Hundert Bücher für ein anderes Deutschland
von Anna Kuhn
23.9.2025

Neurechte Kanonisierungsstrategien

„Diskussionen darüber, ob solche Listen überhaupt sinnvoll sein könnten, finden keinen Platz“  – mit diesem Satz kommentiert der neurechte Verleger Götz Kubitschek in der Sezession („Hundert Jahre, hundert Romane“, 2024) die Relevanz kuratierter Zusammenstellungen von Literatur. Mit dem Begriff ‚Listen‘ bezieht sich Kubitschek hier auf Kanones, also Sammlungen von ästhetischen Artefakten, die als besonders wertvoll, bedeutend oder beispielhaft gelten und auf diese Weise eine normbildende Funktion übernehmen.

Dass Kanones eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, zeigt sich nicht nur in der neurechten Debatte, sondern auch an prominenten Beispielen aus dem internationalen Feuilleton. Die New York Times etwa veröffentlichte im Sommer 2024 eine Liste mit den „100 Best Books of the 21st Century“. Mit der Ambition die ‚besten Bücher‘ zu präsentieren, erhebt sie einen normativen Geltungsanspruch darauf, gültige Maßstäbe für die Literatur der Gegenwart zu setzen.

Auch in Deutschland wurde jüngst ein solches Projekt in Angriff genommen: Der Spiegel präsentierte 2024 eine Auswahl der „100 besten deutschsprachigen Romane der letzten 100 Jahre“. Im April 2025 folgte eine weitere Liste mit internationalen Titeln. Die Redaktion beteuerte in diesem Fall zwar, die Auswahl ziele nicht „auf Vollständigkeit und Objektivität, sondern auf den Reiz, die Kompetenzen und Geschmacksvorlieben jener vier Expertinnen und Experten zusammenzuführen“ („Literaturkanon“, 2024, Spiegel); allerdings spricht bereits die Wahl des Begriffs ‚Literaturkanon‘ eine andere Sprache: Der Terminus impliziert normsetzende Autorität und das Bewusstsein, mit einer solchen Liste Einfluss auf das kollektive kulturelle Gedächtnis nehmen zu können.

Kanones als kulturelle Machtinstrumente

Empfehlungen und Lektüreliste spiegeln keineswegs nur die ästhetische Qualität einzelner Werke oder den aktuellen Stand einer Kunstszene wider. Vielmehr sind sie Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, Machtstrukturen und kultureller Selbstverständigung (Rippl und Winko, 2013, 1–2). Welche Werke (wieder-)entdeckt, welche aussortiert oder ignoriert werden, ist stets auch ein Symptom für politische und soziale Verschiebungen. Deutlich wurde das in den letzten Jahren etwa im Fall der jüdisch-deutschen Autorin Gabriele Tergit. Ihre Wiederentdeckung in der Gegenwartsliteratur und literaturwissenschaftlichen Forschung geht einher mit einer Reflexion darüber, warum und wann sie in früheren Jahrzehnten marginalisiert oder gar aktiv boykottiert wurde. Anthologien und Studien, die sich dieser Frage widmen, zeigen: Die Auswahl dessen, was als lesenswert gilt, ist keine neutrale, sondern eine politisch und kulturell aufgeladene Entscheidung (vgl. Beck/Wortmann, 2024).

Wer also über Kanonbildung verfügt, verfügt auch über Macht – insbesondere unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Einflusses, den Literatur und Kunst entfalten können (Altun, 2023). Kanones sind nicht nur Nachschlagewerke oder Orientierungshilfen, sondern spiegeln bestehende Machtverhältnisse wider und tragen gleichzeitig zu deren Stabilisierung oder Verschiebung bei. Genau an diesem Punkt setzt die Neue Rechte an. Ihre gleich doppelte Reaktion auf die Aktivitäten des von ihr als „Sturmgeschütz des Linksliberalismus“ („Am Rande“, Kanal Schnellroda 1:09:32) [1] diffamierten Magazins Der Spiegel unterstreicht die zentrale Bedeutung von Literaturpolitik innerhalb ihrer strategischen Ausrichtung. Die Projekte „Hundert Jahre, hundert Romane“ und „Weltliteratur – Hundert Romane“, die vom Verlag Antaios herausgegeben und explizit als „Gegenliste“ (Kubitschek et al., 2024, 1:33:19) betitelt wurden, stehen in direkter Referenz und Opposition zu den Spiegel-Listen und versuchen, durch eine gezielte Auswahl literarischer Werke eine neurechte Gegenkanonisierung zu etablieren. Die Existenz solcher Projekte verweist auf die systematische Beobachtung des etablierten Literatur- und Kulturbetriebs und auf den hohen Stellenwert, den Literatur für die politischen und ideologischen Ziele der Neuen Rechten einnimmt.

