Aufstiegserzählungen
[Vorabdruck aus: Martin Seeliger/Marc Dietrich (Hg.): Deutscher Gangstarap II. Popkultur als Kampf um Integration und soziale Ungleichheit. Bielefeld, Transcript Verlag. (Das Buch erscheint voraussichtlich 2017.)]
- Einleitung
In seiner zeitdiagnostischen Arbeit zur Bedeutung von Resonanz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gelangt der Sozialtheoretiker Hartmut Rosa zu einer skeptischen Einschätzung der (emanzipatorisch-)politischen Potenziale der Populärkultur. Diese, so Rosa (2016: 374), sei „überwiegend unpolitisch geworden, sie versteht sich kaum mehr als Avantgarde, sondern versucht eher in variierenden Retrowellen den Geist vergangener Tage (des Punk, des Rockabilly, der Flowerpower etc.) wiederzubeleben.“
Wie die Analyse von vier Autobiografien deutscher Gangstarapper zeigen wird, lässt sich diese Einschätzung mit Blick auf das zurzeit erfolgreichste Genre der deutschen HipHop-Kultur nicht bestätigen. Vielmehr enthalten die Lebensgeschichten von Bushido, Fler, Massiv und Xatar mit der Selbstbehauptung der Sprecher gegenüber einer als exklusiv und feindlich empfundenen Mehrheitsgesellschaft ein genuin politisches Moment. Unter Bezug auf verschiedene Elemente der Kulturtheorie und einige meiner früheren Veröffentlichungen zum Thema werde ich die jeweiligen Erzählungen im Folgenden als Versuch einer Aktualisierung hegemonialer Männlichkeit interpretieren.[1]
- Gangstarap und das Genre Autobiografie
Als Subgenre von HipHop stellt Gangstarap im Jahr 2016 die wohl unter verkaufs- als auch aufmerksamkeitsökonomischen Aspekten erfolgreichste Spielart dieser Kultursparte dar. Die Sozialfigur des Gangstarappers entsteht hierbei im Schnittpunkt zweier Diskursstränge – einem krisenhaften, der junge Männer mit (zumeist arabischem) Migrations- und Bildungshintergrund, dafür allerdings mit Hang zu Homophobie, Misogynie und Gewalttätigkeit zur Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung stilisiert.
Mit Gayatri Spivak lässt (1995) sich die Verdichtung sinnstiftender Repräsentationen dieser Art als Form „epistemischer Gewalt“ verstehen. Hiermit bezeichnet die indisch-US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin „Diskurse über den Anderen – die imperialistischen, orientalistischen, exotischen, anthropologischen und folkloristischen Diskurse, und die über die Kolonisierten und die Primitiven“ (Hall 1994a: 20).
Wenn deutsche Medien wie der Spiegel mit seiner Titelstory (1/2008) eine „Migration der Gewalt“ oder in der Ausgabe (13/2007) eine „stille Islamisierung Deutschlands“ beschwören, transportieren sie gleichzeitig die symbolischen Rohmaterialien, die Rezipienten zur Konstruktion stereotyper Vorstellungen verwenden.[2]
Gleichzeitig, und so komplementiert die affirmativen Dimension dieses Krisendiskurses auch ein Moment des Empowerment, dient den Gangstarappern (und womöglich auch einer Reihe von Rezipienten) die Profilierung über Rap (oder die dort inszenierten Tätigkeiten) als Ausweg aus dem Defizit an materiellen Gütern und Anerkennung. Mit den analysierten Autobiografien rücken in diesem Text vier Bücher in den Fokus, die ihre Bedeutung – so ist zu argumentieren – innerhalb dieses Spannungsfeldes gewinnen.
Das Feld der Literatursoziologie fristet, so Baasner (1996: 201) ein „Schattendasein“ zwischen den Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaft und fokussiert dabei „die Interaktion der an der Literatur beteiligten Personen“ (Fügen 1974: 14) sowie die „Rahmenbedingungen, Strukturen und Konsequenzen literarischer Kommunikation“ (Dörner/Vogt 2013: 2f). Den umkämpften Charakter solcher Repräsentationen betonen unter anderem Pierre Bourdieu und Loic Wacquant (2006: 101), wenn sie die soziale Welt einen „Ort ständiger Kämpfe um den Sinn dieser Welt“ charakterisieren.[3]
Der Inhalt einer Autobiografie stellt hierbei keineswegs objektiv dar, wie ein Mensch wirklich ist, oder wie eine Lebensgeschichte sich tatsächlich vollzogen hat. Hierauf sind allenfalls Rückschlüsse möglich. Was uns eine Autobiografie in erster Linie zeigt, ist die Art, auf die der Autor oder die Autorin sich selbst in Szene zu setzen versucht. Zu einer interessanten Beobachtung gelangt hier Renate Liebold (2010: 280) in ihrer Auswertung einer Reihe aktueller Autobiografien sogenannter Spitzenmanager, die in ihren Darstellungen versuchen, sich als „Elite in einem substanziellen Sinn zu entwerfen.“ Verstehen wir dieses literarische „Bemühen um Distinktion und Zugehörigkeit“ mit Liebold (ebd.: 280) als „Charismatisierung ihres Erfolgs“, lässt sich dies mit Max Weber als (symbolische) soziale Schließung, oder mit Karl Marx (und damit auch Seeliger und Knüttel 2010) als „Klassenkampf von oben“ begreifen. Aber bedeutet dies, dass sich die Äußerungen der Gangstarapper demgegenüber als Gegenbewegung interpretieren lassen?
Die Auseinandersetzung mit literarischen Äußerungen von Akteuren aus dem Feld des Gangstarap bewegt sich damit innerhalb eines krisenhaften Diskurses um Einwanderung und Integration. Der stereotype Gangstarapper tritt hierbei insofern als „Figur des Fremden“ (Siebel 2015: 35) in Erscheinung, als „normale Entwicklungsverläufe und langweiliger Alltag weniger berichtenswert sind als vielmehr exotische Besonderheiten und emotional aufwühlende Konstellationen“ (Leenen/Grosch 2009: 216).
2.1 Theoretischer Rahmen
Ein theoretischer Rahmen gibt die Aspekte vor, unter denen man das zu untersuchende Material analysiert. Im Folgenden setzt sich dieser Rahmen aus Elementen der Auseinandersetzung mit Intersektionalität (und insbesondere hegemonialer Männlichkeit) sowie verschiedenen Konzepten der Kritischen Theorie sowie der Cultural Studies zusammen. Diese werden im Folgenden genauer vorzustellen sein.
2.1.1 Gangstarap-Images aus intesektionaler Perspektive
Wenn, wie Stuart Hall (1994: 74) betont, Identität „immer auch eine Erzählung, eine Art der Repräsentation“ darstellt, lassen sich bei der Selbstinszenierung von Gangstarappern eine Reihe von Bezügen auf unterschiedliche soziale Zugehörigkeiten als zentrale Referenzpunkte erkennen. Diese werden sozialtheoretisch mit Hilfe eines Ansatzes erfassbar, welcher seit den 1990er Jahren erst im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung (Crenshaw 1991) und seit einiger Zeit auch im Bereich der Soziologie sozialer Ungleichheiten Anwendung findet. Die Rede ist vom Konzept der Intersektionalität.
