Distanz und Nähe gegen Geld
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 71-75]
1965 sitzt der spätere amerikanische Bürgerrechtler Eldridge Cleaver im Männergefängnis. Weil er unverheiratet ist, bleibt ihm jeglicher Zugang zu potenziellen sexuellen Partnerinnen versperrt. Ein Pin-up-Girl, das er sich an die Wand heftet, wird zum Objekt seiner Begierde, zu seiner Braut: »I would fall in love with her and lavish my affections upon her«, schreibt Cleaver in seiner 1969 veröffentlichten Aufsatzsammlung »Soul on Ice«.
Nicht ganz unähnlich muss es vielen während des ersten Lockdowns 2020 gegangen sein. Die Möglichkeiten, Menschen für sexuellen Austausch außerhalb der etablierten Zweierbeziehung zu treffen, waren gering, weil die meisten Leute ihre Zeit alleine zu Hause verbringen mussten. Wenig überraschend schnellten die Besucherzahlen gängiger Porno-Seiten in die Höhe. Davon profitierte auch ein neuer Player, der sich in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit katapultierte: die Content-Sharing-Plattform OnlyFans.
Das Business-Modell der Seite ist schnell erklärt: Auf OnlyFans kann jeder und jede Inhalte posten. Wer diese Inhalte sehen will, muss ein Abo über durchschnittlich 15 Dollar abschließen. 80 % der Einnahmen verbleiben bei den Content-Erstellerinnen, den Rest sackt die Plattform selbst ein. Anders als bei Instagram oder Twitter können Inhalte explizit sein oder auch nicht (geschätzte 80 % sind es). Extra-Einkommen werden über die sogenannten Tips (also Trinkgelder) erzielt. Diese liberale Posting-Politik zog – ebenfalls wenig überraschend – nicht nur neue User, sondern auch viele professionelle Sex-Arbeiterinnen an, deren Arbeitsbedingungen sich durch die Corona-Maßnahmen drastisch verändert haben. Und auch jene, die durch andere, nicht explizite Arbeitsausfälle und ein Surplus an Zeit überhaupt erst auf die Idee kamen, in die Sexarbeit einzusteigen.
Die Synthese aus Sharing-Plattform-Infrastruktur und expliziten Inhalten verhalf OnlyFans im Frühjahr 2020 schnell zu ungeahnter Medienpräsenz. Die Plattform wurde mit allen möglichen Superlativen und Zukunftsvisionen überfrachtet. Sie habe Sexarbeit für immer verändert, titelte die »New York Times« bereits am 9.2.2019, die Plattform diversifiziere Pornografie und schaffe endlich faire Produktionsbedingungen für das sonst oftmals prekäre Geschäft. Spätestens seit Ex-Disney-Star Bella Thorne sich einen Account zulegte (angeblich, um für eine Filmrolle zu recherchieren), wurde OnlyFans gar bescheinigt, Pornografie zu normalisieren.
Trotz der ständigen Anrufung ist vielen aber bis heute unklar, was genau der übersättigten Porno-Landschaft hier hinzuzugefügt wurde. Denn anders als bei den gängigen Tube-Seiten oder Social-Media-Plattformen kostet jeder Blick auf einen Account Geld. Zahlungsunwillige können sich deshalb nur aus zweiter Hand ein Bild von den Inhalten hinter der Paywall machen. Zum Beispiel über das Subgenre »I signed up to X-account so you don’t have to« auf YouTube, wo selbsternannte investigative Bloggerinnen den Blick auf ausgewählte Inhalte freigeben. Die sind für das so betitelte »Instagram for Porn« oft erstaunlich zahm und erinnern mit ihrer Mischung aus Behind-the-Scenes-Szenarien, digitalen Wohnungstouren und ästhetisch aufgepeppten situativen Posts wirklich eher an Instagram als an Porno. Kostenlos einsehbare Bilder von sogenannten Models unterscheiden sich kaum von Instagram-Influencern oder Eldridge Cleavers Pin-up-Girl.
Man stelle sich nun aber vor, die Menschen, die wir bewundern und begehren, die wir uns an Wände heften und denen wir auf Instagram, YouTube oder Twitter folgen, würden uns exklusive Privatnachrichten schreiben, uns an ihrem Alltag teilnehmen lassen, wichtige Ereignisse in unserem Leben mitverfolgen und uns Sex-Clips schicken, in denen sie kurz vor dem Orgasmus unseren Namen rufen. Und genau das bietet OnlyFans. Was die Plattform zwar nicht erfunden hat, aber nahtlos miteinander verknüpft, ist der Wunsch nach intimen Verhältnissen mit bestimmten Online-Persönlichkeiten und explizit sexuellen Projektionsflächen.
Natürlich benutzen auch Pornodarstellerinnen und Softcore-Models Twitter, Instagram und Co., um auf Sex basierende Followerschaften zu bilden. Die Kommunikation mit den Fans ist aber, bis auf Webcamming und Alt-Porn-Seiten, die von einzelnen Personen oder kleineren Communities betrieben werden, vorrangig eine Werbemaßnahme für das, was eigentlich verkauft werden soll, nämlich Porno-Clips oder Nacktbilder. Bei OnlyFans hingegen ist die persönliche Adressierung eines User-Gegenübers das Hauptprodukt: Sexy Models sprechen ihre Abonnenten direkt an und lernen die Vorlieben ihrer Fans gerade so gut kennen, dass Extrazuwendungen wie Sexting wenn nicht gar ins Schwarze, doch zumindest nicht ganz daneben treffen.