Der neurechte Kanon – Ordnung, Deutung, Strategie

Die Erkenntnis, dass Literatur ein machtpolitisches Werkzeug für die Neue Rechte ist, ist nicht neu. Bereits seit mehreren Jahren weisen Literaturwissenschaftler*innen auf die systematischen kulturpolitischen Aktivitäten rechter Akteure hin (vgl. z.B. Meurer 2021; Hoffmann/Kempke, 2021; Busch, 2024; Busch et al. 2024) . Thorsten Hoffmann etwa beschreibt in seiner Analyse der metapolitischen Strategien der Neuen Rechten einen gezielten „Umbau des literarischen Kanons“ (2021, 230) als eine von drei zentralen Kulturkampfpraktiken. Ein Blick auf frühere Projekte der neurechten Kanonbildung bestätigt diese Einschätzung. Bereits vor dem aktuellen Interesse an Listen im Spiegel-Format entstanden Veröffentlichungen wie Das Buch im Haus nebenan oder Literarische Musterung, die als Versuche gelesen werden können, ein eigenes literarisches System zu etablieren.

Diese Publikationen sind in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt und zirkulieren vor allem in der neurechten Szene. Im Jahre 2020 veröffentlichten Götz Kubitschek und seine Frau Ellen Kositza Das Buch im Haus nebenan, in dem verschiedene neurechte Akteure (darunter Erik Lehnert, Martin Lichtmesz, Benedikt Kaiser oder Martin Sellner) jeweils Bücher vorstellen, die ihnen prägend erscheinen. Das Ergebnis ist die Vermischung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Titeln, von klassischer und neurechter Literatur. In Kubitscheks Empfehlung etwa steht Christoph Ransymayrs Die letzte Welt neben Armin Mohlers Der faschistische Stil. Im Vorwort wird das Lesen als existenzieller Prozess beschrieben, als „zweite Geburt“ und als Öffnung hin zu „Gefühlen, Erinnerungen, Meinungen, Argumenten, Erregungszuständen, Widerstandskräften, Fragen, Rückzugsräumen, Verweigerungshaltungen, Ideen und Phantasien“ (Kositza und Kubitschek, 2020, 7).

Als Bausteine einer reflektierenden Identitätsbildung beanspruchen die Lektürevorschläge dieses Bandes somit eine umfassende weltanschauliche Relevanz. Ein vergleichbares Verfahren lässt sich in Literarische Musterung beobachten, in der Günter Scholdt das Lesen im Vorwort ausdrücklich im Sinne einer ideologischen Übertragbarkeit literarischer Texte auf gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse rahmt (2017, 7). Diese Lesart ist keineswegs neutral oder offen, sondern verfolgt das Ziel, Klassiker wie Ein Volksfeind, Antigone, Der Besuch der alten Dame oder Herr von Ribbeck in ein neurechtes Deutungsschema zu überführen. Besonders deutlich wird dies bei der Analyse von Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas, die Scholdt in diesem Band vorlegt. Thomas Wortmann (2023) hat deutlich herausgestellt, wie Kleists Text durch Scholdt derart selektiv und lückenhaft gedeutet wird, dass er sich als Beispiel für eine rechte Haltung gegen staatliche Willkür instrumentalisieren lässt, ungeachtet der Komplexität des Originals.