Die Grundidee des Ansatzes liegt darin, dass sich soziale Disparitäten in aller Regel nicht unter Bezug auf eine einzelne Kategorie sozialer Zugehörigkeit erklären lassen. Während besonders die ersten Ansätze zur Analyse solcher Disparitäten traditionell vor allem die Kategorien Ethnizität, Klasse und Geschlecht in Betracht gezogen haben (vgl. etwa die Beiträge in Klinger et al. 2007), eignet sich zum Verständnis der kulturellen Konstruktion von Gangstarapimages ein erweitertes Konzept, wie es Degele und Winker (2009) vorschlagen.[4]
Die besondere Bedeutung von Klasse für die subjektive Identitätsentwicklung ergibt sich einerseits durch ihre Verbindung „mit dem materiellen Leben und durch die Ökonomie selbst“ (Hall 1994: 69f). Doch hat die Position innerhalb eines Systems der Leistungserstellung und Güterverteilung nicht nur unmittelbaren Einfluss auf den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen. Zusätzlich prägt sie auch das Selbstverständnis von Personen. Ob jemand arm oder reich ist, bezeichnet in der Regel nicht nur, ob er bestimmte Dinge besitzt, sondern auch, ob er bedient oder in Anspruch nimmt, Ansehen genießt oder sich unterordnen muss. In einem früheren Text (Seeliger 2012) habe ich gezeigt, weshalb sich Gangstarapimages aus Sicht einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit auch als Images klassenpolitischer Auseinandersetzung ansehen lassen: Es geht hier um Arme, die sich mit der (aus ihrer Sicht ungerechten) materiellen Privilegierung einiger Reicher nicht abfinden möchten.[5]
Zentrales Thema im Gangstarap ist neben der Armut auch die Verwehrung kultureller Teilhabechancen auf Grund rassistischer Ausschlüsse. Ein Migrationshintergrund im arabisch-islamischen Kulturkreis bringt die Protagonisten hier häufig in die Situation, sich mit Stereotypen auseinandersetzen zu müssen. Neben den Ausschlusserfahrungen ermöglichen diese jedoch gleichzeitig ein ‚Aufbauen‘ auf denjenigen Krisendiskursen, die junge Männer mit Migrationshintergrund häufig als Gewalttäter und Kriminelle stigmatisieren.
Die Beibehaltung der Kultur des Herkunftslandes unter Migranten und deren Nachkommen ist in der deutschen Gesellschaft also mit einer häufig anhaltenden Fremdheitserfahrung unter den Eingewanderten verbunden. Die hieraus resultierende „Frage der Zugehörigkeit“ erkennt Foroutan (2013: 92) als Resultat „einer Gleichzeitigkeit von (identitären) Referenzsystemen, die dann problematisch sein kann, wenn diese vom Geltungsanspruch der Mehrheitsgesellschaft als antagonistisch, als dem Eigenen widersprechend betrachtet“ wird (ebd. 91).
Wie Mannitz (2006) in ihrer äußerst instruktiven Studie zur Selbstverortung Jugendlicher (Post-)MigrantInnen in der Bundesrepublik zeigt, wirkt sich die multiple Identifikation häufig in Form eines „Bekenntniszwangs“. Während Kulturelemente der Aufnahmegesellschaft (schminken, Ausgang bis spät in die Nacht) von Seiten der Familien kritisiert wird – Mannitz (2006: 172) bezeichnet dies als „Verdeutschung“ –, zeigen die Institutionen der Aufnahmegesellschaft (und hier vor allem die Schule) eine Tendenz, den Betroffenen eben diese Verdeutschung abzuverlangen. Mit einem verstehenden Zugang zur Lebenswelt der befragten Jugendlichen gelangt die Autorin zur Rekonstruktion ihres Verständnisses von „Deutsch-Sein“ als
„ein dichtes Knäuel an Vergemeinschaftungsmomenten und Eigenschaften […], von denen nur manche teilbar waren: Abstammung, die nationale Geschichte, eine Mentalität, die für kühle Rationalität und ökonomischen Erfolg stand, aber auch für irrationalen Fremdenhass und systematischen Völkermord, modernes gesellschaftliches Leben, Gleichberechtigungsideale, Diskussionskompetenz und Kompromissbereitschaft – eine so komplexe wie ambivalente Melange. Werden könne man es höchstens bis zu einem Grad von ‚deutsch halb-halb‘.“
Ethnizität als soziale Zugehörigkeit geht also nicht nur einher mit Fremdzuschreibungen, sondern – besonders in Verbindung mit Klassenzugehörigkeit – auch mit einer Prägung der eigenen Sicht auf die Welt.
Da es sich bei den Protagonisten im Gangstarap fast ausschließlich um Männer handelt[6] und sich diese vorwiegend über maskulin konnotierte Verhaltensweisen profilieren, ist die Geschlechterdimension des Themas unter Aspekten von hegemonialer Männlichkeit zu beleuchten. Das von Raewynn Connell (2006) eingeführte Konzept dient dem Verständnis der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Formen von Männlichkeit. Indem Männer mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen um die legitime Vertreterschaft der hegemonialen Männlichkeit konkurrieren, wird Männlichkeit zum Statuswettbewerb verschiedener Gruppen. Als aktuell erfolgreichstes Projekt zur Vertreterschaft erkennen Connell und Messerschmidt (2005) die ‚global business masculinity‘, wie sie z.B. ein Josef Ackermann vertreten hat.[7] Komplementär bilden sich so auch subordinierte Männlichkeiten heraus. Dass sich deren Auftreten mitunter als offenes Konkurrenzverhalten im Wettbewerb um die Vertreterschaft hegemonialer Männlichkeit verstehen lässt, habe ich in anderem Rahmen gezeigt (Seeliger 2013).
2.1.2 Zum Verständnis von Populärkultur: Nicht Kritische Theorie, sondern Cultural Studies!
Nun erscheint Gangstarap als Reproduktion patriarchaler Muster im homosozialen Wettstreit um die legitime Form der Männerdominanz im Rahmen kulturindustrieller Inszenierungen nicht unbedingt als progressive Kulturform im emanzipatorischen Sinne. Diese nicht nur potenziell, sondern höchstwahrscheinlich konservative (wenn nicht: regressive) Repräsentation von Kultur ist in der Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften wohl am schärfsten (und pessimistischsten) durch die erste Generation der Frankfurter Schule kritisiert worden.[8] Für Horkheimer und Adorno (1988) gleicht die Produktion von „Massenkultur“ der Fertigung anderer Güter insofern, als dass unter Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft beide der Wertform unterworfen sind. Da die Rezipienten dieser Kultur unter Bedingungen eines gesamtgesellschaftlich wirksamen Verblendungszusammenhangs lediglich über ein „verdinglichtes Bewusstsein“ (Adorno 1973: 292) angeleitet würden, ist die Produktion von Kultur bereits auf der Angebotsseite abgeschlossen.
Von dieser Sichtweise, möchte ich mich im Folgenden (zumindest teilweise) abgrenzen. Denn zwar scheint mir die Kritik an den Institutionen einer – wie auch immer genau – ‚verwalteten Welt‘ (Adorno 2003) zwar als interessant und nötig, methodologisch aber in einer Weise zu kurz greifend, die ein Verständnis der sozialen Welt nicht nur erschwert, sondern wenigstens zum Teil verunmöglicht. Gegenüber dem makrosoziologischen Zugang der Kritischen Theorie, fokussiert die Perspektive der Cultural Studies die alltagsweltliche Produktion, Adaption und Transformation makrosozial zirkulierender Kulturmuster. Den Begriff der Kultur konzipieren Vertreter der Cultural Studies hierbei konsequent unter politischen Aspekten. Ähnlich wie Bourdieu und Wacquant (2006) steht hierbei die Konstruktion sozialer Wirklichkeit im Widerstreit unterschiedlicher Akteure im Mittelpunkt des Interesses:
„Popular Culture is always a culture of conflict, it always involves the struggle to make social meanings that are in the interest of the subordinate and that are not those preferred by the dominant ideology. The victories, however fleeting or limited, in this struggle produce popular pleasure, for popular is always social and political” (Fiske 1989: 3).[9]
Ganz in diesem Sinne erkennt Scharenberg (2001: 247) in den Repräsentationen der HipHop-Kultur einen „symbolische[n] Angriff auf die dominanzkulturelle Hegemonie.“ Den Symbolen der Dominanzkultur würden hierbei „eigene Zeichen und Symbole, auch eine eigene Sprache, also: das eigene kulturelle Kapital, entgegengesetzt“ (ebd. 248).
