Sex als Heterotopie
von Thorsten Benkel und Teresa Geisler
5.8.2025

Ein Spaziergang über die ›Venus‹

 

„Müßt ihr äugen und züngeln und speicheln,
vor Begierde schwach in den Knien beim Anblick des Trug-Objekts?“

Thomas Mann, Die vertauschten Köpfe

 

Der ganz grundsätzlichen, fast schon naiven Frage folgend: Was geht dort eigentlich vor?, haben sich eine Philosophin und ein Soziologe in die Kundschaft einer ‚Sexmesse‘ eingereiht. Ihr Ziel war, herauszufinden, was dort an Erkenntnissen über den gesellschaftlichen status quo der kommerziellen Erotik zu gewinnen sein könnte. Der nachfolgende Bericht ist zum einen ethnografischer Rundgang und zum anderen ein Dokument der Enttäuschung, besser: der Entzauberung geworden.

Die Erotik von Puppen und Bratwurst

Die Venus ist laut Selbstbeschreibung die größte internationale Erotikmesse weltweit. Sie findet seit 1997 (mit Unterbrechungen während der Corona-Pandemie) jedes Jahr in Berlin auf dem Messegelände unter dem Funkturm statt. Aber was wird hier eigentlich präsentiert? Erotik nicht – natürlich nicht. Grelles Licht und überfüllte Messehallen, laute Musik, Würstchenbuden als Catering-Essenz und omnipräsente Werbung für je einzigartige Online-Sex-Erlebnisse sind auch im 21. Jahrhundert nicht ihr Herzensort. Tatsächlich ist die Frage, welche Ressource auf dieser Messe verhandelt wird, gar nicht so leicht zu beantworten. Im Gegensatz zu üblichen Messethemen – Autos, Boote, Lebensmittel, Bücher usw. – ist die Venus widersprüchlicher, ja eigenwilliger. Was jedenfalls vor Ort verkauft wird, ist – neben den Eintrittskarten (gestaffelt nach ‚Leistungen‘, s.u.) – schnell evident: Vor allem Bier und Bratwurst, hin und wieder ein Nackensteak, eine Pizzastange von Ditsch oder eine Portion Fried Noodles. Die Messe ist, was man isst. Gewiss geht auch der ein oder andere Dildo über die Ladentheken-Attrappe der mehr oder weniger improvisierten Fachhändlerstände und bisweilen wird sicherlich auch mancher Harness erworben, vielleicht sogar eine der kostspieligen Sexpuppen, deren ‚Professionalisierungsgrad‘, d.h. deren ‚Lebensnähe‘ jedes Jahr anzusteigen scheint. Aber Kaufen und Verkaufen ist hier nicht der entscheidende Code.

Auf der Venus trifft richtiges Leben auf falsches, d.h. auf gespielte Rollen. Zahllose Akteure aus dem Sexbusiness stellen sich vor und dar. Phänomenologisch betrachtet, steht bei diesen Performer:innen der Körper als Gegenstand im Vordergrund; ein Körper, der sich anfassen, ablichten, messen und (potenziell) penetrieren lässt, wobei es hinsichtlich der sexuellen Durchdringung doch überwiegend bei der Andeutung der Möglichkeit bleibt. Der Leib als Unverfügbares, lebendig Wogendes, der für Maurice Merleau-Ponty „das Vehikel des Zur-Welt-seins“ ist (1966: 106), wird hier nicht adressiert.

Auf der Venus langweilen sich im Angesicht dieser fehlenden Involviertheit in die Welt sogar die Sexpuppen. Bei diesen nichtmenschlichen Körpern wird interessanterweise die Gegenständlichkeit des menschenähnlichen Artefakts nicht zelebriert, sondern kaschiert: „[L]ebensechte Sexpuppen der neuen Generation – mit Ganzkörper-Heizung, interaktiver Soundsteuerung und mit einer perfekten Beweglichkeit“,  so wirbt der Anbieter der RS-Dolls, der seine Puppen mit Adern, Hauthaptik und – bei der „ultra realen MILF Puppe Lidiya“ (die mit den angegebenen 67 Jahren allerdings, wenn überhaupt, wohl eher eine GILF-Puppe wäre) – sogar mit Falten, Altersflecken und Rissen im Bindegewebe ausstattet: Cellulite als Indikator für Realismus.

Mit den Sexpuppen will man nicht Objektophile als Zielgruppe erschließen, sondern vielmehr das Subjekt im Objekt hervorrufen (Spiegel 2025). Es gehe darum, „allen Menschen den Zugang zum Sex zu ermöglichen, die aus den unterschiedlichsten Gründen keine feste Partnerbeziehung aufbauen können oder wollen[1] – und das so ‚wirklich‘ wie möglich. Leiber sollen Körper sein, Körper sollen Leiber werden.[2] Dieser Vereinheitlichungsgedanke wird vom Publikum auf seine Weise quittiert: Begafft werden auf der Venus alle Puppen, die lebendigen und die artifiziellen.

