie sich immer schon aus als Krisen diagnostizierten gesellschaftlichen Szenarien gespeist hat; dabei kann es um Wirtschaftskrisen, die globale Krise der Umwelt, die durch Netztechnologien katalysierte Krise intellektueller Eigentumsbegriffe oder auch um die (damit verbundene) Krise Hollywoods gehen.

Die Monografie beginnt mit einem Einleitungsteil, der sich zum einen mit Film als Diskurs, durch den Machtverhältnisse und Transgression gleichermaßen artikuliert werden können, zum anderen mit der poststrukturalistischen Methodik der folgenden Untersuchungen auseinander setzt. Hier kommt auch der kulturwissenschaftliche (und nicht primär filmästhetische) Ansatz zum Tragen, den die Autorin in ihren Ausführungen in Teil zwei und drei verfolgt. Der zweite Teil stellt fünf Themen heraus, die in ihrer jeweiligen Inszenierung in den »Pirates of the Caribbean«-Filmen untersucht werden: die Verwendung des »gothic elements« (Freud, Kristeva), queere Positionalitäten (David Halperin, Susan Sontags Theorie des Camp); die Konstruktion von Geschlecht(errollen) und Subjektivität (Butler, de Lauretis, Kosofsky Sedgwick, Halberstam) sowie von Raum (Foucaults Heterotop – leider vermisst man hier eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept, wie sie etwa David Harvey vorgenommen hat) und die Dimension des (Trans-)Nationalen (Peter Hitchcock, Ludger Pries). Obwohl ihre Beobachtungen an einigen wenigen Stellen hätten ausführlicher, dafür aber weniger repetitiv sein können (interessant wäre ja etwa nicht nur die Feststellung, dass die Filme mit Geschlechter- und ethnischen Stereotypen spielen, damit aber auch genau jene stereotypen Repräsentationen verfestigen, sondern auch und insbesondere, wie sie das machen und welche ästhetischen Mittel eingesetzt werden – vgl. S. 57), ist die Lektüre spannend, einsichtsreich, umfassend und ausgezeichnet recherchiert. Kapitel wie »Oceanic Frontiers, Piracy and the American Imagination« zeichnen sich durch ihre kulturspezifische und in die historische Tiefe gehende Analyse aus und bringen Dimensionen der »Pirates«-Filme ans Licht, die ansonsten im Verborgenen geblieben wären: etwa die Art und Weise, wie sie US-amerikanische Geschichte in undefinierte Räume projizieren und so geschickt für ein globales Publikum inszenieren. Am Beispiel der Zensur, die China vornahm, und karibischer Proteste zeigt Steinhoff aber auch, dass die Trilogie »haunted by its own narrativized critique« ist: »As a mainstream Hollywood film it is part of the very flow of global consumer culture that it seems to denounce« (S. 122).

Für einige ZuseherInnen, so schließt Steinhoff, steht der Unterhaltungsgigant Disney marktökonomisch in Analogie zur »East India Trading Company« – und die Vorstellung von einem »American Empire« in Analogie zum britischen Kolonialreich. Als Beispiel nennt die Autorin den Filmbeginn des dritten Teils (»At World’s End«) und Lord Becketts Aufhebung der Bürgerrechte, die sie mit dem »USA PATRIOT Act« und der kontroversen Debatten darüber in Verbindung setzt (ebd.). Mit Inderpal Grewal argumentiert sie, dass die Ambivalenz, die den Piraten in eine Hauptfigur der gegenwärtigen Konsumkultur verwandelt, auch die Zweischneidigkeit Amerikas als Symbol für Freiheit und Demokratie einerseits und als imperiale Supermacht andererseits widerspiegelt. Weil etwa der dritte Teil solche Widersprüchlichkeiten in Szene setzt, erkennt er diese auch an, was Steinhoff als »strikingly subversive for a Mainstream Walt Disney Hollywood production« (S. 123) einstuft. Natürlich ließe sich hier weiterfragen, inwiefern sich die »Pirates« damit tatsächlich von anderen Disney-Produktionen (oder dem Mainstream-Kino per se) unterscheiden?

In Teil drei bringt die Autorin ihre Erkenntnisse in Dialog mit Debatten um das »post-classical cinema« und neoliberalen Marktlogiken, bevor sie mit durchaus originellen Überlegungen zu den Ähnlichkeiten gegenwärtiger Inszenierungen der Vampir- und der Piratenfigur endet. Insgesamt gelingt der Monografie eine differenzierte, klar strukturierte und gut geschriebene Zusammenschau verschiedener Formen von Grenzüberschreitung, die die Filmserie inszeniert. Dass man danach die Filme nochmals mit von der Autorin geschärftem Blick ansehen möchte, lässt über die erwähnten kleineren Unstimmigkeiten wie auch den fehlenden Index hinwegsehen.

Prof. Dr. Alexandra Ganser
Professorin am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Wien.

Bibliografischer Hinweis:
Heike Steinhoff
Queer Buccaneers: (De)Constructing Boundaries in the »Pirates of the Caribbean« Film Series
Münster: LIT Verlag 2011
[= Transnational and Transatlantic American Studies; Bd. 10]
ISBN 978-3-643-11100-5
152 Seiten