Keineswegs als voluntaristische Theorie gedacht, zieht die Perspektive der Cultural Studies herrschende Ideologien als wirkmächtige Faktoren in Betracht. Für das Feld des Gangstarap hieße dies zuerst den eingangs vorgestellten Krisendiskurs um migrantische Männer in als Teil des semantischen Bezugsrahmens in Betracht zu ziehen, innerhalb dessen Äußerungen von Gangstarappern ihre spezifische Bedeutung gewinnen. Eine „strategische Diskurspolitik“, so Ha (2005: 115) geht hierbei „von der zentralen Einsicht aus, dass rassistisch Marginalisierte von der Dominanzkultur als ‚Kanaken‘ mit all ihren negativen Abwertungen konstruiert werden.“ Gleichzeitig, und dies ist nicht nur den Gangstarappern klar, sondern auch vielen Rezipienten bewusst, geht es bei der Aneignung solcher Images „gerade nicht um eine freie Identitätswahl, sondern darum, ein aufgezwungenes Selbstbild zu unterlaufen“ (ebd.).
- Untersuchung der vier Autobiografien
Dieser Abschnitt stellt die untersuchten Autobiografien dar. Einer allgemeinen Darstellung des Inhalts folgt eine kurze Beurteilung im Lichte der theoretischen Rahmung. Der Abschnitt schließt mit einem Vergleich. Dass mit den vier Titeln nicht alle Buchveröffentlichungen deutscher Gangstarapper berücksichtigt werden, liegt daran, dass das zweite Buch von Bushido (2013) nicht schwerpunktmäßig biografisch orientiert und die angekündigte Lebensgeschichte von Haftbefehl (2016) gegenwärtig noch nicht erschienen ist. Die Reihenfolge der Darstellung orientiert sich an den Zeitpunkten ihrer Veröffentlichung.
Bushido – Bushido
Als erste Publikation aus dem Genre ‚Biografien von Gangstarappern’ erfüllt Bushido als Buchautor die gleiche Pionierrolle, die er auch im deutschen Gangstarap insgesamt einnimmt. Schon als Kind ist der stark auf seine Mutter fixierte Bushido Zeuge häuslicher Gewalt, die sein Vater und später sein Stiefvater gegen diese ausüben. An Stelle der vollzeiterwerbstätigen Mutter muss der Junge schon früh Verantwortung übernehmen. Ein biographischer Aspekt, der sich im Selbstverständnis Bushidos abzeichnet, wenn er im Buch bemerkt „Für meinen Bruder war ich schon immer mehr als nur der große Bruder“ (2008: 78).
Gleichzeitig betont er von Anfang an, wie die materiell ungünstigen Ausgangsverhältnisse für ihn die Kultivierung starker Durchsetzungsfähigkeit bedingten. So lässt er sich etwa spontan zum Schulsprecher wählen oder entschließt sich kurzerhand zu einer Laufbahn als Drogendealer.
Bei diesem Einstieg in die kriminelle Laufbahn kommt seiner Mutter, die ihn (wie auch im Fall seiner Rap-Karriere, für die sie ihm mit geborgtem Geld einen Sampler kauft) mit dem nötigen Startkapital ausstattet, eine Schlüsselrolle zu. Mit ihrem Einverständnis handelt er erst mit Marihuana, später mit Ecstasy und schließlich mit Kokain. Dass ihm diese Tätigkeit zwar Geld, nicht aber Anerkennung durch die oberen Schichten bringt, tritt besonders deutlich hervor, als eine romantische Beziehung zu Selina, der Tochter eines reichen Haushaltes, beginnt. Gespräche, die er am Mittagstisch mit ihren Eltern über seine berufliche Perspektive führt, erlebt der Junge als besonders unangenehm. Dass er beim Sex mit Selina von deren Mutter im Wohnzimmer des elterlichen Hauses erwischt wird, erscheint vor diesem Hintergrund als symbolische Konfrontation bourgeoisen Wohlstands mit seiner überlegenen Potenz. Ein ähnliches Motiv wiederholt sich, als Bushido nach der Trennung ihren neuen Freund verprügelt.
Nachdem er beim Dealen erwischt wird, landet er auf Umwegen in einer „Ausbildungsstätte für Benachteiligte Jugendliche“, wo er eine Lehre als Maler und Lackierer beginnt und auf Fler trifft. Nach Abschluss der Lehre beschließt Bushido, sich von nun an vollständig auf das Rappen zu konzentrieren. Sein erster Vertrag mit dem Label Aggro Berlin verhilft Bushido zu deutschlandweiter Popularität. Doch als die Vereinbarung sich für ihn als unwirtschaftlich darstellt, mobilisiert Bushido Hilfe aus dem kriminellen Milieu Berlins: Mit Hilfe der Abou Chaker-Familie gelingt es ihm, den Vertrag zu lösen.
Diese Trennung von Aggro Berlin und der Wechsel zu Universal beschreibt das Buch sehr detailgetreu. Deutlich wird hier auch seine enge Verbindung zur Unterwelt: „Die Polizei zählt das Café Al Bustan [Treffpunkt der Abou Chaker-Familie, M.S.] zu den gefährlichsten Plätzen Berlins. Für mich ist es der einzige Zufluchtsort, an dem ich mich wirklich wohl fühle“ (Bushido 2008: 205). Gleichzeitig nutzt Bushido auch Metaphern aus dem Spitzensport, um seinen Marktwert innerhalb der Musikindustrie zu verdeutlichen: „Ich war 28 Jahre alt, am Höhepunkt meiner Karriere, ablösefrei und bereit für den letzten großen Vertrag meines Lebens“ (ebd. 237). Die Fußballmetapher versinnbildlicht einmal mehr die Verquickung physischer Durchsetzungsfähigkeit und wirtschaftlichen Erfolges zu einem spezifischen Ideal von Männlichkeit.
Als biografische Grundbestandteile bilden das Fundament dieser Persönlichkeitsentwicklung die frühe Übernahme von Verantwortung in der Familie sowie das disziplinierende Moment der Berufsausbildung. Gleichzeitig erscheinen aber auch die Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft als wesentliche Motivation, deren Vertreter unter Bezug auf ihre eigenen Maßstäbe zu übertreffen.[10]
Eine weitere Facette des von Bushido kultivierten Männlichkeitsbildes ist in seiner ambivalenten Haltung gegenüber Frauen zu erkennen. Die bedingungslose Liebe und Verehrung der Mutter findet ihr Gegenteil in der krassen Gefühllosigkeit, die Bushido gegenüber anderen Frauen an den Tag legt, sobald er mit ihnen romantische und/oder sexuelle Beziehungen eingeht. Ursächlich führt er dies auf seine Erfahrungen mit Selina zurück. Diese habe aus ihm einen „skrupellosen Sex-Gangster“ gemacht, schreibt er, und auf diese Weise „ein Monster erschaffen“. Aus diesem Grund demütigt er daher auf Tour seine Groupies, z.B. indem er sie vor seinen Freunden beschimpft, oder beschreibt auf reißerische Weise Szenen sexueller Gewalt, um so die Ehrlosigkeit der betroffenen Frauen zu begründen (2008: 289). Unter der Überschrift „Schwuchtel oder Mann?“ finden sich im Buch einige Ratschläge zur Gestaltung eines gelungenen männlichen Lebensentwurfes: „Die perfekte Beziehung gibt es sowieso nicht. Ganz ehrlich: Würde die Fickerei nicht so viel Laune machen, gäbe es keinen Grund, überhaupt mit einem Mädchen zusammen zu sein“ (2008: 126).[11]
Die Geschichte Bushidos bewegt sich im Einklang mit einer neoliberalen Leistungsfähigkeitserzählung (Neckel 2006; 2008), die eine Entwicklung individueller Protagonisten von einer schlechten in eine bessere (nein: die beste!) Situation beschreibt.[12] Dieses Credo formuliert auch Bushido (2008: 11) gleich zu Anfang seines Textes recht explizit: „Ich wollte immer nur das Beste aus meinem Leben machen, deshalb bereue ich auch im Nachhinein keinen einzigen Tag und keine einzige Tat.“ Und weiter: „Glaube an dich und du kannst alles erreichen, was du willst“ (ebd. 14). Im Kontext seines Gesamtwerks betrachtet stellt der hier transportierte Überlegenheitsgestus den Kern der Marke ‚Bushido‘ dar. Und so überrascht auch nicht der personelle Referenzrahmen, den er aufspannt, wenn er ankündigt, der Nachwelt etwas hinterlassen zu wollen: „Meine Vorbilder in dieser Hinsicht sind Menschen wie Galileo, Platon, Einstein, Mandela, Achilles oder Columbus“ (ebd. 368).