Kommt man deshalb hierher? Grillware und die Ausstellung neuester Sexspielzeuge sind kaum der zentrale Grund dafür, warum die Tausenden, die hier über vier Tage in die Hallen strömen, regulär bis zu 65 Euro Eintritt pro Person zahlen – und sogar noch mehr, wenn sie als ‚VIP‘ besondere Privilegien genießen möchten. Sex als penetrative Interaktion gibt es jedenfalls nicht zu kaufen und kaum zu sehen, auch nicht inoffiziell. Das unterscheidet die organisatorische Gesamtstruktur der Messe von den Table Dance Bars und vergleichbaren Entertainment-Locations der Hauptstadt, die hier und da noch mit dunklen Ecken und klandestinen Geschäften locken, die also den Sex tatsächlich noch zum Laster machen, bei dem sich das Verbotene wenigstens hin und wieder mit dem Lustvollen mischt.

Wer dafür empfänglich ist, fängt bei Exkursionen in die entsprechenden Umschlagplätze einen Geruch auf wie aus einem anderen Jahrhundert. Gewiss: Auch der gekaufte Sex an Orten, die ihn offiziell nicht kennen, ist heute, anders als in (den Verklärungen?) der Weltliteratur, ein ziemliches nüchternes Geschäft – aber eben mit devianter und damit reizvoller Verpackung. Verrucht ist auf der Venus gar nichts. Es fehlen die zwielichtigen Zwischenzonen, in denen das Laster sich überhaupt aufhalten könnte, denn alles, was passiert, ist gut ausgeleuchtet, wird auf DIN-genormten Bühnen präsentiert, die Brandschutzregeln sind penibel eingehalten. Hier bricht sich niemand das Genick und erst recht nicht das Herz. Gute Laune ist die auf permanent geschaltete Grundemotion, und sie ist zugleich das Medium, über das sich verschiedene ‚Stars‘ den Besucherinnen und Besuchern zeigen. Die Fans bekannter Porno-Akteurinnen (und einiger weniger männlicher Branchengrößen; Flyer mit der Forderung, den Gender-Paygap für männliche Sexdarsteller zu schließen, liegen aus) dürfen hier nämlich auf Tuchfühlung gehen. Aber nicht zu sehr – die Blicke dürfen tun, was sie wollen, die Hände werden dirigiert. Und zwar von den Frauen, deren Körper sie bisweilen für ein Erinnerungsfoto berühren dürfen oder auch nicht.

Überall verteilt befinden sich kleine ‚Stände‘, die diese Stars (oder die dahinterstehenden Adult-Entertainment-Investoren) angemietet haben, um sich zu präsentieren. Neben sex steht prominent die body positivity, denn offiziell sind jegliche Geschlechter, Körperformen, Altersgruppen und legale Fetischofferten willkommen. Die wenigen Mehrgewichtigen und Transpersonen sind darin versiert, sich einzugliedern – sie sind der Pfeffer für die weithin servierte, blond-schlanke Mainstreamsuppe.

Porno und andere Präsentationsflächen

Das Publikum der zum Teil etablierten, meist aber eher dem ‚Nachwuchs‘ zugehörigen Rampenlichtpersonen ist seinen Erotik-Idolen längst nicht mehr in linearen Formaten verbunden (DVDs werden hier sogar als Werbemaßnahme verschenkt). Man begegnet sich üblicherweise online und damit potenziell ‚on demand‘, ja sogar ‚one-on-one‘, wenn gewünscht und bezahlbar. Vor Ort in Berlin ist nun aber alles anders: Man findet sich wechselseitig ‚in echt‘ vor, die Distanz ist aber dennoch größer, schließlich schauen andere zu. Die Ladies im Fokus werden bestaunt; sie sind, wie ihnen zugeraunt wird, ja tatsächlich größer, kleiner, jedenfalls stets schöner als auf dem Laptop. Bei der einsamen Betrachtung vor dem Bildschirm muss man(n) nicht keusch bleiben, auf dem Messegelände aber schon – eine ganz eigene Erfahrung, die den Beteiligten die Chance gibt, einander zu beweisen, dass es auch gesittet zugehen kann, wenn’s sein muss und sein soll. Die Stars kokettieren damit, indem sie flirten, mit Worten anfeuern, blankziehen, reizen, ohne dass sich bei den zahlenden Gästen sichtbar mehr regt als ein Lächeln.