Auch neurechte Versuche der Kanonisierung sind also kein neues Phänomen. Neu hingegen ist, dass diese Bestrebungen zunehmend öffentlich diskutiert und bewusst in bestehende Kanondebatten eingespeist werden. Podcasts, Essays und programmatische Stellungnahmen aus dem Umfeld der Verlage Antaios und Jungeuropa belegen eine verstärkte Präsenz im literarischen Diskurs, nicht zuletzt als Reaktion auf prominente Kanonprojekte wie jene des Spiegels. Der populistische Charakter solcher Unternehmungen offenbart sich auch an der begleitenden Polemik. Wenn Kubitschek dem Spiegel einen „subkutanen antideutschen Geist“ (2024, 1:04:23) unterstellt oder Volker Zierke und Philip Stein von einem „Gegendeutschland … das geheime Deutschland linksliberaler Kulturelite” (“rechte Literaturkanon” 0:31:46-0:31:53) sprechen, wird deutlich, dass der neurechte Kanondiskurs zum Austragungsort eines ‚Kulturkampfes‘ wird. Indem etablierte Medien als feindlich und systemtreu markiert werden, positioniert sich die Neue Rechte als vermeintlich notwendige Gegenkraft und als Verteidigerin eines ‚authentischen‘ deutschen Standpunkts.[2]

Literarische Umdeutung – Aneignung und Diskursvermischung als politische Strategie

Diese Form der ideologischen Kanonpolitik lebt wesentlich von der Aneignung bereits etablierter Autor*innen. Das lässt sich exemplarisch anhand des gesteigerten Interesses an Hans Fallada nachvollziehen. Der Antaios-Verlag führt mehrere Ausgaben seiner Werke im Programm und dem Autor ist auf dem YouTube-Kanal Schnellroda ein zweistündiges Literaturgespräch gewidmet.  Auch die doppelte Präsenz Falladas in der neurechten Auswahl „Hundert Jahre, hundert Romane“ ist angesichts der Tatsache, dass seine Werke in wesentlichen Aspekten im Widerspruch zur Ideologie der Neuen Rechten stehen, bemerkenswert. Während der Spiegel Falladas Prosa als „technisch … oft Durchschnittsware“ („Literaturkanon“, 2024) beschreibt, stilisieren ihn Kubitschek und Lehnert zum Chronisten eines wahren Deutschlands.[3] In dieser Rezeption wird Fallada ebenfalls nicht wegen seiner literarischen Qualität geschätzt, sondern wegen seines vermeintlich authentischen Blicks auf die Gesellschaft. Die ideologische Ausdeutung erfolgt durch eine implizite Analogie zur DDR und zur Gegenwart (Kubitschek und Lehnert, 2024, 1:16:52-1:17:03): Wer sich heute dem System widersetzt, könne sich in Falladas Gestalten wiedererkennen.

Das symbolische Kapital, das an einen kanonischen Autor wie Fallada gebunden ist, wird von der Neuen Rechten strategisch genutzt, um vielschichtige Werke auf ideologische Schlagworte zu reduzieren: Der Staat ist der Feind, Widerstand ist Pflicht. Ähnliche Mechanismen lassen sich auch bei der Rezeption Franz Kafkas beobachten. In unterschiedlichsten Beiträgen wird Kafka als Prophet einer übergriffigen, technokratischen Bürokratie gelesen. [4] Auch Kafkas Texte dienen als „literarische[r] Sprengstoff“ (Scholdt, „Kafka und wir“, 2024, 96) der Selbstvergewisserung „zur Provokation“ (96) einer als totalitär empfundenen Gegenwart. Kafkas literarische Ambivalenz, seine absurde, oft unauflösbare Mehrdeutigkeit, wird dabei gezielt negiert, während dem gegenwärtigen System vorgeworfen wird, Kafka durch seine Vereinnahmung zu entstellen und zu kritisieren.

Derartige Rezeptionspraktiken zeigen, wie literarische Texte durch Auswahl, Interpretation und Kontextualisierung ideologisch aufgeladen werden können. Zum einen werden Klassiker des literarischen Kanons durch gezielte Umdeutungen in ein neurechtes Raster überführt; zum anderen werden explizit rechte Werke in diesen Kanon eingeschleust und durch die Nähe zu kanonisierten Autoren normalisiert und aufgewertet. Auf diese Weise soll diskursive Anschlussfähigkeit geschaffen werden, um das kulturelle Deutungsangebot in ihrem Sinne zu verschieben.