Fler – Im Bus ganz Hinten
Der Rapper Fler (bürgerlich Patrick Decker) bezieht sich als einziger der vier Rapper auf seine deutsche Abstammung. Seinen leiblichen Vater beschreibt er als Alkoholiker, der im Zorn gegen Flers Mutter dessen erste Gewalterfahrung auslöste. Die eigenen psychischen Leiden thematisiert Fler im Buch sehr explizit (tatsächlich werden dem Kontakt mit den Institutionen des Gesundheitssystems – Psychiatrie, Psychologin – eigene Kapitel eingeräumt). Er pflegt weiterhin einen offenen Umgang mit einer ADHS-Erkrankung und dem regelmäßigen Gebrauch von Ritalin und anderen Medikamenten. Seine Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst und anderen thematisiert er im Verlauf des Buches sehr offen.[13]
Eine zentrale Bedeutung kommt im Buch dem Verhältnis zwischen Fler und seiner Mutter zu, das durch eine ständige Wiederholung von Enttäuschungs- und Missachtungserfahrungen geprägt ist. Dies schildert das Buch anhand einer Reihe kleinerer Beispiele: So verspricht die Mutter dem Jungen, ihn und einen Freund bei der Mini Playback-Show anzumelden, setzt dies aber nie in die Tat um. Gleichzeitig begegnet sie ihm häufig vorwurfsvoll: „‚Du bist echt zu nichts zu gebrauchen‘, war einer ihrer Lieblingssätze“ (Fler 2011: 20). Dass Fler sie beim Sex mit ihrem neuen Partner überrascht, versinnbildlicht dem Jungen seinen Ausschluss aus der elterlichen Beziehung.
Ansonsten ist Flers Kindheit zwar nicht von existenziellem Mangel, verglichen mit dem Rest der Gesellschaft jedoch durchaus von materieller Armut geprägt. Mit der deutschen „Minderheit“ (ebd. 36) in seinem Viertel kann er sich schon in frühen Jugendjahren nicht identifizieren: „Die Deutschen waren mir einfach zu langweilig – die meisten hatten einen Stock im Arsch und waren komplett uncool.“ Bei den Ausländern hingegen bewundert er das „Zusammengehörigkeitsgefühl“ (Fler 2011: 38): „Sie waren alle wie Brüder. Und: Sie waren stolz auf ihre Herkunft. Die Ausländer waren die Kings der Hood“ (ebd.).
Eine Verquickung von ethnischer und Klassenidentität zeigt sich, als Fler in der vierten Klasse auf eine Schule in Zehlendorf wechselt:
„Das bedeutete: Raus aus dem Getto, hin zu den reichen Kids! Schon im Bus dahin merkte ich, dass ich komplett anders war als der Rest. Die Kinder, die auf diese Schule gingen, waren arrogant und kamen sich supergeil vor“ (2011: 49).
Als „einzige[n] Lichtblick“ bezeichnet Fler (ebd.: 50) seinen Klassenkameraden Yazid. Beide Jungen legen ähnlich rüpelhafte Eigenschaften an den Tag, verhalten sich aber gleichzeitig aufrichtig zueinander und halten zusammen. Die anderen Jungen (Mädchen kommen als aktiv Handelnde in der Erzählung kaum vor) stellt Fler als verweichlicht und hinterhältig dar („In den Gemeinschaftsduschen verarschten wir die anderen Jungs wegen ihrer lächerlichen Miniaturschwänze“; ebd.). Auch darüber hinaus beschreibt Fler seine verwahrloste Jugend, die geprägt ist durch Gewalt- und Delinquenzerfahrungen (so wohnt er etwa auch einer Vergewaltigung bei, die damalige Freunde begehen; Fler 2011: 80).
Als Kind und Jugendlicher ist Fler hyperaktiv und als seine Mutter, um Geld zu sparen (Fler 2011: 59f), das Ritalin absetzt, erleidet der Junge einen Zusammenbruch und wird von seiner Kinderpsychologin ins Heim eingewiesen. In diesem Abschnitt, so Fler, erlebt er einen Tiefpunkt in seinem Leben: „Ich stand auf der Straße im Regen und stand kurz davor, mich aufzugeben“ (ebd.: 87).
In der Ausbildung, die er im Wannseer Don Bosco-Heim beginnt, trifft Fler auf Bushido, der ihm in den kommenden Jahren als Vorbild dienen soll. Als dieser nach Abschluss seiner Lehre ankündigt, sich in Zukunft auf das Rappen konzentrieren zu wollen, folgt ihm Fler (seinerseits allerdings ohne Abschluss). Der Anfang 20-Jährige genießt von nun an das Leben als Rapper, es folgen Geschichten von der ersten Tour, die Darstellung ausschweifender sexueller Erfahrungen und Kleingaunereien. Nach der Trennung von Bushido folgt das Angebot eines Plattenvertrages durch das Label Aggro Berlin und der Aufstieg Flers als Rapper hält an. Als er schließlich feststellt, dass die Labelbetreiber ihn nicht nur wirtschaftlich benachteiligen, sondern auch unkollegial behandeln, trennt er sich von ihnen. Am Ende des Buches versöhnt er sich mit Bushido und beschreibt so seine finanzielle und persönliche Restauration.
Stilistisch entspricht das Buch im Großen und Ganzen dem Genre des Jugendpopjournalismus. Dies mag damit zusammenhängen, dass Fler mit den „Bravo“-RedakteurInnen Julia Kautz und Sascha Wernicke als Co-Autoren zusammengearbeitet hat. Als zentrales inhaltliches Motiv des Buches erscheint der Topos der verschiedentlichen ‚Wiederauferstehung‘ Flers. Sein offener Umgang mit Verletzlichkeiten und Niederlagen ermöglicht ihm eine Dramaturgie, in dem es ihm unter widrigen Bedingungen immer wieder gelingt, gestärkt aus der Lösung seiner Probleme hervorzugehen.
Massiv – Solange mein Herz schlägt
Als Sohn libanesischer Flüchtlinge palästinensischen Ursprungs wächst Massiv im rheinland-pfälzischen Pirmasens auf. Der Junge ist ein schlechter Schüler. Früh plagen ihn Selbstzweifel, die auch durch eine ständige Infragestellung des Jungen von Seiten des Vaters genährt werden. Ihr liebloses, häufig aggressives Verhältnis geprägt war durch ständige Demütigung („Wenn Baba lachte, dann nur über mich“; Massiv 2012: 33). Und auch im Wettbewerb um die Anerkennung der Eltern unterliegt er immer wieder der älteren Schwester.