Diese Präsentationsflächen fügen sich nicht nur in die Ordnungslogik der Offline-Begegnungsgelegenheit namens Venus; sie konstituieren sie. Handschriftliche Zettel der Stars, mit Klebestreifen befestigt, ergänzen die Stände auf beinahe schon rührende Weise um eine autobiografische Note. Sorgfältig in Druckbuchstaben mit schwarzem oder farbigem Buntstift auf Karteikarten oder Kopierpapier geschrieben, kommunizieren diese Informationszettel das jeweils Verkaufbare, also den Mehrwert, der zum ‚Kennenlernen‘ und zu den Verweisen auf diese oder jene Webseite noch hinzutritt: Kalender (30€), Handtuch (30€), „Tittenfoto“ mit Anfassen (10€ Euro), Glücksrad (10€), Dufttanga, 24h getragen (100€) usw. Auch verschwitzte Socken gibt es. Auf Nachfrage können sämtliche Kleidungsstücke ‚veredelt‘ erworben werden, eine Chiffre für die Benetzung mit Körperflüssigkeiten. Das aber geschieht, schon um die Halle nicht schmutzig zu machen, dann doch auf der Hinterbühne der Stars, zu der die Venus-Schaulustigen keinen Zutritt haben: zuhause, in Offenburg, Gelnhausen, Hannover oder Vilshofen.

Von kaum zu überschätzender Relevanz sind Fotografien, genauer: ist der Akt des Fotografierens. Die überwiegend im Internet aktiven, für den Messekontext ins ‚reale Leben‘ (oder das, was man dafür hält) hinabgestiegenen Darstellerinnen werden durch das dauerhafte Fotografiertwerden auf geradezu anachronistische Weise eben doch wieder zweidimensional. Die Medienentwicklung der Pornografie wird auf der Venus also umgekehrt: Vom digitalen Raum geht es zurück zur erregenden Bildersammlung. Aber jetzt ist der Endverbraucher zugleich Kameramann, Regisseur, mitabgebildeter Komparse – und Zeuge einer als ganz besonders empfundenen Begegnung.

Apropos Porno. Es war nachgerade revolutionär, als Susan Sontag in den 1960er Jahren nicht nur die literarische Qualität mancher pornografischen Literatur hervorhob, sondern die Sexualität der Pornografie „as something beyond good and evil, beyond love, beyond sanity“ verstanden wissen wollte (Sontag 1967: 230) – also nicht als Deformation einer ‚gesunden‘ Sexualität, sondern als Teil des Menschen, zumindest des zivilisierten, der zurück auf vermeintlich überwundene Zustände fällt: „Man, the sick animal, bears within him an appetite which can drive him mad.“ (Ebd.: 222) Dass Pornografie, oder zumindest ihre buchstäbliche Verkörperung durch diejenigen, die sie ansonsten auf Textseiten, Bildschirmen und Monitoren darstellen, bereits seit den 1990ern Jahren in Messeform öffentlich stattfindet, spricht für den Erfolg der Normalisierungstaktiken und, damit im ‚Spätkapitalismus‘ untrennbar verbunden, für den Siegeszug der Kommerzialisierung, die seither stattgefunden hat. Pornografie ist selbst Kultur geworden (Schuegraf/Tillmann 2012), mit allen Kompromissen, die in der Folge aufgekeimt sind. Die Illusion einer unbändigen ‚Triebkraft‘ Sex wird – wiewohl in der Sache widerlegt (Weeks 2002) – vorgeführt, als müsste mit quasi-anatomischer Tiefgründigkeit bewiesen werden, dass es den/diesen Sex gibt. Und diese Beweisführung generiert wenn nicht Erkenntnis, so doch Einnahmen.

Stau auf dem Berliner Ring

Morgens ab elf Fanfotos mit den Stars der diversen Szenen zu machen, ist, anders als die heimische und heimliche Rezeption der Medieninhalte, vergleichsweise außeralltäglich. Und doch herrscht eine Atmosphäre auf der Venus, als würde Unterhaltungselektronik angepriesen: Unaufgeregt schaut man, kommt näher, kommt mit dem ‚Produkt‘ in Berührung – dann wird das benachbarte Angebot betrachtet. Auch die Mehrzahl der Besucher unterscheidet sich kaum von einer Baumarkt-Filiale. Es sind sehr viel mehr Männer als Frauen, die den Obolus zu zahlen bereit sind. Keineswegs aber sind es überwiegend „alte Männer mit Halbglatze, die gekommen sind, um zu glotzen“, wie der Stern vor ein paar Jahren titelte (Stern 2016). Den Anschluss an eine junge und kaufkräftige Zielgruppe scheint die Venus prima facie geschafft zu haben: Viele der jungen männlichen Gäste sind etwa zwischen 20 und 30, dazwischen schlendern auch junge Pärchen und sogar kleine Gruppen von Frauen durch die Stände.

