Michael Rutschkys „Ich“ und „R.“
Im Nachgang zur 1968er Protestbewegung kommt es unter den theorieinteressierten Protagonisten zu einer Wendung gegen abstrakte Gesellschaftstheorie und -kritik. Damit erfährt das ohnehin gegebene romantisch-surrealistische Erbe der Revolte mit einem seiner Motive eine selektive Zuspitzung – in einem Wort Louis Aragons zusammengezogen: „Das Alltägliche, niemals wird man dem Alltäglichen genügend nahe kommen“.[1] 1972 erscheint die Untersuchung zur Konstitution des Alltagsbewußtseins von Thomas Leithäuser, ab 1974 wird die Kritik des Alltagslebens von Henri Lefevbre in mehreren Bänden auf Deutsch vorgelegt, im selben Jahr publiziert Erving Goffman seine Frame analysis, die mit dem Untertitel Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen 1977 ins Deutsche übersetzt wird. 1975 hat sich das Kursbuch des Themas angenommen; Karl Markus Michel schreibt im einleitenden Essay: „Dennoch siegt letztlich der Alltag.“[2] Die Heftkomposition lässt darauf Alexander Kluges und Edgar Reitz’ „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ folgen, eine Mischung aus Kurzprosaerzählungen, Szenenbeschreibungen und Drehbuchpassagen des gleichnamigen Films, dessen eigensinnige Protagonistinnen semi-dokumentarisch durch den Karneval und die 1974er Auseinandersetzungen um besetzte Häuser in Frankfurt am Main irrend gezeigt werden. 1978 gründen der studierte Volkskundler Walter Keller und Nikolaus Wyss in Zürich die Zeitschrift Der Alltag: Sensationsblatt des Gewöhnlichen. Es ist dieser Diskussionszusammenhang, auf den bezogen und aus dem heraus 1980 mit Erfahrungshunger: Ein Essay über die siebziger Jahre Michael Rutschkys literarische Karriere beginnt.
Der Titel von Rutschkys Debüt nennt mit „Erfahrungshunger“ seine These zum Verständnis der die siebziger Jahre prägenden Tendenzen. Die akademische und besonders die studentische Linke sei 1968 und in den unmittelbaren Folgejahren einer Utopie der Allgemeinbegriffe gefolgt, nämlich den der Kritischen Theorie und dem Marxismus abgelesenen Versprechen, die Verhältnisse dem eigenen Blick transparent werden zu lassen: „(D)iese von allgemeinen Begriffen, von ausgearbeiteten Theorien her organisierten Interpretationen … vertrieben die Wolken des Diffusen, Unverständlichen“.[3] Der Preis hierfür sei jedoch hoch gewesen, insofern er in einer Art Anästhesie, Depression, psychoanalytisch: Melancholie bestanden habe. Erfahrungshunger beschreibt Subkulturen, individuelle Karrieren und literarische Versuche der siebziger Jahre als hierauf bezogene Auswege, auch Irrwege. Als einen gemeinsamen Nenner diagnostiziert er eine Suche nach forcierten, nicht zuletzt nach Gewalt-, Schreckens- und Schmerzerfahrungen.[4] Sie folgt einer dem theoretisch induzierten Transparenztraum reaktiv geradewegs entgegengesetzten „Utopie der Unbestimmbarkeit“; so sehr sich „ihre Anhänger untereinander unendlich differenzieren und jeden anderen als feindliche ‚Außenwelt‘ wahrnehmen“ mögen,[5] teilen sie doch diese Utopie.