Obwohl der Vater hart und regelmäßig arbeitet, bleibt die Familie arm. Die Schilderung der väterlichen Erwerbstätigkeit ist geprägt von klassischen Gastarbeiter-Topoi: Einmal etwa fällt er positiv auf, weil er im Betrieb eine Toilette mit den Händen reinigt, die sonst keiner der Kollegen auch nur anzufassen wagt. Stärke gegenüber seinem Sohn beweíst der Vater, indem er anhaltend Anpassungsfähigkeit und Härte zum Maßstab männlicher Tugendhaftigkeit erklärt: „Er meinte, Menschen die auf Sozialhilfe leben oder illegal arbeiten würden, müsste man umbringen; auf der faulen Haut liegen sei beschämend und eine Schande für jeden Menschen“ (Massiv 2012: 34). Eine Missbrauchserfahrung, die Massiv im frühen Jugendalter erlebt, treibt diese Diskrepanz weiter auf die Spitze. Denn mit dem psychische Leidensdruck erhöhen sich auch die Erwartungen des Vaters, wenn er sagt: „Arabische Männer sind stolze Männer. Sie weinen nicht. Sie geben nicht auf. Sie sind bereit, für ihre Überzeugung zu sterben. Sie sind bereit, für ihre Heimat zu sterben“ (2012: 107).
In der Selbstdarstellung von Massiv im Buch findet sich immer wieder ein starker Bezug zur palästinensischen Abstammung der Eltern wieder. Die Migrationsgeschichte der Familie (Flucht in den Libanon, schließlich Gewährung von Asyl in Deutschland) verunmöglicht dem Jungen eine eindeutige Identifikation mit einem einzelnen nationalen Kulturraum, schon als Kind fühlt er sich als „nichts Halbes und nichts Ganzes“ (ebd. 2012: 60).
Auf Grund seiner schlechten schulischen Leistungen schicken die Eltern ihn in eine christliche Betreuungseinrichtung zum Nachhilfeunterricht. Von den dort tätigen Ordensschwestern erfährt er vor allem Geringschätzung; sie nennen ihn nicht beim Namen, sondern sagen „Du da“ und zwingen ihn als Strafarbeit das Vaterunser abzuschreiben. Als er sich weigert, von den Nonnen serviertes Schweinefleisch zu essen, wird er des Heimes verwiesen. Dass er, so lässt sich interpretieren, die zwangsförmige Assimilation verweigert, bringt ihm von Seiten der Eltern allerdings keinerlei Anerkennung ein: Die Mutter reagiert enttäuscht und der Vater wird wütend.
Nachdem er die Schule verlassen hat, stellt sich für den Jungen heraus, dass eine solide Erwerbstätigkeit ihn weder zufriedenstellt, noch sein Auskommen gewährleistet. Er bricht fünf (!) Ausbildungen ab (vgl. ebd.: 198)[14] und nimmt eine erfolgreiche Tätigkeit als Drogendealer auf. Während seine beiden Geschäftspartner ihren Teil des Gewinns gleich ausgeben, beginnt Massiv Geld zu sparen. Gleichzeitig professionalisiert er nicht nur seine Kriminellen-Tätigkeit, sondern beginnt systematisch Kraftsport zu betreiben. Aus dem Schatten des Vaters tritt er also über die Kultivierung eines unternehmerischen Selbstentwurfes heraus.
Als sein bester Freund auf Grund seiner Verstrickung in den lokalen Rauschgifthandel zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wird, trifft Massiv nach dem Prozess zufällig auf den Täter, der ihn als Kind misshandelt hat. Aus Rache verprügelt er den Mann noch im Gerichtsgebäude. Anschließend sinniert er über Gerechtigkeit: „Jemand, der einem Kind die Kindheit stahl, kam ungestraft davon, doch wehe dem, der den Staat beklaute – der musste bluten“ (ebd. 2012: 195).
Im Gespräch mit in der Nähe stationierten GIs entdeckt er sein Talent für Rap und entscheidet, einen entsprechenden Karriereweg einzuschlagen (die Eltern sind natürlich dagegen). Nachdem er eine Demo-CD aufgenommen und an eine Reihe von Labels und Produzenten verschickt hat, lädt ihn der Berliner Rapper MC Bastard ein, gemeinsam mit ihm ein paar Songs aufzunehmen. Er überredet seine Eltern, mit ihm nach Berlin zu kommen. Mit Hilfe des Ersparten vom Vater dreht er ein Video und schafft so den Durchbruch. Mit dem Vertrauen der Eltern ausgestattet gelingt so nicht nur die Verwirklichung seiner Aufstiegsträume, sondern gleichzeitig auch die Versöhnung mit der Familie. Als einen Moment des Triumphes schildert Massiv, wie er Eltern und Schwester nach Abschluss eines großen Plattenvertrags in ein teures Berliner Steakrestaurant einlädt (Massiv 2012: 307ff). Mission accomplished.
Stilistisch bleibt das Buch– meinem Geschmack nach – hinter den anderen Büchern zurück: Zu ungeschickt ist der Ausdruck.[15] Zu holzschnittartig und teilweise reißerisch sind die Formulierungen gewählt. Zu abrupt und drastisch verlaufen die Spannungsbögen. Die Erzählung klingt dabei streckenweise so unrealistisch, das es fast absurd wirkt.[16] Insgesamt passt das aber auch zu den besonders übertriebenen Darstellungen, wie sie sich auch in Massivs Rap-Texten finden.
Inhaltlich folgt das Buch der Struktur einer Aufstiegserzählung, die sich neben der Überwindung sozialer Hürden und materieller Mängel vor allem aus einer graduellen Aufarbeitung der Selbstzweifel ergibt, die der Junge im Verhältnis zu seiner Umwelt entwickelt hat. Hierbei ist vor allem die Bezugsperson des Vaters von Bedeutung: Während dieser sich als Gastarbeiter in schlecht bezahlten Jobs mit unangenehmen Aufgaben herumärgern muss, tritt Massiv aus seinem Schatten heraus, indem er als krimineller Unternehmer die Legitimität mehrheitsgesellschaftlicher Ordnung zu unterlaufen beginnt. Die Darstellung der erfolgreichen Laufbahn als Rapper lässt sich anschließend hieran auch als symbolischer Angriff auf die legitime Vertreterschaft hegemonialer Männlichkeit interpretieren.
Xatar – Zählʼ so viele Scheine Du kannst, bevor Du sitzt
Als Sohn geflüchteter Freiheitskämpfer aus dem kurdischen Teil des Irak kommt Xatar Mitte der 1980er Jahre nach Bonn ins Viertel Brüser Berg. In der kleinen Wohnung, die die Familie in der Celsiusstraße bezieht, herrscht, ähnlich wie im Viertel insgesamt, relative Armut. Durch Nebenjobs finanziert seine Mutter dem jungen Xatar Klavierunterricht, der – bedacht mit Talent und Durchhaltevermögen – sich auch als guter Basketballspieler und passabler Gymnasiast herausstellt.
Von seinen Lehrern erhält Xatar fast gar keine Anerkennung. Stattdessen stellt die Erscheinung des ausländischen Jungen für die Pädagogen eine Provokation dar. In der Grundschule nimmt er mit einem aufwändigen Bild über Völkerverständigung an einem Malwettbewerb teil, den allerdings – Xatar meint zu Unrecht – ein deutsches Kind gewinnt: Ein Sinnbild für seine Situation. Lob gibt es nur einmal, als die Pausenaufsicht ihn zur Hilfe ruft, um ein paar fremde Hauptschüler vom Schulhof zu verjagen: „In diesem Moment wurde mir klar: Egal, was ich gemacht oder versucht habe – diese Leute haben in mir immer nur den Asi-Kanaken gesehen“ (Xatar 2015: 31).
Der Weg in ein bürgerliches Leben versperrt, muss Xatar sich also nach Alternativen in seiner näheren Umgebung umsehen.
„Und da niemand etwas anbot, nahmen wir uns irgendwann einfach das, was wir glaubten, was uns zustehen würde. Weil es alle hatten, außer wir. Das Leben schenkte uns nichts. Also fingen wir an, mit dem Leben zu dribbeln. So, wie es die Älteren machten. Wir sahen sie auf dem Brüser Berg mit ihren Benzern stehen, mit ihren goldenen Uhren. Während andere den ganzen Tag schufteten und am Ende des Monats trotzdem jeden Pfennig umdrehen mussten, hatten diese Jungs immer ein paar Batzen auf Tasche“ (Xatar 2015: 36).