Für letztere bietet sich der Spaziergang über die drei Messenhallen (eine für Konsumartikel, eine als Bühne der Stars, eine ist dem ‚Spezialthema‘ BDSM gewidmet) mithin als Empowerment an. Manche der Gäste sind als solche auf den ersten Blick nämlich gar nicht zu erkennen, da sie in Strapse, Bondage oder sexy Kostüm kommen bzw. sich – in Ermangelung einer Umkleideoption – entsprechend in der Garderobe im Keller verwandeln. Dergestalt in die Optik des Messegeschehens eingebunden, wirken sie selbst wie Stars, werden folglich zu Fotomotiven und damit für eine Weile zu etwas, was sie vielleicht noch nicht sein wollen, aber eben, wie der Lauf im gewagten Outfit beweist, zumindest sein könnten, wenn sie nur wollten.

Die Masse der Männer ist dagegen beinahe dramatisch alltäglich gekleidet: Jeans und T-Shirt, bisweilen Jogginghose und Käppi. Herren in nackter Blöße (oder einem Outfit, das kaum den Namen verdient), sind die Ausnahme, welche sporadisch die Regel bestätigen. Sie haben die FAQ der messeeigenen Homepage offenbar gelesen: Dort steht, dass man gerne auch unbekleidet erscheinen dürfte. Wieso auch nicht, es ist die Venus.

Bei allen Stationen, bei denen etwas zu holen ist (neben den obligatorischen Fotos auch Flyer, Autogrammkarten, Merchandise), wird eine ordentliche Schlange gebildet. Wer nicht gerade wartet und dabei aufpasst, dass keiner sich vordrängelt, schiebt sich stattdessen unauffällig, ja sogar, so wirkt es, mäßig interessiert, manchmal regelrecht gelangweilt, durch das Gedränge und schaut den diversen Showacts zu, die auf verschiedenen Bühnen aufgeführt werden. Etwa das Anal Fisting einer Domina aus dem Rheinländischen, die, als ihr Gegenüber noch nicht erschienen war (Stau auf dem Berliner Ring!) von ihrer Tätigkeit erzählte, als ginge es um das Verlegen von Parkett. Es wird also durchaus penetriert, aber eben ‚anders‘ – durch die Frau in den Mann hinein, und das meint zweierlei: Es ist plakativ kinky, aber auch auf Toleranz und Horizonterweiterung angelegt. Es ist nicht trivial im Modus des heteronormativen Rein-raus.

Außerdem auf dem Programm: Eine erotische Hypnose, die denen, die sich ‚freiwillig melden‘, ihren Willen raubt, aber nur ein bisschen, denn die (geschauspielte) Ekstase ist zwar berauschend, aber Sicherheit geht vor. Eine andere Performance rahmt das lustvolle Potenzial des Kitzelns als gleichsam zwischen Selbsterfüllung und Außensteuerung oszillierendes Körperspiel ein. Ein lustvoll-versautes Pärchen im mittleren Alter spielt, sympathisch unbeholfen, ein wenig am drapierten Andreaskreuz miteinander. Im Petplay geben ‚Hünd:innen‘ nebst Herrchen bzw. Frauchen Aufschluss über die artgerechte Haltung im Zeichen des Kink. Eine Blondine im Lederdress pinkelt einem ‚Sklaven‘ vor staunenden Publikumsaugen zielgenau in den Mund. Nichts von all dem scheint das Publikum zu irritieren.

Häufig werden Stripeinlagen von den beschriebenen Sex-Künstlerinnen zum Besten gegeben, die beim Ausziehen manchmal nicht Halt machen und mit ‚Toys‘ in einige ihrer Körperöffnungen coram publicum eindringen, choreografisch halbwegs abgestimmt auf die monoton dröhnende Hintergrundmusik. Jene Spielzeuge wiederum gehören zum Produktarsenal in der Verkaufshalle, wie aber auch manches zunächst einmal  Unerotische wie Schwerter, Duftkerzen und Tassen – letztere immerhin graviert mit kopulierenden Skeletten. Und apropos, auch mancher ‚Trash-Promi‘ und manche ‚Influencerin‘ mischen sich unter’s Volk und genießen es, wenn jemand sie erkennt und ihnen, trotz ihrer Vollbekleidung, auch ein wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt.