Besonders produktiv wird die literarische Aneignungsstrategie der Neuen Rechten bei jenen Werken, die sich gerade durch ihre interpretative Offenheit auszeichnen und damit auch im Literaturbetrieb selbst ambivalente Reaktionen hervorgerufen haben. Ein prominentes Beispiel ist Christian Krachts Faserland, das sowohl auf der Kanonliste des Spiegels als auch in der neurechten Auswahl „Hundert Jahre, hundert Romane“ vertreten ist. [5] Nicolai Busch hat in diesem Zusammenhang besonders wegen der Übereinstimmung der „politischen Indifferenz seines Erzählers [mit] neurechten Ästhetikvorstellungen“ („Gegenwartsliteratur“, 2024, 144) ausführlich die neurechte Vereinnahmung und auf die strategische Umdeutung von Krachts Werk und der Kontroversen um den Autor hingewiesen: „Die Anti-PC-Haltung des Kracht-Romans, welche die allgemeine Kritik und Forschung als ‚typisch-popliterarisch‘ und letztlich apolitisch bewertet hatten, wird in den neurechten Kritiken somit metapolitisch instrumentalisiert, insofern diese (auch ohne eindeutig ‚rechts‘ zu sein) einer Verschiebung der Diskursfelder nach ‚rechts‘ zuträglich ist“ (Busch, „Gegenwartsliteratur, 2024, 145).

In einer Folge des Podcasts Von rechts gelesen des Jungeuropa-Verlags, die sich ausschließlich Kracht und seinem Werk widmet, wird Faserland zur literarischen Zeitdiagnose eines entkernten Westens und zur prophetischen Stimme einer untergehenden Ordnung stilisiert. [6] Obwohl im Gespräch auf die Zeitgebundenheit der Erzählhaltung verwiesen wird, erfolgt gleichzeitig eine klar didaktische Deutung: Die Romane sollen eine implizite Ideologiekritik enthalten, die sich – richtig gelesen – mit den Grundannahmen der Neuen Rechten deckt (Stein und Zierke, “Türsteher” 0:46:–; 1:12:–). In einer Strategie des Re-Labelling wird der gleiche Text nicht nur übernommen, sondern umcodiert, indem er politisch lesbar gemacht wird.

Parallel dazu erscheint mit dem Roman EuropaPowerbrutal, der ebenfalls in die Liste „Hundert Jahre, hundert Romane“ aufgenommen wurde, ein dezidiert neurechtes Gegenwartsnarrativ. Der Roman lässt sich als ideologische Fortschreibung der von Kracht erzählten Leere interpretieren, allerdings mit klarer politischer Zielrichtung: Die Handlung und die Atmosphäre diffuser Desorientierung aus Faserland wird hier in ein neurechtes Erlösungsnarrativ überführt, das die Krisenerzählung einer dekadenten Moderne in eine nationalkonservative Ordnungsvorstellung überführt. In dieser Konstellation wird EuropaPowerbrutal von Kubitschek nicht zufällig als „Christian Kracht von rechts“ („Szene-Prosa“, 2022) bezeichnet – ein Vergleich, der in neurechten Kreisen häufig gezogen wird, [7] obwohl sich die Themen und die formale Komplexität der Werke kaum vergleichen lassen. Dass ein derart programmatischer Roman in einer neurechten Liste der hundert besten deutschen Romane des Jahrhunderts erscheint, demonstriert, wie stark auch hier ästhetische Kriterien durch politische Zielsetzungen überlagert werden. Diese Aufnahme wirkt umso bemerkenswerter, als sich die Neue Rechte in vielen anderen Kontexten explizit als Kritikerin von Thesenliteratur, die von „thematischer Eindeutigkeit“ (Kubitschek, „Szene-Prosa“, 2022) und Unterkomplexität zeugt, inszeniert.