Mit seiner ersten Gang, den Brüser Berg Asis, verschafft er sich die Aufmerksamkeit, an der es ihm in der Schule gefehlt hat. Dass der Einstieg in die Kriminellenlaufbahn auch eine neue Sichtweise auf Recht und Unrecht mit sich bringt, zeigt sich jedoch nicht nur in der zunehmenden Gewalttätigkeit und anderen Konflikten mit dem Gesetz, sondern auch in Großmut und Verantwortung. So veranstaltet er im Viertel Grillfeste für die Bewohner. Irgendwie hält man dort doch zusammen, oder möchte zumindest etwas zurückgeben.
Über weite Strecken hinweg lebt das Buch von der Darstellung der Arbeit als Krimineller. Detailliert beschreibt Xatar, wie er Drogen verarbeitet, Schulden eintreibt oder wie ihn Kokaindeals bis nach Peru führen. Die Widersprüche dieses Milieus bringt der Autor immer wieder anekdotisch-metaphorisch auf den Punkt, wie etwa im Falle des Drogenkochs, der plötzlich einen Gebetsteppich hervorholt, um sich an Allah zu wenden: Schließlich möchte man ja nicht als Sünder sterben.
Gleichzeitig entdeckt Xatar in dieser Zeit auch seine Passion für die Rapmusik und beginnt eigene Texte zu schreiben. Doch aufgrund eines missglückten Drogendeals begibt sich der aufstrebende Rapper 2005 ins Londoner Exil. Neben dem Betreiben einer Security-Firma und anderen Geschäften beginnt er hier, Musikmanagement zu studieren. Durch den Verkauf seines Bonner Internetcafés und einige andere Geschäfte erwirtschaftet Xatar bis 2008 die stolze Summe von 120.000 Euro: Startkapital für sein Label ‚Alles oder Nix-Records‘.
Doch bevor das vielversprechende Projekt richtig ins Rollen kommt, gerät Xatars Welt ein weiteres Mal aus den Fugen: Nachdem er gemeinsam mit Komplizen einen Goldtransporter überfällt, führt die Flucht vor der Polizei bis in den Irak, wo er schließlich vom lokalen Militär festgenommen und nach einer kurzen Haftstrafe nach Deutschland ausgeliefert wird. Aus dem Gefängnis betreibt Xatar – den strengen Haftauflagen zum Trotz – nicht nur sein Label weiter, auf dem er die Platten einflussreicher Künstler wie der Bonner SSIO oder die Frankfurterin Schwesta Ewa herausbringt. Mit Hilfe eines Diktiergeräts und einiger findiger Musikproduzenten nimmt er dort sogar ein Album auf, welches im Jahr 2012 erscheint.
Nach seiner Haftentlassung im Dezember 2014 beginnt Xatar unmittelbar mit der Produktion seines neuen Albums ‚Baba aller Babas‘, das im Mai 2015 erscheint. Gleichzeitig konzentriert er sich nun voll auf die Labelarbeit und eröffnet außerdem eine Shisha-Bar auf den Kölner Ringen. Die ‚from rags to riches‘-Erzählung komplettiert ein Epilog, in dem Xatar am Steuer seines Wagens sitzend auf dem Heimweg von seiner Bar im Sonnenaufgang von einem Geschäftspartner über ein erfolgreiches Börsengeschäft der beiden informiert wird. Xatar ist ein solider Geschäftsmann geworden.
Allgemein kommen im Buch wenig Frauen vor. Männerdominanz wird hier – ganz im Sinne Connells (2006) – vor allem über den Wettbewerb zwischen Männern verhandelt. Dies schägt sich auch in der Ausdrucksweise nieder: Den alltäglichen Statuswettbewerb in seiner Peer Group schildert Xatar (2015: 29) folgendermaßen: „Bei uns ging es eigentlich nur um ein einziges Thema: Wer ist ein Pisser und wer hat Eier?“ Gleichzeitig lässt sich, hier und auch im folgenden Abschnitt, eine gewisse Selbstironie erkennen:
„Ein Pisser ist jemand, der kassiert. Eier hat, wer Eier hat. Ich wollte zeigen, dass ich Eier habe. Darum habe ich verteilt. Man musste mich nur blöd angucken und schon gab´s Schläge. Und je mehr Pisser von mir kassierten, desto mehr Anerkennung bekam ich auf der Straße.“
Verstehen wir Süffisanz und die dargestellte Möglichkeit des Autoren, sich von sich selbst auf humoristische Weise (wenn auch nicht vollkommen) zu distanzieren, können wir Widersprüche erkennen, die sich auftun, wenn wir Xatar als stereotypen ungebildeten Einwanderer betrachten. Während er einerseits von handfesten kriminellen Auseinandersetzungen und Verstrickungen erzählt, verkörpert er gleichzeitig Ideale des Bürgertums– die Musikalität, einen exquisiten Geschmack, Weltläufigkeit.
- Vergleich der vier Autobiografien
Einige zentrale Gemeinsamkeiten teilen die Bücher nicht nur in Bezug auf den Verlag (bis auf Massivs Autobiografie sind alle im Riva-Verlag erschienen) und die Tatsache, dass alle mit Co-AutorInnen zusammengearbeitet haben, sondern auch hinsichtlich der stilistischen Vermittlung des Inhalts: In relativ einfachen Worten werden in den Handlungsverläufen einzelne Anekdoten aneinandergereiht, deren Abfolge den Aufstieg der Protagonisten von sozial benachteiligten Jugendlichen zu erfolgreichen Rappern beschreibt. Während diese Erzählsequenzen vor allem im Fall von Massiv häufig abrupte Wendungen nehmen, die auf unerwartete Ereignisse zurückzuführen sind (plötzlich trifft er auf die GI´s und beschließt auf Grund ihres Zuspruchs, Rapper zu werden), reichen die Spannungsbögen im Falle der anderen drei Bücher weiter. Die Plots wirken so weniger fahrig, und schließen stärker an Erzählkonventionen der dramaturgischen Harmonisierung an. Inwiefern dies auch bedeutet, dass Massivs Autobiografie inhaltlich weiter von den realen Geschehnissen entfernt ist, als die anderen drei Texte, lässt sich auf dieser Grundlage selbstverständlich nicht sagen. Rückschlüsse auf eine ‚objektive Realität‘ sind bei der Analyse solcher Autobiografien ohnehin nur insofern möglich, als sie sich auf Gegebenheiten jenseits des Erzählten selbst, d.h. auf seine Beziehung zu einer empirisch überprüfbaren Realität beziehen.[17]
Eine erste Referenz, die sich in allen untersuchten Büchern wiederfindet, ist verbunden mit der Frage nach ethnischer Zugehörigkeit. Mit Bushido, Xatar und Massiv teilen drei der vier Protagonisten einen Migrationshintergrund im arabischen Kulturkreis. Während diese Hintergründe (tunesisch, irakisch-kurdisch, palästinensisch-libanesisch) subjektiv variieren, repräsentieren sie im Kontext der deutschen Aufnahmegesellschaft die Eigenheiten einer Minderheit, deren Leben häufig von ethnischer Stigmatisierung und Ausschluss von materieller Teilhabe bestimmt ist. Diese Verquickung von ethnischer Zugehörigkeit und Klassenidentität spiegelt sich jedoch nicht in der Biografie des Rappers Fler. Während auch er einer relativ armen Familie entstammt, fehlt in seiner Biografie das Fremdheits-Moment, mit dem die anderen drei ihre jeweilige Randständigkeitserfahrung begründen. Während in der symbolischen Ordnung der kulturellen Repräsentation im Westlichen Raum der weiße Mann als „unmarkiert“ (Di Blasi 2013: 9) gilt, ist dieser Universalismus im Feld des Gangstarap in umgekehrter Form gültig. Rechtfertigungsbedarf für sein Deutsch-Sein deckt Fler, indem er traditionelle deutsche Hegemonie in der dargestellten Identitätskonstruktion aufgibt und sich stattdessen mit den Tugenden subalterner Migranten identifiziert. Indem er auf diese Weise versucht, seine deutsche Identität zu behaupten, schafft er gleichzeitig auch Anschlussfähigkeit für deutschnational-völkische Ideologie. Entsprechende Vorwürfe und ihre aggressive Abwehr haben Fler im Verlauf seiner Karriere als wichtiges aufmerksamkeitsökonomisches Instrument gedient.