Dieser Utopie der Siebziger entspricht das Projekt oder vielmehr eine Vielzahl von Projekten, „Kritik zu leben: sie soll nicht mehr ein Modus des Denkens, Redens, Schreibens jenseits vom Alltag sein, sie soll sich unmittelbar darin realisieren.“[6] Wenn Erfahrungshunger darauf ausgeht, Facetten dieses Alltags darzustellen und zu reflektieren, ist seinem Verfasser nur zu klar, dass sein eigenes Schreibprojekt dem nicht folgen kann. Denn „der Augenblick, der die Alltagsprosa unterbricht, ist … derjenige, in welchem die Erfahrung formuliert werden will; während die Alltagsprosa ja ungeschrieben und ungelesen bleiben kann.“[7] Dennoch stellt sich Rutschkys Essay der Alltagsprosa keineswegs entgegen, seine „Ethnographie der Erfahrung“[8] lässt sich vielmehr von ihr affizieren, macht sich durchlässig für ihre Formen, um auf diese Weise die eigene Erfahrung zu artikulieren. Er knüpft damit geradewegs an die in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft intensiv diskutierte Intertextualitätstheorie an:[9] „Das Thema vom sprechenden Menschen“, heißt es in Michail Bachtins Ästhetik des Wortes, „ist im Alltag von großem Gewicht. Auf Schritt und Tritt ist im Alltag von jemandem, der spricht und seinem Wort die Rede. Man kann geradezu sagen: Im Alltag wird am meisten über das gesprochen, was andere sagen, – man übermittelt, erinnert, erwägt, erörtert fremde Wörter, Meinungen, Behauptungen, Informationen, entrüstet sich über sie, erklärt sich mit ihnen einverstanden, bestreitet sie, beruft sich auf sie usw. … Überaus hoch ist das spezifische Gewicht von ‚alle sagen‘ und ‚sagte er‘. … Auf Schritt und Tritt findet sich … ein ‚Zitat‘ oder ein ‚Hinweis‘ auf das, was eine bestimmte Person gesagt hat, auf ‚man sagt‘ oder auf ‚alle sagen‘“.[10]
Dem entspricht die Komposition von Erfahrungshunger mit einer ungewöhnlichen Vielzahl von Personifikationen und Ethopöien. „Der Germanist L.“, „der Universitätsprofessor S.“, „der Literaturkritiker D.“, „der Student R.“, „der Schriftsteller W.“, „die Lehrerin F.“, „die Schriftstellerin S.“, „der Soziologe Raspe“, „Höge“, „Eugen“, „Gerhard“ und wie sie alle heißen. Gelegentlich glaubt man zu wissen, manchmal meint man aber auch nur ahnen zu können, wer gemeint ist. Der Text selbst erläutert den Kunstgriff: oft handle es sich um „Mischperson(en)“, die entstehen, indem Verschiedene „übereinanderkopiert“ werden und insofern bei aller gleichzeitigen Konkretion als Modelle fungieren.[11] Auf diese Weise beschreibt der Ethnograf das Personal seines Feldes und lässt es zu Wort kommen. Die zitierten Abbreviationen erinnern kaum zufällig an Verfahren in den Prosaerzählungen Alexander Kluges.[12] Damit allein allerdings unterscheidet sich Erfahrungshunger nur minimal von einer literaturkritischen, literaturwissenschaftlichen oder eben ethnografischen Darstellung, der es gelingt, ihren Gegenstand nicht nur zur Sprache, sondern auch zum Sprechen zu bringen.
Die eigentliche Erfindung aber, mit der Michael Rutschky ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschsprachigen Essays aufgeschlagen hat, ist eine andere. Sie liegt in einem weiteren Kunstgriff, nämlich in der Einführung von „R.“ in das von Rutschkys Essay geführte Personal. Theoretisch tut das einem wichtigen Vorzeichen genüge, das Rutschky einige Jahre später folgendermaßen formuliert hat: „Eine Gesellschaftskritik, die nicht immer auch mich selbst enthält, ist keine – oder eben nur diese einheimische, die gar nicht von der Gesellschaft, sondern von den anderen Leuten, zu denen der Kritiker keinesfalls gehören möchte, handelt“.[13] Wenn schon Kritik, dann auch Selbstkritik; Beschreibungen sind nur dann hinreichend informativ, wenn sie mit Selbstbeschreibungen verbunden sind. Diesem theoretischen Ethos entspricht die rhetorische Vorkehrung „R.“ In Erfahrungshunger kommt es in Ansätzen bereits vor, obwohl es hier durchaus noch „Ich“ heißt: „Jetzt, während ich das schreibe, 1978“; wenige Sätze später aber taucht es auf: „der Student R. (er hat sein Examen gemacht und ist inzwischen tot)“.[14] Auch wenn man an dieser Stelle noch im Zweifel sein mag, ob es sich möglicherweise um eine andere, eine weitere dritte Person, und sei es ein früheres Ich, handeln könnte – in der Folge wird das intermittierende „R.“ doch der Ausdruck, mit dem der Essayist Rutschky im eigenen Text seine Position und Stimme anführt.