Kanonpolitik ohne Landesgrenzen –  Der globale Zugriff auf Literatur

Obwohl die Neue Rechte ihren Schwerpunkt stark auf Nationalität und ethnopluralistische Abgrenzung legt (Pfeiffer, 2018, 35), beschränkt sie sich keineswegs ausschließlich auf deutschsprachige Literatur. Sie reagiert ebenso auf den internationalen Kanon, den Der Spiegel parallel zur deutschen Liste vorgelegt hat. Auch hier wird auf kanonisierte Autor*innen zurückgegriffen, um das eigene literarische Selbstverständnis zu inszenieren, wie etwa die Aufnahme von J. R. R. Tolkien und seiner Werke, die auch in rechten Kontexten als kulturell und ideologisch anschlussfähig interpretiert werden. So veröffentlichte der Verlag Renovamen, ein weiterer Akteur im neurechten Verlagsnetzwerk, zum 50. Todestag Tolkiens den Sammelband Aurë entuluva!, in dem Beiträge verschiedener Autor*innen versammelt sind, die explizit eine weltanschauliche Lesart seiner Werke vertreten. Tolkien sei, so heißt es in der Buchbeschreibung, der „wichtigste Führer auf dem Weg zu Gott, zum Abendland und zur Familie“.

Der Band positioniert sich als interpretatorischer Begleiter, der Tolkiens Welt als Allegorie für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen deutet, inklusive Bezügen zu Religion, Nationalismus und einem konservativen Familienbild. In der Buchbeschreibung finden sich weitere Aussagen wie: „Kampf gegen das Dunkel – gerade heute, wo alles, was Tolkien lieb und teuer war, nur noch zu einem Schatten seiner selbst geworden ist.“ Diese Formulierung verdeutlicht, wie die fantastische Welt Tolkiens zur politischen Metapher umgedeutet wird. Bereits Erika Thomalla (2024, 655) und Kevin Kempke (2024, 693) haben darauf hingewiesen, dass das Interesse der Neuen Rechten an Tolkien kein Zufall ist, sondern einem kulturpolitischen Muster folgt. Antaios Aufnahme des Autors in seinen weltliterarischen Kanon sowie die Befürwortung einer neurechten Kanonisierung des Autors von Jungeuropa (Stein and Zierke, “rechte Literaturkanon”) erscheint vor diesem Hintergrund einschlägig.

Neben der Fantasy spielt auch das dystopische Genre eine Rolle in der neurechten Kanonbildung. Es bietet nicht nur ein hohes identifikatorisches Potenzial, sondern eröffnet zugleich Projektionsflächen für Zukunftsängste und Gegenwartsdiagnosen, die sich in neurechte Ideologeme übersetzen lassen. Besonders ambivalent zeigt sich dies im Fall von George Orwells 1984. Obwohl der Roman in liberalen und linken Kreisen als warnendes Beispiel gegen autoritäre Strukturen gilt, was sich unter anderem in steigenden Verkaufszahlen nach der Amtseinführung Donald Trumps zeigte, [8] wurde er auch in die Weltliteraturliste des Antaios-Verlags aufgenommen. Ellen Kositza kommentiert diese Aufnahme mit den Worten: „Die Vereinnahmung des dystopischen Klassikers von George Orwell … kennt keine Grenzen, selbst Robert Habeck hat sich zuletzt daran versucht. Dabei setzt die Geschichte des Winston Smith, der in einem totalen Überwachungsstaat aufbegehrt und nach Gehirnwäsche und Selbstkritik zum glücklichen Herdentier wird, nicht zwingend eine Diktatur voraus. In der totalitären Demokratie geht das genauso gut“ („Weltliteratur“, 2025).

Der Begriff der „totalitären Demokratie“ fungiert hier als rhetorisches Signalwort, denn er wird in neurechten Diskursen genutzt, um die Bundesrepublik Deutschland als autoritär maskiertes System darzustellen. In einer Form des dog whistling werden bestimmte Leser*innen gezielt adressiert, ohne explizit zu sprechen. Auch Günter Scholdt widmet sich im Beitrag zu 1984 in Literarische Musterung einer Interpretation, die Orwells dystopische Kritik gegen eine als entgrenzte liberale Demokratie verstandene Gegenwart ausdeutet. Diese Form der Aneignung unterstreicht nicht nur die strategische Kanonisierung eines ideologisch offenen Textes, sondern verweist auch auf eine ambivalente neurechte Position: Einerseits wird Robert Habeck für seine Bezugnahme auf Orwell kritisiert, andererseits wird derselbe Text als ideologische Ressource vereinnahmt.

