Gadaffi als ›Popstar‹ zu bezeichnen bringt keinen Erkenntnisgewinn, auch nicht, kriegerische Auseinandersetzungen als Pop-Phänomen anzusehen. Dass militärische Einsätze größeren Stils ein wichtiger Gegenstand in den Massenmedien sind, wenn westliche politische Interessen und Ausrichtungen berührt werden, weiß ja jeder, eine zusätzliche Pop-Titulierung wäre bloß albern oder obszön. Die Kriegsberichte und -kommentare zählen eben zur Popkultur im sehr weiten Sinn – als Themen der Massenkommunikation.
Bemerkenswertere Verbindungen gibt es hingegen zur ›popular culture‹ nach älterer Bedeutung des Begriffs. Zur Legitimation von Gewalt gehört zuverlässig die Berufung auf das Volk, dies konnte man am Libyen-Fall erneut auf allen Seiten beobachten. Die Gegner des Gaddafi-Regimes sahen sich als wahre Vertreter des Volkes. Populär- bzw. Volkskultur bestimmten sie nach der Maßgabe, dass es auf Qualität und Substanz, weniger auf Quantität ankomme – was sie keineswegs daran hindert, gerade nach ihrem Erfolg gegeneinander allerlei unterschiedliche Interessen durchsetzen zu wollen. Weltanschaulich entscheidend war und ist für sie aber nicht, dass sich eine Zahl an Menschen in einem umgrenzten Gebiet aufhält, sondern deren volkhaftes Wesen, das sich oftmals im Blick auf ihre Herrschaft herausstellt.
Nicht nur die westlichen Fernsehsender und Politiker wurden kaum müde zu betonen, dass Gaddafi Krieg gegen sein eigenes Volk führe (Kriege gegen fremde Völker erscheinen ihnen offenkundig legitimer). Viele der libyschen Streiter wider das Regime fanden es besonders unerträglich, dass Gaddafi schwarzafrikanische Kämpfer besoldete.
Gaddafi wiederum war mit dieser Semantik vollkommen einverstanden, nur fiel seine Bilanz, wer zum Volk gehört und wer nicht, selbstverständlich ganz anders aus. »Mein Volk liebt mich«, gab er vor fest zu wissen. Die Abgefallenen hatten nach seiner Maßgabe nicht nur ihr Volkstum, sondern zugleich ihr Menschsein verloren; die Aufständischen waren für ihn niedere Tiere, Ratten. Nach solch ahumaner Weltanschauung hätte deren Vernichtung natürlich geradezu geboten sein müssen.
Offenkundig keine wesentlichen Einwände besaß die Gaddafi-Familie aber gegen westliche, augenscheinlich volksferne Showstars. Darum gibt es doch eine Möglichkeit, im Zusammenhang des Libyen-Kriegs über Pop zu sprechen. Amüsanter wird die Sache dadurch aber leider nicht. Gleichwohl handelte es sich um Meldungen und Kommentare, die in Boulevardsendungen wie auf Nachrichtenseiten zum Einsatz kamen.
Im Zuge der Sanktionen des UN-Sicherheitsrates gegen Libyen sahen sich Beyoncé und Mariah Carey öffentlichem Druck ausgesetzt. Beyoncé, so hieß es zu Beginn des Jahres 2011 in den Schlagzeilen der großen Medienprogramme, habe bei einer Silvesterparty 2009 einen Kurzauftritt u.a. vor Mitgliedern der Gaddafi-Familie absolviert. Der Silvesterauftritt richtete sich strikt an eine kleine Zahl, der exklusive Auftraggeber zahlte dafür eine größere Summe, als ein Konzert vor Tausenden eingebracht hätte. Selbst eine nachträgliche Berichterstattung durch Fernseh-Boulevardmagazine ist ausgeschlossen gewesen. Beyoncé bzw. ihr Management gab entschuldigend an, nicht gewusst zu haben, dass einer der Party-Veranstalter über Beziehungen zur Gaddafi-Familie verfügt habe. Anfang März 2011 erklärte Beyoncé schließlich auf ihrer Website, dass sie ihre Gage für haitianische Erdbebenopfer spenden werde (zu irgendetwas sind die Armen doch gut).
Auch Mariah Carey vollzog am Ende einen ähnlichen Schritt in aller und für die Öffentlichkeit. Sie versprach Anfang 2011, Einnahmen ihres neuen Lieds »Save the Day« für »human right issues« zu spenden. Im Unterschied zur optisch oder politisch kurzsichtigen Beyoncé fiel ihre Verteidigung allerdings offensiver aus. Sie berief sich nicht darauf, nicht gewusst zu haben, vor wem sie auftrat, sondern darauf, im Einklang mit allen anderen offiziellen, offiziösen und staatstragenden Kräften und Medien gehandelt zu haben. Carey begründete ihre bestens entlohnte Teilnahme (Gage: eine Million Dollar) an einem Fest der zu dem Zeitpunkt in vielen westlichen Staaten gut gelittenen Gaddafis mit den Worten, dass Libyen damals nicht in den Schlagzeilen gewesen sei. »Now it’s become an issue in hindsight, which is sort of ridiculous.«
Ein polemischerer Geist als die Pop-Diva hätte wahrscheinlich noch angefügt, dass zur Zeit ihres Auftritts vor Gaddafi-Söhnen die westlichen Staaten vielfältige enge Beziehungen zum Gaddafi-Regime zum Zwecke der Islamismus-Bekämpfung, Grenzsicherung und Ressourcenausbeutung pflegten und der Herrscherfamilie teilweise ganz umsonst Unterhaltungsprogramme boten. Natürlich unterblieb solche Kritik von diesem Popstar unserer Zeit (von der Obama-Bekannten Beyoncé ganz zu schweigen). Eine kleine Strafe für ihre Doppelmoral müssen in der Gegenwart nur noch Popstars zahlen, als Ablass für eine brave, wenn auch mitunter leicht erregbare Öffentlichkeit, die selbst nur noch Kritik in weitgehend moralisch beduselter Form oder im Stile der kurzsichtigen Beyoncé üben kann.