Fast zeitgleich hat Roland Barthes in Barthes par Barthes (Über mich selbst) über seine autobiografische Schreibweise spekuliert: „Das Eindringen einer dritten Person in den Diskurs des Essays, die jedoch auf kein fiktives Geschöpf verweist, markiert die Notwendigkeit, die Gattungen neu zu formen: daß der Essay sich fast als ein Roman eingesteht: ein Roman ohne Eigennamen.“[15] Hiervon ist „R.“ allerdings sehr wohl zu unterscheiden. Ist doch allen dritten Personen in Rutschkys Texten der abkürzungsweise Bezug auf Eigennamen gerade wesentlich; und gilt dies umso mehr für „R.“ als Abbreviatur seines „Vatersnamen(s)“.[16] Wenn „R.“ in den Essay eindringt, ist dies zwar mit einem fiktionalisierenden Effekt verbunden, doch der Roman liegt weit genug entfernt. „Zwischen Erzählung und Essay“[17] angesiedelt, wird in diesen Texten doch stets „die Erzählung anschlußfähig gehalten … für Argumente“.[18] Rutschky legt Wert auf den deliberativen Charakter seiner Essays. Anders gesagt, bleibt abgesehen von wenigen – besonders in Texten über das Wetter zu beobachtenden – Ausnahmen der epideiktische Weg unbegangen, der seine Arbeiten ja auf das konventionellerweise als Literatur verstandene Gebiet hätte führen können.[19]
Mit der auf den ersten Blick geringfügigen Komplikation „R.“ befinden wir uns auf jenem vielgestaltigen Feld der rhetorischen Elocutio, das man mit einem treffenden Ausdruck „Figuren der Kommunikationspartner“ genannt hat. Die Instanzen der Kommunikation selbst werden mit solchen Figuren sprachlich „normbrechend“ artikuliert.[20] Der jeweilige Normbruch ist allerdings keineswegs schematisch zu identifizieren, weil nämlich der normale Sprachgebrauch je nach Genre bereits selbst in einer kommutativ erzeugten Figur bestehen kann. Insofern ist Vorsicht geboten; leicht hält man zum Beispiel ein „Man“ oder „Wir“ im Feuilleton einfach für ein tropisch verhohlenes „Ich“, während die Norm hier doch umgekehrt in der weitgehenden Vermeidung der ersten Person Singular besteht.[21] Hiervon unterscheidet sich „R.“ ebenso prägnant wie von jenen Varianten wissenschaftlicher Kommunikation, die Francis Bacons klassischer Formel „De nobis ipsis silemus“[22] folgend konventionell einen Plural der ersten Person in Anspruch nehmen, in dem Adressant und Adressaten prospektiv zur scientific community zusammengefasst werden. Soll umgekehrt „R.“ es dem Essayisten doch gerade ermöglichen, mitunter ausgesprochen offen von sich selbst zu handeln, nur eben in denkbar wenig wichtigtuerischer Weise als von einem unter anderen. „Oft schien es R. beim Lesen, als schriebe Adorno über ihn persönlich.“[23] Das artikellose „R.“ trägt zum schwebenden urbanen Ton bei, den Rutschky entwickelt hat; man lese nur das auf Erfahrungshunger folgende Wartezeit: Ein Sittenbild von 1983 oder Wie wir Amerikaner wurden: Eine deutsche Entwicklungsgeschichte von 2004. Die Aufzeichnungsbücher, die er zuletzt veröffentlicht hat, Mitgeschrieben von 2015 sowie In die neue Zeit von 2017, legen überdies nahe, dass bereits seine privat geführten Notizbücher fast durchgängig mit diesem Kürzel der dritten Person gearbeitet haben – vielleicht wurden sie aber auch nur ex post so stilisiert;[24] die nachgelassenen Tagebücher werden es erweisen. Wie auch immer, selten wurde wohl ein Ich sorgfältiger gerahmt als in dieser Form: „Auch hier wirkt sich eine R. wohlbekannte Phantasie aus: dass er sich im Zentrum gar nicht im Zentrum befinde, sondern dass es irgendwo anders liegt. ‚Wo ich bin, kann nicht das Zentrum sein.‘“[25]