Neben Werken, die erst durch Interpretation politisch aufgeladen werden, finden sich auf neurechten Kanonlisten auch Romane, die bereits in ihrer ursprünglichen Konzeption rechte Narrative transportieren. Jean Raspails Heerlager der Heiligen etwa, der eine massenhafte Migration nach Europa als zivilisatorischen Untergang, der, wie Martin Lichtmesz es in dem peritextuell lenkendem Vorwort beschreibt, „Zerstörung des Abendlandes“, imaginiert, findet sich ebenfalls in der Kanonauswahl von Antaios. Wie unter anderem Udo Bermbach (2017), Enno Stahl (2021) oder Jonas Meurer (2021) analysiert haben, operiert Raspails Text mit rassistischen und kulturpessimistischen Tropen, die kaum verschleiert sind. Linke Akteure werden lächerlich gemacht („Euter dieser Milchkühe des zeitgeistigen Denkens“ (Raspail, 2015, 75)), staatliche Institutionen delegitimiert und Geflüchtete durch Zuschreibungen wie „Ameisen“ (11) oder „Fleischwogen“ (71) entmenschlicht. Die Inszenierung innerhalb eines dystopischen Settings, das Realitätsnähe suggeriert, soll seine ideologische Wirksamkeit verstärken. Es verliert aber, wie Bermbach festhält, stilistisch an Komplexität (2017, 335). Dass ein Roman wie Heerlager der Heiligen in einer Liste der ‚besten‘ Literatur neben Werken von Autoren wie Fitzgerald, Faulkner, Lindgren oder eben Orwell geführt wird, verweist letztlich erneut auf das zentrale Muster neurechter Kanonpolitik: Die Behauptung ästhetischen Interesses fungiert als Vehikel für ideologische Einflussnahme.

Die Kanonisierungsbemühungen der Neuen Rechten zielen weniger auf eine rein literarische Bewertung bzw. Empfehlung ab, sondern vielmehr auf die Besetzung kultureller Deutungshoheiten. Die Zusammenstellung von Listen, Podcasts und Leseempfehlungen fungiert als strategisches Instrument, um bestehende literarische und gesellschaftliche Ordnungen in Frage zu stellen und neu zu interpretieren. Durch die bewusste Neu-Kontextualisierung etablierter Klassiker und die Integration eigener Werke wird ein alternativer Literaturkanon konstruiert, der primär ideologische, nicht ausschließlich ästhetische Kriterien verfolgt. Wie die Konflikte um den Autor Uwe Tellkamp zeigen, ist es umso wichtiger, genau hinzusehen, wenn literarische Wertung und Kanonfragen plötzlich zum politischen Streitfall werden.

Anmerkungen

[1] Es handelt sich bei diesem Video um ein Literaturgespräch zwischen Götz Kubitschek, Ellen Kositza, Erik Lehnert und Christoph Bernd. Gegen Ende der Episode widmen sich die Gesprächsteilnehmenden der Reaktion auf die Spiegelliste und einem ‚rechten‘ Kanon.

[2] Das Verständnis von Literatur als ideologische Ressource eint verschiedene neurechte Akteure. Trotz betonter Unabhängigkeit zeigen sich zwischen Antaios und Jungeuropa Parallelen in der metapolitischen Strategie und Zielsetzung. Die Verlage propagieren Literatur als Mittel zur Welterschließung und Identitätsbildung im Dienst eines rechten Weltbildes. Angesichts dieser inhaltlichen und strategischen Überschneidungen erscheint es legitim, von einer kollektiven literaturpolitischen Bewegung innerhalb der Neuen Rechten zu sprechen.

