Popcorn und Pop (Teil 2)
von Thomas Hecken
15.10.2012

Pop-Zeitschriften und wir

Im ersten Teil dieser kleinen Geschichte der Zeitschriften, die (wie unsere Printausgabe »Pop. Kultur und Kritik« heute) als Obertitel »Pop« stehen hatten, konnten wir im deutschsprachigen Raum den Weg von »Pop« über »PopRocky« nach »Popcorn« gehen. Tatsächlich war es ein deutscher Sonderweg. Im englischsprachigen Raum gab es keine bekannten Entsprechungen. »Melody Maker« (inzwischen eingestellt) und »New Musical Express« entspringen älteren Quellen und tragen im Titel deshalb keinen Pop-Verweis. Die bekannteren amerikanischen Zeitschriftenneugründungen in den Jahren und Jahrzehnten nach 1968 sind nicht dem Pop, sondern dem Rock verpflichtet und heißen deshalb »Rolling Stone«, »Creem«, »Punk« und (am Ende der zeitlichen Reihe fehlt schon der rechte Elan) »Spin«. Wahrscheinlich wird es einige Zeitschriften in den USA und Großbritannien unter der Pop-Losung gegeben haben, aber der Rockhegemon hat wohl in den 1970er Jahren ihre internationale Verbreitung verhindert.

Immerhin, heute gibt es eine Illustrierte, die umstandslos »Pop« heißt und aus England kommt. Doch halt, verlegt wird sie von der Bauer Media Group. Pop – eine deutsche Domäne? Wenn man sich die Toptitel des deutschen Bauer-Stammhauses anschaut (»Bravo«, »InTouch«, »Tina«, »Billigflieger.de«), muss man das wohl bejahen. Progressive Kreativdirektoren haben aber in England bei Bauer London Lifestyle Ltd. gemeint, nicht darauf verzichten zu können, ein weiteres avanciertes Modejournal zu veröffentlichen. Originell daran ist nur der Titel »Pop«. Im Heft das gewohnte Bild: die ersten zwanzig, dreißig Seiten dieselben Anzeigenstrecken von Louis Vuitton bis Dsquared2, die man in allen Magazinen dieser Art findet, dann einige Pseudowortbeiträge mit hohem Anspruch (gesungen wird das ewig moderne Lied des kreativen Schöpfers), danach redaktionelle Fotostrecken mit originellen Posen und Settings (originell natürlich nur gemessen an der Modefotografie vor WK II). Kurz und gut: Fantastische Farben, erstklassiges Layout, wagemutige Fotografen, hochklassige Mode, aber nur der Rede wert, wenn es nicht hunderte Blätter gleichen Inhalts gäbe.

Dennoch hatte die Zeitschrift ihren geschichtlichen Moment. Er liegt nicht lange zurück. Von 2008 bis Ende 2010 firmierte Daria Schukowa als »editor-in-chief« von »Pop«. Schukowa, Jahrgang 1981, Tochter eines russischen Ölmagnaten und (in Italien deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilten) Waffenhändlers, war zu der Zeit bereits die Freundin von Roman Abramowitsch, dem vielfachen Milliardär, der sich in den Wirren nach der Selbstauflösung der Sowjetunion beachtliche Teile der ehemals verstaatlichten Ressourcen aneignen konnte (irgendjemand muss in der freien Marktwirtschaft ja als Eigentümer bereitstehen).

Zu einer der Taten Schukowas für »Pop« aus dem Bauer Verlag zählte der Auftrag für Takashi Murakami, Fotos von Britney Spears für das Cover zu bearbeiten (außerdem im Heft: ein Ex-Präsidentengattinnen-Interview von Barbara Bush mit Hillary Clinton sowie eine Arbeit von Cindy Sherman). Bei der New York Fashion Week im Spätsommer 2010, auf der Marc Jacobs seine Seventies-inspirierte Show zeigte, veranstaltete sie eine Party, auf der u.a. Iggy Pop auftrat. Stargäste Chloë Sevigny und Gwen Stefani hörten dem Rockidol zu und schauten an der Bar auf »raunchy hard-core sex tapes scratched and reworked by the photographer Sante D’Orazio«, wie es im Partybericht auf der Internetseite der »New York Times« heißt.

Schukowa ist zudem die Gründerin des Moskauer Garage Center for Contemporary Culture, das Ausstellungen von Mark Rothko, zu »Hundred Years of Performance« und im Winter 2010/11 zu »Vinyl: Records and Covers by Artists« (etwa von Dieter Roth, Velvet Underground, Sonic Youth, Laurie Anderson) zeigt. Sie durfte natürlich auch nicht fehlen, als Francesco Vezzoli sein Spektakel »Ballet Russes Italian Style (The Shortest Musical You Will Never See Again)« mit Unterstützung von Frank Gehry, Lady Gaga, Prada aufführte. Zwar nicht anwesend, aber verantwortlich für das Design von Gagas Piano (»pink, with cobalt butterflies painted on it«), das sie während der Aufführung spielt, war Damien Hirst. Gagas Kleid hingegen ging auf einen Klassiker der Moderne zurück (»designed by Vezzoli and Miuccia Prada, after the costume that Giorgio de Chirico made for Diaghilev’s ›Le Bal‹« – nach Angabe des »New Yorker«). In der Aufführung gab es noch eine andere Reminiszenz an die Tage der modernen Avantgarde: Lady Gagas Kopf war auf Plakaten nach Art des sowjetischen Konstruktivismus zu sehen. Die wichtigsten Gäste der Veranstaltung kamen freilich aus dem aktuellen russischen Gegenentwurf zum Sowjetstaat, besagte Schukowa mit Anhang.

Mit Bauers »Pop«-Magazin unter der Leitung Schukowas ist das, was ich als »Avant-Pop« bezeichne, zur höchsten Form der Mode/Avantgarde/Reichen-Kunst verschmolzen. Mit Schukowa als Nukleus wird der Avant-Pop überall fündig: Marc Jacobs bei »Taxi Driver« und Takashi Murakami, Murakami bei Louis Vuitton und Britney Spears, die Bauer-Media-Group bei Iggy Pop, Damien Hirst bei Lady Gaga, Gaga bei Armani, Francesco Vezzoli und Frank Gehry, Francesco Vezzoli bei Prada, Gaga, Gehry, Diaghilev usf. (Sonic Youth und Laurie Anderson sind auch nicht weit)

Mit Schukowas Abgang hat sich am Avant-Pop-Zuschnitt von »Pop« aus dem Hause Bauer Media nichts geändert, das aktuelle Heft (Nr. 27, Autumn/Winter 2012) bietet die Bernadette Corporation, Yayoi Kusame, Armani in China, Venus X auf. Es fehlt aber natürlich der Glamour der resozialisierten sowjetischen Rohstoff-Milliarden.

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Dann gibt es noch eine mutige englische Zeitschriften-Neugründung »We Love Pop«, Zielgruppe 13- bis 15-jährige Mädchen, wie der Verlag, Egmont Publishing, mitteilt. Viel Glück, sonst muss am Ende die Deutsche Forschungsgemeinschaft allein Pop retten.