Weil es aus dem Eigennamen des Autors gewonnen ist und auf ihn verweist, konstituiert „R.“ einen Individualstil im strikten Sinn, der weder verallgemeinerbar noch einfach nachahmbar ist. Ina Hartwig hat das en passant mit einem so aparten wie witzigen Text vorgeführt, in dem sie sich mit einem funktional äquivalent gebrauchten „Q.“ im Alphabet an ‚R.‘ gewissermaßen angenähert und ihm vorgemogelt hat.[26] Aber auch im Rahmen von Rutschkys Arbeiten selbst ist die Domäne von „R.“ eine ziemlich fest umrissene. Denn „R.“ ist nicht in jedem Genre zugänglich, sondern gehört definitiv zum Figurenregister des Essays. Leicht lässt sich die Probe aufs Exempel machen, wenn man vergleichsweise Rutschkys schriftstellerische Aktivität als Redakteur und als Herausgeber betrachtet. Die ist dem Profil seiner Autorschaft alles andere als äußerlich. 1979 arbeitet er als Redakteur des Merkur; in den ersten Jahren gehört er der Redaktion der von Hans Magnus Enzensberger und Gaston Salvatore 1980 gegründeten TransAtlantik an. Bei Suhrkamp gibt er 1982: Ein Jahresbericht sowie 1983 Tag für Tag: Der Jahresbericht heraus und in einer Art Fortsetzung dessen 1987 Die andere Chronik bei Kiepenheuer & Witsch. Mitte der 1980er Jahre kreuzen sich die Wege mit Walter Keller, dem Herausgeber von Der Alltag. Im Impressum der Zeitschrift heißt es ab Heft 2/3 des Jahrgangs 1985: „Redaktion Berlin: Michael Rutschky“, später „Büro Berlin …“, „Berliner Redakteur …“[27] – ab Heft 63 von 1994 fungiert Rutschky dann als Mitherausgeber und als „Chefredakteur“.[28]
Rutschkys Autor- und Herausgeberschaft formieren sich strukturell homolog, insofern es in beiden Fällen um die Einladung und Integration fremder Stimmen geht. Trotzdem sind Autor und Herausgeber funktional genau unterschieden; und „R.“ beziehungsweise sein Ausbleiben indizieren den Unterschied. Wie schon in den Jahresberichten eine Reihe jener Stimmen wiederbegegnete, die bereits im kotextuellen Rahmen von Erfahrungshunger das Wort erhalten hatten, so verhält es sich erst recht mit Rutschkys Hinzutritt zur Zeitschrift Der Alltag: Mehr und mehr bevölkert dieser sich mit Beiträgen aus dem stetig erweiterten Kreis seiner Freunde und Bekannten – Heinz Bude, Iris Hanika, Ina Hartwig, Thomas Hecken, Detlef Kuhlbrodt, Mariam Niroumand, Heidi Rühlmann, Kurt Scheel, Sabine Vogel, David Wagner, Dieter Wellershoff, Ulf Erdmann Ziegler …, um nur Wenige zu nennen, von denen wiederum Einige wenigstens zeitweise zu seinem Berliner ‚Lesekreis‘ gehören.[29] Soweit ich sehe, kommt aber „R.“ in keinem der von ihm verfassten Themenheft-Editorials vor. Als Herausgeber versieht er nämlich ein „Amt“,[30] das sich mit seiner Funktion und seinen Verantwortlichkeiten gegenüber dem mit „R.“ bewerkstelligten deliberativen Fiktionalisierungsspiel sperrt. Als Der Alltag 1993 mit einem Themenheft „Über Identitäten“ aufwartet, gibt schon der tautologische Untertitel „Ich ist Ich“ Unwillen und Aversion des Herausgebers zu verstehen, die er dann auch im Text denkbar selbstbezüglich ausführt: „Nie bin ich ganz Frau oder ganz Cockerspaniel oder ganz Redakteur dieser Zeitschrift.“ Wäre an dieser Stelle der Einsatz von „R.“ nur zu sachgemäß, muss er doch unterbleiben. Das Editorial ist kein Essay, der Herausgeber bleibt auf das in diesem Rahmen gebräuchliche „Ich“ und seine Figuren „Wir“ oder „Man“ angewiesen, ja verpflichtet: „(I)ch möchte … Ihnen aus diesem Heft besonders Helmut Höges Porträt von Egon empfehlen, Bürger der ehemaligen DDR, dessen Verwandlungskünste eine eigene moralische Disziplin, den Egonismus, zu begründen nahelegen.“[31]