Ansonsten kann noch die Physiognomie des langjährigen Venus-Aushängeschildes, des Yellow Press-Sternchens Micaela Schäfer befingert werden; dafür steht eine ihr nachempfundene, jedoch auffällig kleinere Puppe bereit. Weder das danebenstehende Original noch ihr künstliches Imitat lassen sich etwas anmerken, als einige Mutige nun doch ihre Finger einsetzen. Das stoische Übergehen solcher Ersatzhandlungen dürfte in dem einen Fall der Professionalität, in anderem wohl eher der Leblosigkeit geschuldet sein. Es überrascht allerdings, dass auch diejenigen, die auf Puppen-Tuchfühlung gehen, dies denkbar unaufgeregt vollziehen. Die Venus ist kein Hort des pubertären Grinsens aufgrund erfolgreich umgesetzter Grenzüberschreitung – im Gegenteil. Es gibt keine Geilheit, keine Erregung, keine Aufdringlichkeit ‚in your face‘. Man(n) ist vor allem manierlich.

Vielleicht kommt hier eine spezifische Form des ‚Gentleman-Images‘ zur Entfaltung: Wenn schon alles so dreckig und in dialektischer Verbundenheit zugleich klinisch sauber ist, will man selbst nicht für den Schmuddel sorgen. ‚Respektvoller Umgang‘ heißt das in politisch korrekter Übersetzung. Manchmal wird gelacht oder gestaunt, in der Interaktion auch ständig freundlich gelächelt, aber meistens wird so getan, als wäre das alles ganz normal und somit gar nicht so spektakulär. Gewiss, allenthalben wird fotografiert, die mit großem Abstand eifrigste Tätigkeit auf der Messe. Aber gerade das Foto-Objektiv schafft Distanz, dahinter verschwindet das eigene Gesicht, und man muss nicht, wie Georg Simmel einmal schrieb (Simmel 1999: 724f.), sein Innerstes durch persönliche Blicke offenbaren; die Kamera schirmt ab.

Selfies und andere Chimären

Vielleicht gibt es auf der Venus gar nichts Spektakuläres zu finden. Reste der transgressiven, verstörenden Kraft der pornografischen Sexualität, von der Susan Sontag noch so fasziniert war, tauchen hier allenfalls spurenelementehaft im BDSM-Bereich auf. Dieser Winkel ist, neben einigen spezifischen Klamottenständen, auch beinahe der einzige Ort der Messe, an dem man Outfits, Kostüme oder aufsehenerregende Dessous bewundern kann, die nicht an Leibern hängen, sondern als ‚Ding an sich‘ aufgestellt werden. Außerdem treten hier Performer:innen in Erscheinung, die dem Spiel des möglichst vollständigen Entblößens ein wenig Subtilität verleihen, indem sie sich in szenetypische, d.h. nicht-nackte Einhüllung begeben. Vielleicht funktioniert das, weil für die hier annoncierte ‚dunkle Erotik‘ (die in Wahrheit so hell ausgestrahlt und reinlich präsentiert wird wie alles andere) andere Regeln zu gelten scheinen. Dies wiederum klappt, weil sie per se als ‚besonders‘ gilt.

Michel Foucault schrieb einmal über Heterotopien, dass dies Orte mit origineller Funktionsweise seien, die andere Räume bzw. Raumfunktionen eigenwillig verbinden und zeitliche Brüche aufweisen. „Öffnung und Abschließung“ können hier zusammengebracht werden. In diesem Zusammenhang vermutete Foucault, dass Orte des opulenten Sex wie beispielsweise die „Freudenhäuser, die es heute nicht mehr gibt“, eine Illusionsfläche darstellten (und als Utopie immer noch darstellen), in der eine andere Wirklichkeit dargeboten wird, die letztlich die „realen Orte […] als noch größere Illusion entlarvt“. Das ist Foucaults finales Kriterium der letztendlich „kompensatorische[n]“ Heterotopie: der Unordnung den Anschein einer Ordnung zu verleihen (Foucault 2005: 941). Es wirkt tatsächlich so, als wäre auf der Venus das Kunststück eines Kompensationsraums gelungen. Verrechtlicht, verregelt und kommerziell in die Messeontologie eingehegt, zeigt sich das Pornografische hier als vollkommen, sorgfältig und wohlgeordnet – also vielleicht wirklich komplementär dazu, wie es einem im Realraum ungeordnet, mißraten und wirr entgegentritt.