[3] Siehe Lehnerts Kommentar zu Beginn des Videos: „und wenn jetzt von einigen Seiten im Vorfeld geäußert wurde, ja der Mann ist doch gar kein nationaler Autor, kein Rechter, ja, stimmt, aber auch der nationale Gedanke, der deutsche Gedanke, der lebt eben nicht nur von irgendwelchem ideologischen Überbau, sondern auch der hat seinen Alltag. Und diesen Alltag, den stellt Fallada dar und völlig unverfälscht“ (Kubitschek und Lehnert, 2024, 0:04:37-0:04:59).

[4] Vergleiche etwa https://jungefreiheit.de/kultur/literatur/2024/kafka-oder-wenn-das-unerklaerliche-hingenommen-wird/, https://jungefreiheit.de/wissen/geschichte/2023/kafka-sozialismus/ oder Felix Menzels Beitrag zu Kafkas Prozess in Literarische Musterung.

[5] Siehe v.a. den 2012 im Spiegel erschienener Artikel „Die Methode Kracht“, in dem Verfasser Georg Diez Christian Kracht als „Türsteher der rechten Gedanken“ betitelt und seinen Werken Rassismus unterstellt: https://www.spiegel.de/kultur/die-methode-kracht-a-3715fb8c-0002-0001-0000-000083977254.

[6] Der Titel des Podcasts verweist explizit auf o.g. Spiegel Artikel. Dies zeugt erneut von der neurechten Intention, aktiv in den öffentlichen Literaturdiskurs einzusteigen.

[7] Zierke und Stein sprechen in einer Podcastepisode zu EuropaPowerbrutal von Parallelen zu Faserland (https://blog.jungeuropa.de/blog/2021/06/22/von-rechts-gelesen-sendung-21-europapowerbrutal/). In einem Artikel vergleicht Ellen Kositza ebenfalls beide Bücher (https://sezession.de/69503/sezession-121-buecher-die-wir-fuer-sie-gelesen-haben).

[8] https://www.n-tv.de/wirtschaft/1984-ist-wieder-Top-Bestseller-article19641232.html.

 

Quellen

Antaios. https://antaios.de/.

“Hundert Jahre, hundert Romane – 1924 bis 1945.” Sezession, 14.11.2024, https://sezession.de/69783/hundert-jahre-hundert-romane-1924-bis-1945.

“Hundert Jahre, hundert Romane – 1946 bis 1989.” Sezession, 19.11.2024, https://sezession.de/69787/hundert-jahre-hundert-romane-1946-bis-1989.

“Hundert Jahre, hundert Romane – 1990 bis 2024.” Sezession, 26.11.2024, https://sezession.de/69811/hundert-jahre-hundert-romane-1990-bis-2024.

Kubitschek, Götz. “Szene-Prosa in vier Beispielen – Romane und Kunst (2).” Sezession, 26.04.2022, https://sezession.de/65781/szene-prosa-in-vier-beispielen-romane-und-kunst-2.

Kubitschek, Götz und Kositza, Ellen (Hrsg.). Das Buch im Haus nebenan. Antaios, 2020.

Kubitschek, Götz und Lehnert, Erik. “‘Hans Fallada‘ – ein Literaturgespräch mit Götz Kubitschek und Erik Lehnert.” Youtube, hochgeladen von Kanal Schnellroda, 22.04.2024 https://www.youtube.com/watch?v=VlQ7_g0arB4.

Kubitschek et al. “Am Rande der Gesellschaft.” Youtube, hochgeladen von Kanal Schnellroda, Episode 42, 25.10.2024, https://www.youtube.com/watch?v=kTgF_hGlpJg.

Lichtmesz, Martin. Vorwort. Das Heerlager der Heiligen, von Jean Raspail, 1985, 2. Ed., Antaios, 2015, S. 5–8.

Menzel, Felix. “Franz Kaka: Der Prozess.“ Literarische Musterung. Warum wir Kolhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen, herausgegeben von Günther Scholdt, Antaios, 2017, S. 253–258.

Raspail, Jean. Das Heerlager der Heiligen. 1985. Übersetzt von Martin Lichtmesz, Antaios, 2015.

Scholdt, Günter. „Kafka und wir. Aktuelle Besichtigung eines Klassikers.“ Tumult, 2024.

Scholdt, Günter. Literarische Musterung. Warum wir Kolhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen. Antaios, 2017.