Rainald Goetz – von Rutschky in Wartezeit als „G.“ mit einer eigens auf sein literarisches Debüt zugeschnittenen Literaturtheorie bedacht,[32] Teilnehmer noch an beiden Erfahrungsberichten – trägt 1986 folgende alphabetisch geordnete Liste vor, die es sich aufmerksam zu lesen lohnt:[33] „Andy. Becker. Celan. Descartes. Er. Foucault, Le souci de soi, Gallimard Paris 1984. Green, Jugend. Hegel. I. Johnson. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, 1783. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp Frankfurt 1984. Musil. Ivan Nagel, Autonomie und Gnade, Über Mozarts Opern, Hanser München Wien 1985. Ordnungswidrigkeitsgesetz. Piper, Innere Medizin, Basistext Medizin, Springer Berlin Heidelberg New York 1974. Quellen. Robespierre, Reden, Berlin 1984. Schleef, Unruhe. Trotzki. 2 U. Voltaire. Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman, rowohlt verlag reinbek bei hamburg 1969. Warhol.“[34] Der in dieser Weise weit aufgespreizte Eigenname Andy Warhol faltet sich zu einer wall of fame aus, die einen kleinen, dafür aber umso bedeutsamer wirkenden Katalog präsentiert, aktuelle greatest hits zuzüglich ausgewählte Klassiker. Jeder Buchstabe des mit Warhols Initialen abgesteckten Alphabets nimmt einen Posten auf, Ausnahmen sind „I.“ (für griechisch Iota und also für Buchstäblichkeit?), „2 U.“ („to you“, für euch oder für dich ganz persönlich?) und unter E schließlich „Er.“ Ob mit diesem Einfall Michael Rutschky der angemessen prekäre Platz im Kanon eines Augenblicks Mitte der achtziger Jahre eingeräumt sein soll?
Anmerkungen
[1] Louis Aragon, Der Pariser Bauer, übers. v. Lydia Babilas, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 174.
[2] Karl Markus Michel, „Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten“, in: Kursbuch 41: „Alltag“ (September 1975), S. 1-40, hier S. 25.
[3] Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1980, S. 23.
[4] Vgl. Reinhard Baumgart, „Authentisch schreiben. Deutsche Literatur der 70er Jahre“, in: Rolf Grimminger/Jurij Murasov/Jörn Stückrath (Hg.), Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1995, S. 608-636, hier S. 617f.
[5] Rutschky, Erfahrungshunger, S. 58 und S. 68.
[6] Rutschky, Erfahrungshunger, S. 92.
[7] Rutschky, Erfahrungshunger, S. 254.
[8] Wie ein Kapitel des Buchs überschrieben ist: Rutschky, Erfahrungshunger, S. 254; vgl. ders., „Ethnographie des Alltags. Eine literarische Tendenz der siebziger Jahre“, in: Literaturmagazin 11: „Schreiben oder Literatur“ (Oktober 1979), S. 28-51; ders., Zur Ethnographie des Inlands. Verschiedene Beiträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.
[9] Vgl. Georg Stanitzek, Essay – BRD, Berlin: Vorwerk 8, 2011, S. 143ff.
[10] Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 225f.
[11] Rutschky, Erfahrungshunger, S. 254; zum Terminus „Mischperson“ vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1972 (Studienausgabe, Bd. 2), S. 318ff. sowie S. 153ff., wo Freud berichtet, was er von seinem „Freund R.“ als Bestandteil einer solchen Mischperson geträumt hat (ebd., S. 154f.).
[12] „… das ist der Friedrich Schlegel der Neuen Linken.“ (Michael Rutschky, „Realität träumen. Zum aktuellen Stand der Kino-Erfahrung“, in: Merkur 31,8 (August 1977), S. 772-786, hier S. 786)
[13] Michael Rutschky, „Die Gesellschaft“, in: ders., Was man zum Leben wissen muß. Ein Vademecum, Zürich: Haffmans, 1987, S. 71-82, hier S. 79; vgl. Georg Stanitzek, „Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien“, in: ders./Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften, Köln: DuMont, 2001, S. 51-76, hier S. 58f.
[14] Rutschky, Erfahrungshunger, S. 31f.
[15] Roland Barthes, Über mich selbst, übers. v. Jürgen Hoch, Berlin: Matthes & Seitz, 2010, S. 141.
[16] Michael Rutschky, Auf Reisen. Ein Fotoalbum, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 47.
[17] Elsbeth Pulver, „Dasein im leeren Raum. Michael Rutschkys Buch ‚Wartezeit. Ein Sittenbild‘“, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 119, 25.05.1984, S. 37.
[18] Michael Rutschky, „Vorrede“, in: ders., Reise durch das Ungeschick und andere Meisterstücke, Zürich: Haffmans, 1990, S. 7-9, hier S. 8.