Ein zweiter gemeinsamer Bezugspunkt der vier Biografien liegt in den jeweils geschilderten Verhältnissen der Protagonisten zu ihren Familien und insbesondere zu Vater und Mutter. Während Xatar der Beziehung zu seinem Elternhaus zwar am wenigsten Platz einräumt, lässt er immer wieder durchblicken, dass die hochkulturelle Bildung und seine musischen Talente auf deren bürgerlichen Hintergrund zurückzuführen ist. Ungleich stärker fällt der dargestellte Bezug zur Familie (oder genauer: zu seiner Mutter) bei Bushido aus, wohingegen er sich Kompetenzen zumeist selbst (durch Hartnäckigkeit und Intelligenz) angeeignet hat, wann immer sie ihm als erforderlich erschienen. Dass sie ihn an zwei Stellen seiner Biografie beim Eintritt in die Erwerbstätigkeit (erst als Dealer, dann als Rapper) finanziell unterstützt hat, unterstreicht ihre ermöglichende Wirkung im Lebenslauf. Die enge familiäre Bindung Bushidos spiegelt sich also in seiner Darstellung der Mutter als Ausgangspunkt und Ziel seines Handelns. Bei Massiv fallen die Bezüge zu den Eltern ambivalenter aus. Während er vor allem die Zuneigung der Mutter genießt, wirft die Figur des Vaters einen einschüchternden Schatten vor allem über die frühen Lebensjahre des Jungen. Die Erarbeitung wirtschaftlicher Eigenständigkeit erst durch Rauschgifthandel und später durch Musik ist hier nicht nur als Statuserwerb innerhalb der Gesellschaft, sondern auch als Emanzipation gegenüber den eigenen Eltern zu sehen. Anders stellt sich die Situation bei Fler dar, welcher schließlich kaum positive Bezüge zu seinem Elternhaus findet. Hier ist es eher die Abwesenheit familiärer Unterstützung, die er als charakteristisch für seinen Werdegang beschreibt. Die zentrale Gemeinsamkeit der vier Biographien, dass die jeweiligen Aufstiegserzählungen ihre konkrete Bedeutung vor dem Hintergrund spezifischer Ausschluss- und Stigmatisierungserfahrungen gewinnen, verweist damit gleichzeitig auf die Unterschiede zwischen diesen spezifischen Erfahrungen im Einzelfall.
Entsprechende Variationen finden sich auch im Hinblick auf das Verhältnis der vier Rapper zu Kriminalität. Während Fler, abgesehen von einer Leidenschaft für illegales Graffiti, nicht durch eine systematische Verbrechertätigkeit hervorgetreten ist, geben die anderen drei an, ihr Geld über unterschiedlich lange Zeiträume hinweg mit dem Handel von Rauschgift verdient zu haben. Der Einstieg ins kriminelle Milieu erfolgt bei Massiv, relativ kurzfristig, über einen Freund und wirkt in der Darstellung fast schon spontan (wohl auch wegen der wenig aufwändigen Erzählstruktur). Für Bushido hingegen ergibt sich die Aufnahme der Dealertätigkeit aus den Erfordernissen der Situation: Als er erkennt, wie viel Geld sich dort verdienen lässt und wie unwahrscheinlich alternative Karrierewege erscheinen, erscheint die Entscheidung für das Drogengeschäft fast schon unumgänglich. Dass der Einstieg Xatars in den Rauschgifthandel die graduelle Eingewöhnung und den Aufstieg vom Straßenverkäufer bis hin zum Organisator im Hintergrund als gradueller Prozess erscheint, wirkt nicht nur realistisch, sondern ist wohl auch auf die sorgfältig arrangierte Erzählstruktur zurückzuführen.
Eine weitere Parallele, die alle vier Geschichten verbindet, findet sich in der Gründung eines eigenen Labels durch die jeweiligen Protagonisten. Die Kultivierung unternehmerischer Selbständigkeit rundet die biografische Bedienung eines Idealbildes hegemonialer Männlichkeit im Sinne Connells (2006) ab, welches die Tugendhaftigkeit bürgerlicher Männlichkeitsvorstellungen nur auf den ersten Blick zu übernehmen scheint. Denn indem die vier Rapper wirtschaftliche Unabhängigkeit und Gestaltungsmacht nicht nur akquirieren, sondern sich dabei gegen Widerstände behaupten können, die für männliche Vertreter der biodeutschen Mehrheitsgesellschaft keine (oder zumindest wesentlich geringere) Hindernisse darstellen, stellen sie im Vergleich mit den letzteren eine höhere Leistungsfähigkeit unter Beweis: Ganz nach oben haben sie es von ganz unten geschafft – und nicht von irgendwo aus der Mitte.
- Fazit
Neben Rap, Interviews, Musikvideos und anderen Kanälen haben deutsche Gangstarapper im Verlauf der letzten Jahre vermehrt auf die Ausdrucksform der Autobiografie zurückgegriffen. Die Analyse der vier Bücher sollte das Referenzsystem zeigen, innerhalb dessen Images aus dem Genre ihre gesellschaftliche Bedeutung gewinnen. Der Vergleich der Bücher bringt ein übergreifendes Muster zu Tage, welches sich im Verlauf aller vier Erzählungen wiederfindet. Zahlreichen gesellschaftlichen Hindernissen zum Trotz gelingt es den Protagonisten, mit ihrer Musik wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen.
Die Erzählung eines Aufstiegs gegen Widerstände lässt sich, im Einklang mit früheren Arbeiten, als Aktualisierungsversuch hegemonialer Männlichkeit deuten (Seeliger 2013). Es ist wohl der spezifischen Ausdrucksform ‚Autobiografie‘ zuzuschreiben, dass die Künstler, anders als in den Rapsongs, bei der Erzählung ihrer Lebensgeschichte eine andere Perspektive einnehmen. Reduziert um die aggressive Stilistik des Rap erscheinen die vier Sprecher viel weniger konfrontativ und vereinzelt, sondern als eingebunden in vielfältige soziale Zusammenhänge. Die Stilisierung des eigenen Aufstiegs zum erfolgreichen biografischen Projekt gewinnt so eine weitere Bedeutungskomponente. Denn indem neben der individuellen Durchsetzungsfähigkeit auch die gesellschaftlichen Zustände beschrieben werden, die die Durchsetzungsfähigkeit erst erforderlich machen, gewinnen die Erzählungen ein genuin politisches Moment. Die systematische Versperrung der Möglichkeit zu sozialem Aufstieg stellt ganz offensichtlich einen Widerspruch gegenüber dem liberalen Grundgedanken wirtschaftlicher Chancengerechtigkeit dar.