Was wird auf der Venus verhandelt? Warum kommt man hier her? Eine naheliegende Antwort wäre: Nähe. Körperliche Nähe zu einem bewunderten, aber wohl auch instrumentalisierten Personenkreis, also: zu Subjekten der Lust, die sonst nur medial vermittelt in Erscheinung treten und nun leibhaftig vor einem stehen. Aber es geht nicht darum, dem ‚Menschen‘ zu begegnen. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Annäherung ein Image bestätigt. Gleichwohl, die Technik bleibt, mit Günther Anders (1987: 9), das „Subjekt in der Geschichte“ und der bestimmende Faktor in der Interaktion zwischen Darstellern und Besuchern. „Selfies!“ bellt ein aus Italien stammendes Starlet. Nackt in weißen High Heels steht sie da und wirft ein Bein nach oben, in die Arme des nächsten Fotografierfreudigen. Sie weiß souverän, was von ihr erwartet wird, und erfüllt das Pensum im Übermaß – sie hegt, wie Niklas Luhmann (2017: 131) sagen würde, „Erwartungserwartungen“ und bugsiert dadurch manchen Besucher in die Überforderung hinein.

Er soll sie halten, sie schwingt sich in seinen Arm, das hochgestreckte Bein liegt auf seinen Händen, gynäkologische Einblicke inklusive, jemand anders soll knipsen, beide erstarren kurz für das Bild. Klack, der Nächste, eine kleine Schlange hat sich gebildet, die Darstellerin macht Tempo: „Selfies! Selfies! Selfies!“ Und wieder: Bein hoch, Blick zur Kamera, ein möglichst verruchtes Lächeln, Freeze, Repeat. Das Selfie ist hier kein Alibi, um mit der Darstellerin in Kontakt zu treten, es ist der Grund. Die Kamera ist die Adressatin der Blicke und zum Lächeln verzogenen Münder, man wendet sich nicht einander zu, man wendet sich voneinander ab – und nur ihr zu, der Kamera. Die Italienerin hat diesen Ablauf so rigoros verinnerlicht, dass jedes Stocken, jede kleine Verzögerung, jedes nicht ganz so reibungslose Shooting sie sichtlich nervt.

Aber von denen, die sich mit der nackten Grazie verewigen, kann man ein äquivalentes Maß an Professionalität nicht erwarten. Die Nähe, die sie gewährt, wirkt intim, das Foto beweist diese Intimität sogar. Doch natürlich geht es Sekunden nach dem Schnappschuss nahtlos weiter, ein anderer kommt ihr nahe, und irgendwann – das ist der Zielpunkt – wird sie, nach persönlicher Einschätzung, genügend gearbeitet, sich selbst genügend beworben haben, um Feierabend zu machen. Ihr ist die Routine anzusehen, den Selfiejägern die Verunsicherung.  Rührt die Verunsicherung daher, dass sie zwar die Erwartungen mehr als erfüllt (und daher doch wieder enttäuscht), aber die Besucher merken, dass sie ihre Erwartungen nicht erfüllen können?

Auch bei der großen Show auf der zentralen Bühne, aufgrund ihrer imposanten Ausmaße theoretisch das Herzstück der Messe, geht der Blick der dort auftretenden Darstellerinnen zur eigentlichen Protagonistin, zur Kamera. Aus Nähe wird wiederum Ferne. Mit dem Kamera-Objektiv wird, wie es inflationär heißt, ‚geflirtet‘; jedenfalls nicht mit den Zuschauern. Es ist gar nicht der Fall, dass hier jeder permanent filmen würde; gerade während der Shows sind sogar erstaunlich wenige Handys u. dgl. in der Luft, und überhaupt ist weniger los, als Platz vorhanden wäre. Vielleicht ist das hier zu Sehende schon oft genug, in unzähligen Varianten, eingefangen worden und die ewige Wiederkehr des Immergleichen reizt nicht mehr zur bildhaften Festschreibung.

Dennoch: So, wie die Bühnenstars für die Kamera performen, auch und gerade die der Veranstalter, die ihr Logo auf im Hintergrund installierte Riesenleinwände projizieren, sind auch die Besucher eigentlich nur dann wirklich gebannt, wenn sie selbst filmen – wenn sie also konzentriert sind, versuchen, ein gutes Bild zu erhaschen, mit mehr oder weniger technischer Raffinesse, jedenfalls fokussiert auf den Akt der Bildwerdung des Fleisches. Die Begegnung zwischen Darsteller und Besucher ist eine Bildschirmbeziehung. Die Usancen der einseitigen Internet-Kommunikation (er zahlt, sie zeigt), wiederholen sich vor der großen Bühne; business as usual. In ihrer wechselseitigen Zuwendung zur Kamera sind beide Seiten füreinander ko-präsent, doch ohne Kamera fehlt etwas, man weiß nichts anzufangen mit sich und miteinander; die Technik hinterlässt eine Lücke, in der sich „die Angst […] zum Rendezvous mit der Langeweile trifft“ (Fauser 1994: 10).