[19] Vgl. Heinrich F. Plett, Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen, München: Fink 2000, S. 41.
[20] Klaus Ostheeren, „Figuren der Kommunikationspartner in historischer und systematischer Sicht“, in: Claus Uhlig/Rüdiger Zimmermann (Hg.), Anglistentag 1990 Marburg. Proceedings, Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 71-95.
[21] Marc Reichwein, „I wie Ich“ („Sprechen Sie Feuilleton?“), in: Die Welt, 08.04.2011, S. 24.
[22] Vgl. Ladina Bezzola Lambert, „‚Von uns selber schweigen wir‘. Francis Bacon auf der Schwelle zum modernen Wissenschaftsverständnis“, in: Michel Mettler/Ladina Bezzola Lambert (Hg.), Ortlose Mitte. Das Ich als kulturelle Hervorbringung, Göttingen: Wallstein, 2013, S. 86-101. – Die Figuration besteht unter diesem Vorzeichen gerade in der Umkehrung: „Die erste Person Singular ist ein literarischer Kunstgriff.“ (Michael Rutschky, „Die Darstellung einer Deutschlehrerin. Bildungsforschung als Ethnographie von Erfahrung,“ in: Neue Sammlung 18 (1978), S. 380-395, hier S. 392)
[23] Rutschky, Erfahrungshunger, S. 82.
[24] Hierfür spricht, dass Michael Rutschky in Unterwegs im Beitrittsgebiet von 1994, das ebenfalls aufzeichnungsliteraturnah komponiert ist, auf die Figur „R.“ verzichtet, um stattdessen mit der Differenz von „Ich“ und „der Autor“ zu experimentieren; als alter ego hat „K.“, unschwer als Katharina Rutschky zu identifizieren, einen ihrer Auftritte.
[25] Michael Rutschky, Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen, Berlin: Berenberg, 2015, S. 306.
[26] Ina Hartwig, „Kreise, Literaturkreise“, in: Kursbuch 153: „Literatur. Betrieb und Passion“ (September 2003), S. 168-175 – unter dem Motto „Ich – wie plump“ (Hubert Fichte, Versuch über die Pubertät. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1974, S. 35).
[27] Unterdessen begradigt man den vorher etwas schrägen Untertitel: Aus Der Alltag: Sensationsblatt des Gewöhnlichen wird ab 1987 Der Alltag: Die Sensationen des Gewöhnlichen.
[28] Michael Rutschky/Maruta Schmidt/Walter Keller, „Liebe LeserIn. Editorial“, in: Der Alltag 63: „Das geheime Leben“ (Februar 1994), S. 1.
[29] Vgl. Harry Nutt, „Lob des Lesekreises. Das System Rutschky feiert Geburtstag. Eine Anleitung“, in: Frankfurter Rundschau, 24.05.2003, Nr. 120, S. 10.
[30] Michael Rutschky, „Der Übermut der Ämter. Editorial“, in: Der Alltag 68: „Der Übermut der Ämter“ (Juni 1995), S. 1.
[31] Michael Rutschky, „Haben oder Sein? Editorial“, in: Der Alltag 62: „Über Identitäten – Ich ist Ich“ (Februar 1993), S. 3-4 hier S. 4; vgl. Helmut Höge, „‚Wer nichts wird, wird Wirt.‘ Die allmähliche Verwandlung eines sozialistischen Tierpflegers zum Kleinunternehmer“, ebd., S. 173-195.
[32] Vgl. Michael Rutschky, Wartezeit. Ein Sittenbild, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1983, S. 61ff. und dazu Hubert Winkels, Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre, erweiterte u. bearbeitete Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 229ff.
[33] Vgl. Diedrich Diederichsen, „Liste und Intensität“, in: Dirck Linck/Gert Mattenklott (Hg.), Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre, Hannover-Laatzen: Wehrhahn, 2006, S. 107-123.
[34] Rainald Goetz, „Und Blut“, in: ders., Hirn, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 177-194, hier S. 194.
Der Aufsatz liegt mittlerweile auch gedruckt vor. Genauer Nachweis:
Georg Stanitzek: Er, in: Christopher Busch/Till Dembeck/Maren Jäger (Hg.): Ichtexte. Beiträge zur Philologie des Individuellen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, 107–113.
Georg Stanitzek ist Professor für Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft (mit dem Schwerpunkt Medien- und Literaturtheorie) an der Universität Siegen.