Die Auseinandersetzung ‚unten gegen oben‘ oder ‚arm gegen reich‘ lässt sich im Sinne einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit am besten als Klassenkampf erfassen. Zwar wird dieser durch die Protagonisten nicht unbedingt kollektivistisch geführt – schließlich geht es um individuelle Aufstiege und nicht um gemeinsame Interessenvertretung aller Angehörigen einer spezifischen Gruppe. Der anhaltende Bezug auf Klasse und Migrationserfahrung (außer im Fall von Fler) bedingt die anhaltende Identifikation derjenigen sozialen Zugehörigkeiten, die den Zugang zu sozialer Teilhabe (durch Bildung, Reichtum, Anerkennung, etc.) innerhalb der Sozialstruktur determinieren.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Rosas (2016: 374) Diagnose, die Popkultur sei „überwiegend unpolitisch geworden“ zumindest in Frage stellen. Wenn mit Gangstarap das seit Jahren erfolgreichste Sub-Genre der deutschen HipHop-Kultur als Ort der Auseinandersetzung um soziale Teilhabe verstanden werden kann, können wir dann wirklich von einer unpolitischen Popkultur sprechen?[18]
Als „Verweigerung von Kommunikation“ (Siebel 2015: 365) blockiert soziale Exklusion „jede Möglichkeit, die Verunsicherung durch den Fremden zur produktiven Irritation werden zu lassen.“ Der Krisendiskurs, der die Auffassungen über migrantische Männlichkeiten und Delinquenz seit einigen Jahrzehnten (und zuletzt in zunehmendem Maße) prägt, wird unter genau diesen Bedingungen des Ausschlusses geführt. Verstehen wir diesen Diskurs mit Spivak (1995) als Form der „epistemischen Gewalt“, welche die Anliegen der von den Rappern repräsentierten Bevölkerungsgruppe strukturell delegitimiert („Die passen hier nicht rein! / sind hier nur zu Gast!/sollen sich mal eine anständige Arbeit suchen!“, usw. usf.), lassen sich Ausdrucksformen wie die Autobiografien der vier Rapper möglicherweise als „epistemische Gegenmacht“ verstehen.
Verstehen wir den „Kampf um die öffentliche Deutung literarischer Texte“ mit Dörner und Vogt (2013: 305) als „Bestandteil eines Kampfes um kulturelle Vorherrschaft“, wird sich in der öffentlichen Rezeption dieser Biografien entscheiden, inwiefern diese dazu beitragen, die stilisierten Lebensgeschichten (auch) als Forderung nach sozialer Teilhabe erkennbar werden zu lassen. Inwiefern die mitunter reißerische, häufig auch potenziell regressive (weil machistisch-misogyne, homophobe, individualistisch-materialistische, etc.) Darstellungsweise zu einer „Durchbrechung des verdinglichten Bewusstseins“ (Adorno 1973: 292) beitragen kann, ist nicht gesagt. Dass die Gangstarapper, um überhaupt gehört zu werden, immer schon an den Skandaldiskurs anschließen müssen, birgt das Risiko, dass sie im öffentlichen Bewusstsein von den stigmatisierenden Zuschreibungen keinerlei Abstand nehmen können, selbst wenn sie wollten. Wenn Angehörige subalterner Gruppen, dies zeigt die Analyse der vier Bücher deutlich, statt ihre traditionellen, d.h. bereits diskursiv vor-stigmatisierten Ausdrucksformen zu nutzen, sich plötzlich alternativer (und in diesem Fall mit der Autobiografie sogar bourgeoiser) Medien bedienen, kann dies jedoch durchaus Neuordnung der entsprechenden Diskurse nach sich ziehen.
Anmerkungen
[1] Für wertvolle Hinweise danke ich Carolin Amlinger.
[2] Yildiz (2007: 38) bezeichnet diese subjektiven Selbstverständlichkeiten auch als „ethnisches Alltagswissen, das ständig reproduziert und bestätigt wird.“
[3] Ähnlich erkennt auch Herbert Blumer (2013: 141) die Entstehung sozialer Probleme als „Resultat eines Prozesses kollektiver Definition“. Gesellschaftliche Missstände erscheinen aus dieser Sicht also keineswegs als objektiv gegeben, sondern entstehen als Gegenstand sozialer Konstruktion.
[4] Zusätzlich zu Klasse, Ethnizität und Geschlecht rückt hier die Kategorie Körper ins Zentrum des Interesses.
[5] Oder zumindest insofern nicht, als dass sie nicht selbst arm bleiben möchten. Inwiefern die Konsequenz einer solchen (geteilten) Ungleichheitserfahrung eine kollektive Klassenpolitische Mobilisierung bedeutet, stellt sich aus Sicht der verschiedenen Genrevertreter höchst unterschiedlich dar.
[6] Für Ausnahmen in Form einer „weiblichen Empowerment“ siehe Gosmann und Seeliger (2013).
[7] Zur Kultivierung solcher Idealbilder siehe die Arbeiten zum Business Punk von Seeliger (2011).
[8] Entsprechend verstanden und bezeichneten die Protagonisten dieses Ansatzes ihre Theorie auch als eine „Kritische Theorie“. In Bezug auf Rap-Musik siehe hierzu – positiv – Behrens (2004) und – negativ – Seeliger (2016).
[9] Diese (potenziell emanzipatorische) Kraft der Populärkultur ist in der politischen (Revolutions-)Theorie keineswegs unbeachtet geblieben. Besonders deutlich zeigt sich dies im Plädoyer für die Politisierung der Literatur, wie es Wladimir Iljitsch Lenin (1905: 13f) äußert: „Nieder mit den parteilosen Literaten! Nieder mit den literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muss zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ‚Rädchen und Schräubchen’ des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewussten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird.“
[10] Wie Bushido in seinem zweiten Buch (2013: 171) schreibt, bestätigt ihm sogar seine Ehefrau, „dass deutsche Typen in der Pubertät stecken geblieben sind.“
[11] Entweder, so heißt es dort weiter, „du hältst das Schiff über Wasser“ oder „du öffnest dich vollkommen und kannst hundertprozentig davon ausgehen, dass deine Freundin oder Frau eines Tages zur Hure wird, ein Messer tief in dein Herz sticht und ganz langsam darin herumstochert“ (ebd.: 127). Zu diesem Zeitpunkt (d.h. bevor er ein paar Jahre nach Erscheinen seines Buches die Schwester Sarah Connors´ heiratet) ist nur die eigene Mutter in Ordnung. Und daher hat er sich auch ihren Namen ‚Luise Maria‘ auf den rechten Unterarm tätowiert.
[12] Man kann sie allerdings nie erreichen, denn etwas besser geht immer.
[13] Man erinnere sich auch an sein 2015 veröffentlichtes Album unter dem Titel „Keiner kommt klar mit mir“.
[14] Wer kriegt nach der vierten abgebrochenen Ausbildung eigentlich noch einen Ausbildungsplatz?
[15] „Er grinste schief und trat mit dem rechten Fuß gegen einen Stein, der mich treffsicher am Schienbein traf“ (Massiv 2012: 103).
[16] Als er noch klein ist, freundet sich der junge Massiv etwa mit einer Ratte an, die bei ihnen in der Wohnung lebt. Mit Hilfe von Käsekrümeln bringt er der Ratte Kunststücke bei. Als der Vater dies mitbekommt, tötet er die Ratte mit den Worten „Hier wird nichts verschenkt“ (Massiv 2012: 37).
[17] Dass die objektiven Geschehnisse in den jeweiligen Lebensläufen nicht dazu gehören spiegelt sich am anschaulichsten in der Selbstdarstellung Xatars, der immer wieder mit dem (vermeintlichen) Erfolg seines Goldraubes kokettiert. Das funktioniert besonders gut, weil eben nicht klar ist, ob er das Gold (oder einen Gegenwert, den er im Zuge eines Verkaufs erzielt haben könnte) noch besitzt oder nicht.
[18] Und selbst wenn das nicht der Fall wäre: Wäre eine Popkultur ohne explizite Referenzen an soziale Ungleichheit, wie sie sich etwa in den Songs von Rappern wie Crow findet, nicht auch zumindest in dem Sinne politisch, dass ihre Schwerpunktsetzung die bestehende Ordnung stillschweigend rechtfertigen würde?
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Vorabdruck mit freundlicher Erlaubnis des Transcript Verlags.