Stream Deinen Kink

„Stream Deinen Kink“ steht auf einer Plakatwand. Auf dem Toilettenspiegel (dem in der Allgender-Toilette, die, etwas versteckt, die üblichen gendergetrennten WC-Hinterbühnen ergänzt) klebt ein Sticker:

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Die frohe Botschaft lautet, dass es noch mehr gibt als die Venus – ein Surplus, das erwirtschaftet werden kann, wenn frau vor die Kamera tritt, denn erotische Bilddienstleistungen sind höchstens dann lukrativ (und selbst dann nur selten), wenn Männerblicke auf Frauenkörper stoßen. Nun mag nicht jeder Mensch ein Künstler sein, aber jede Frau kann Content Creator werden. Noch einer dieser seltsamen Momente des Empowerments, die die Venus bei aller aufdringlichen Heteronormativität eben doch auch prägen: Die Macht, der Kundschaft das Geld aus der Tasche zu ziehen, haben jene Performerinnen, die sich nach klassischer Diktion verwundbar machen, also: sich nackt zeigen, schamlos agieren und sich in diesem Tun verewigen lassen. Aber sie sind nicht mehr die geheimnisvoll verrufenen Huren, gegen die man die Heiligkeit der häuslichen Partnerin abgrenzt. Vielmehr sind die Darstellerinnen es, die ‚als Mensch‘ umschwärmt werden und sich als solcher auch präsentieren. Um die kurzen Momente des Aufeinandertreffens mit so etwas wie außersexuellem Sinn zu garnieren (gerade weil man eben ‚auch Mensch ist‘), wird erzählt vom ehemaligen Job im Vertrieb und von den Katzen, um die sich jetzt gerade zuhause in Oer-Erkenschwick die Nachbarn kümmern. Wer, als Gast, darauf mit eigenen Nähkästchenberichten kontert, erhält bestenfalls Kleinstmengen an Small-Talk-Investment zurück, denn er missversteht die Hierarchie: Was der Star zu sagen und zu zeigen hat, ist interessant und der kurzen Rede wert; das Publikum hingegen rezipiert nur. Erreichbar werden die Schönheiten durch dieses Geplänkel ohnehin nicht, denn auch die Erzählungen des Privaten sind Teil der Inszenierung des öffentlichen Seins.[3] Je mehr ‚Authentizität‘ ausgeflaggt wird, desto weniger glaubhaft ist sie.

Obszönitäten werden, berichten die Dienstleisterinnen auf unsere neugierige Nachfrage, nicht toleriert, sie kommen aber praktisch kaum vor. Alle sind freundlich, manche verlegen, andere enttäuscht, pikiert oder überfordert, aber man hat sich im Zaum. Die Venus-Ladies sind in erster Linie eben noch während ihrer Performances, noch im Moment der notgeilsten Objektivierung Menschen. Und dies, das Aufbrechen der Unnahbarkeit und Verkünstelung zur bloßen Rollenträgerin, gibt den Frauen ihre eigentliche Macht. Sei vor der Kamera zwar nackt, spiel an dir rum, aber ‚bleib du selbst‘ – das zieht. Wer das zuhause vom Schlafzimmer aus vor der Kamera beherrscht, kann nächstes Jahr mit eigenem Stand zur Venus, Autogrammkarten schreiben.

Vielleicht ist die Ebene der digitalen Verwertbarkeit der eigentliche Ort, an dem sich Darsteller und Besucher treffen, wenn auch die Motivlagen unterschiedlich sind. Sie müssen es sein, damit hier überhaupt etwas aufeinandertreffen kann, was sonst in relativem Abstand zueinander nur nebeneinander her existiert. Als Gegenstand der Begierde lässt sich bei Darstellerinnen und Publikum jedenfalls ein identischer Bezugspunkt herausarbeiten – Content. Allerdings ist das, was die Besucher hier an Bildern und Videos produzieren, vermutlich nur selten kommerzialisierbar; aber zumindest auf der Besucherseite scheint Content nicht Mittel zum Zweck zu sein, sondern seinen Zweck – just wie die Lust – in sich selbst zu finden. Die Lust bleibt auf der Venus virtuell, sie entzieht sich, ist aufgeschoben. Vielleicht lässt sie sich blicken, wenn die Venus vorüber ist, etwa beim Betrachten der Bilder zu Hause oder wenn die Klickzahlen der Fotos, der Streams, der Profile hochgehen. Doch eigentlich ist die Lust deplatziert an einem Ort, der dem Sex so viele und doch zugleich so wenige Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Das Heterotopische der Venus besteht letztlich darin, dass hinter der Maskerade der ‚heißen und geilen Mega-Show‘ nichts anderes als eine nüchtern-vernünftige Gewinnerzielungsabsicht steht (was auch sonst?), die nicht im Geringsten überdeckt wird. Dafür schämt man sich nicht. Und so entpuppt sich der Sex der Venus rasch als ein nicht-vorhandenes Vorhandenes.