Stein, Philip and Zierke, Volker, hosts. “Christian Kracht, ein ‘Türsteher rechter Gedanken‘?” Von rechts gelesen, Episode 13, Jungeuropa, https://podcast.jungeuropa.de/von-rechts-gelesen-sendung-13-christian-kracht/.

—. “Der rechte Literaturkanon.” Von rechts gelesen, Episode 114, Jungeuropa, https://podcast.jungeuropa.de/der-rechte-literaturkanon/.

“Weltliteratur – Hundert Romane – 1925 bis 1975.” Sezession, 10.04.2025, https://sezession.de/70140/weltliteratur-hundert-romane-1925-bis-1975.

 

Sekundärliteratur

Altun, Mutafa. “Literature and Identity: Examine the Role of Literature in Shaping Individual and Cultural Identities.” International Journal of Social Sciences & Educational Studies, Vol. 10, Nr. 3, 2023, S. 381–385.

Beck, Sandra und Wortmann, Thomas (Hrsg.). ‚Aber Es Wurde‘: Zu Leben, Werk und Wiederentdeckung Von Gabriele Tergit. Wallstein Verlag, 2024.

Bermbach, Udo. “Vom Untergang des weißen und christlichen Abendlandes. Zur Dystopie des Jean Raspail.” Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung, herausgegeben von Alexander Amberger and Thomas Möbius, Springer, 2017, S. 325–337.

Busch, Nicolai. Das ‘politisch Rechte‘ der Gegenwartsliteratur (19892022). Mit Studien zu Christian Kracht, Simon Strauß und Uwe Tellkamp. DeGruyter, 2024.

Busch, Nicolai et al. “Neurechte Literatur und Literaturpolitik.” Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Vol. 98, 2024, S. 467–477.

Hoffmann, Torsten. “Ästhetischer Dünger – Strategien neurechter Literaturpolitik.” Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Vol. 95, Nr. 2, 2021, S. 219–254.

Kempke, Kevin. “Gefühlt rechts. Neurechte Lesekrisen und die Literaturpolitik des Jungeuropa-Podcasts Von rechts gelesen.” Deutsche Vierteljahrsschrift Literaturwissenschaften und Geistesgeschichte, Vol. 98, 2024, S. 685–701.

Meurer, Jonas. „Lob der Lektüre. Die Neue Rechte als Lesebewegung.“ Skandalisieren, stereotypisieren, normalisieren. Diskurspraktiken der Neuen Rechten aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive, herausgegeben von Steffen Pappert et al., Hamburg, 2021, S. 195–215.

Pfeiffer, Thomas. “‘Wir lieben das Fremde – in der Fremde‘ Ethnopluralismus als Diskursmuster und -strategie im Rechtsextremismus.” Großerzählungen des Extremen. Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror, edited by Jennifer Schellhöh et.al., Transcript, 2018, S. 35–55.

Rippl, Gabriele und Simone Winko. Handbuch Kanon und Wertung: Theorien, Instanzen, Geschichte. J. B. Metzler, 2013.

“Spiegel-Literaturkanon. Die besten 100 Bücher aus 100 Jahren.” Spiegel, 13.10.2024, https://www.spiegel.de/kultur/literatur/spiegel-literaturkanon-die-besten-100-buecher-aus-100-jahren-a-e1e74cd7-9cd8-4743-9334-1622cab3ddb4.

Stahl, Enno. „‘Faschistischer Stil‘. Rechte Belletristik und ihre Ideologie (Jünger, Drieu la Rochelle, Raspail, Di Tullio).“ Skandalisieren, stereotypisieren, normalisieren. Diskurspraktiken der Neuen Rechten aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive, herausgegeben von Steffen Pappert et al., Hamburg, 2021, S. 29–49.

Thomalla, Erika. “Neurechte Verlagspolitik.” Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Vol. 98, 2024, S. 639–659.

Wortmann, Thomas. “Arbeit am Kanon – von rechts. Neurechte Literaturpolitik und die Vereinnahmung von Kleists ‘Michael Kohlhaas‘.” Kleist-Jahrbuch 2023, herausgegeben von Anne Fleig et al., J.B. Metzler, 2023, S. 81–98.

 

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