Draußen, auf dem Weg zum Bahnhof, nach Hause, irgendwo anders hin, braucht es ein paar Momente der Rejustierung. Man muss sich wieder daran gewöhnen, nicht alles und jeden fotografieren zu dürfen und muss mit der seltsamen Tatsache klarkommen, dass die Frauen in den Straßen alle plötzlich züchtig angezogen sind. Man verlässt, sozialkonstruktivistisch gesprochen, eine Subsinnwelt, in der die Dinge auf andere Weise Sinn ergeben, als in der banalen Alltagswelt. Das ist, am Ende der vier Tage, wohl das Versprechen, das die Venus am ehrlichsten einhält: Man taucht ein in eine Sphäre anderer Sinnbestimmungen – die im Ergebnis freilich kaum über die Wagnisse und Abgründe eines Media-Markt-Besuchs hinausgehen. Für ein paar Stunden jedenfalls ist der dosierte Hedonismus für die Neugierigen und die Profis, für die Schüchternen und die Abgewichsten eine Methode, mal etwas zu erleben, das einen nicht damit überfordert, wirklich anders zu sein.

 

[1]  Alle puppenbezogenen Zitate aus RS-Dolls 2025.

[2]  Am fernen Horizont zeichnet sich eine Vision ab für eine künftige Venus, vielleicht im Jahr 2525: Wer weiß, ob man sich in diesem chiastischen Geflecht aus Möglichkeiten und Begehrlichkeiten mithilfe der Biotechnologie auf der Berliner Messe (oder im Cyberspace) nicht irgendwann einmal wirklich im Fleisch trifftim chair, diesem synkretistischen Begriff, den Merleau-Ponty (vgl. 2004) in seinem Spätwerk umkreist und der weder Körperding noch erlebter Leib sein will? Dann wäre es auch gar nicht mehr so wichtig, sondern vielleicht retrospektiv sogar diskriminierend, Menschen und Nicht-Menschen kategorial voneinander zu unterscheiden.

[3]  An manchen Ständen sind sogar Moderatoren eingesetzt, die die Kommunikationsbarriere zwischen Stars und annäherungsfreudigen Messegästen professionell überbrücken sollen. Es sind dies bisweilen (ehemalige) Porno-Stars und andere Branchengrößen, also ‚bekannte Gesichter‘, aber seltsamerweise fast ausschließlich Männer. Sie wissen genau, dass sie sich in ihrer Rolle als Hofnarren der Venus Frechheiten und Flapsigkeit erlauben dürfen, schließlich sorgen sie dafür, dass der Ablauf mit Witz, Humor und Anzüglichkeit, vor allem aber reibungslos von statten geht.

Literatur

Anders, Günther (1987): Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München: Beck.

Fauser, Jörg (1994): Tanger. In: Jörg Fauser-Edition, Bd. 7: Essays, Reportagen, Kolumnen II, hg. von Carl Weissner. Hamburg: Rogner & Bernhard, S. 9-12.

Foucault, Michel (2005): Von anderen Räumen. In: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, hg. von Daniel Defert/François Ewald. Berlin: Suhrkamp, S. 931-942.

Luhmann, Niklas (2017): Systemtheorie der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.

Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter.

Merleau-Ponty, Maurice (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Fink.

RS-Dolls (2025): https://www.rs-dolls.com/venus-berlin-sexpuppen/ [Zugriff: 29. Juli 2025].

Schuegraf, Martina/Tillmann, Angela (Hg.) (2012): Pornografisierung von Gesellschaft. Perspektiven aus Theorie, Empirie und Praxis. Konstanz: UVK.

Simmel, Georg (1999): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sontag, Susan (1967): The Pornographic Imagination. In: A Susan Sontag Reader. New York: Farrar/Straus/Giroux, S. 205-233.

Spiegel, Mirco (2025): Die Erweckung von Monstern. Oder: Wie Sexpuppen lebendig werden. In: Thorsten Benkel/Robert Gugutzer (Hg.): Extreme Körper. Eine körpersoziologische Zeitdiagnose, Bielefeld: Transcript, S. 285-313.

Stern (2016): „Sie sind gekommen, um zu glotzen. Die meisten von ihnen sind alte Herren mit Halbglatze.“ In: Stern, 14. Oktober. https://www.stern.de/lifestyle/-venus–messe–diese-herren-sind-gekommen–um-zu-glotzen-7102402.html [Zugriff: 29. Juli 2025].

Weeks, Jeffrey (2002): Sexuality and History Revisited. In: Phillips, Kim M./Reay, Barry (Hg.): Sexualities in History. New York/Milton Park: Routledge, S. 26-41.

 

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