Wenn es Usern so vorkommt, als interessiere sich das Objekt ihrer Begierde für sie persönlich, wird das im Fachjargon als parasoziale Beziehung bezeichnet. 1956 von Donald Horton und R. Richard Wohl in ihrem Aufsatz »Intimacy at a Distance« entwickelt, beschreibt die Kategorie ein bestimmtes Verhältnis von Fernsehzuschauern und Medienpersonen. Es entsteht, wenn sich Letztere in einer Weise an ihr Publikum richten, die Einzelnen das Gefühl gibt, direkt angesprochen zu werden, obwohl er oder sie nur als Teil einer Gruppe adressiert wird. Horton und Wohl hatten dabei noch eine klassische, durch Welten getrennte, Star-Fan Konstellation vor Augen. Auf der einen Seite Bewunderer mit laufendem Kopfkino, auf der anderen Seite unerreichbare berühmte Persönlichkeiten.
Soziale Medien haben die Grenzen zwischen Fan und Medienpersönlichkeit verschoben. Gewisse Berühmtheitsgrade können heute in Eigenregie generiert werden. Aspirative Blogger, Influencer etc. sind dann besonders erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, ihre Follower in parasoziale Beziehungen zu verstricken. OnlyFans ergänzt hier aber noch ein weiteres wichtiges Detail: die Aussicht auf explizite Inhalte von Mainstream-Künstlerinnen und -Berühmtheiten.
Als sich Cardi B. und Bella Thorne einen Account auf der Plattform zulegten, entstanden sofort gewisse Hoffnungen. Würden sie mit den letzten Beschränkungen exhibitionistischer Selbstvermarktung brechen? Würde also einer der Stars nackt oder beim Sex zu sehen sein? Cardi B. beugte Enttäuschungen auf User-Seite vor, indem sie in einem Tweet klarstellte: »Also any rumors floating around. NO I WONT BE SHOWING P–SY, T—IES AND A—.« Bella Thorne hingegen verhalf allein die Tatsache, dass explizite Bilder, aufgrund fehlender Zensur derselben, theoretisch möglich wären, innerhalb von 24 Stunden zu einer geschätzten Million Dollar. Einfach nur, weil sie die Frage erstmal offenließ.
Der aufmerksamkeitsökonomische Trick von OnlyFans ist, sich weniger schmuddelig zu geben, als es ist, und gleichzeitig unausgesprochen zu versprechen, dass jeder Inhalt pornografisch sein könne. Ganz so als hinge der Wille zum Sex vor der Kamera nur von der Infrastruktur der medialen Umgebung ab und nicht von gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber pornografischen Inhalten und deren Produzentinnen. Dass Ersteres nicht der Fall ist, zeigte sich spätestens mit der Ankündigung der OnlyFans-Betreiber vom 19.8.2021, in der es hieß, man sei aufgrund des Drucks großer Bezahlsysteme gezwungen, zukünftig explizites Material von der Plattform zu verbannen. Weniger als eine Woche später wurde dann eine 180-Grad-Wendung vollzogen und der Status quo wieder hergestellt. Trotzdem haben sich damit Hoffnungen auf die Normalisierung von Sexarbeit und die Goldgräberstimmung des letzten Jahres bereits wieder als bloße Illusionen herausgestellt. Wie so viele andere Firmen verfolgt auch OnlyFans die Strategie, so lange auf die finanzielle und aufmerksamkeitsökonomische Schlagkraft von Sexarbeiterinnen zu setzen, bis der Schritt in den Mainstream in greifbare Nähe rückt.
Ob OnlyFansʼ Businessmodell ohne explizite Inhalte tragbar ist, ist mehr als fraglich. Nicht nur, weil es schon genug Kochshows und Fitnessanweisungen auf Youtube gibt, sondern vor allem, weil OnlyFans-Models sich von denen auf gängigen Pornoseiten oft tatsächlich unterscheiden; sie bieten darum zwar einen Mehrwert, aber einen, der ohne sexuellen Zusammenhang wiederum nicht ungewöhnlich wäre. In Interviews für Zeitungen, Magazine und Dokumentarfilme beschreiben erfolgreiche Account-Inhaberinnen unisono, dass es bei ihrem sexuellen Warenwert um einen persönlichen Touch und die intensive Kommunikation mit ihren Abonnenten gehe. »I know most people come to see my boobs, but they stick around for the conversation«, fasst die Online-Sexworkerin Bea Dux ihr Erfolgsrezept im Podcast »The problem with OnlyFans’ mainstream dream« vom 16.9.2021 für den »Guardian« zusammen.
Der Intimitätsfaktor bei diesen Konversationen ist hoch. Models suggerieren betonte Offenheit, wenn es beispielsweise um ihren mentalen oder physischen Zustand geht: »Feeling myself for sure in this video, 3rd day of my fast and I’m very happy with how my body is responding!«, postet UberDAD beispielsweise, oder teasert ein potenziell persönliches Gespräch mit ihm an: »So this last month was quite challenging for me…«. Aber auch das einfache Teilen von Alltagsroutinen bringt Hits. Taylor Daley beschreibt in dem ABC-Dokumentarfilm von 2021 »OnlyFans: Selling Sexy« etwas verwundert, wie sehr manche seiner männlichen Fans es lieben, ihm beim Zähneputzen zuzusehen. Die Bereitschaft, online in persönlichen oder gar intimen Kontakt zu treten und dafür Geld zu bezahlen, sagt dabei wahrscheinlich weniger über OnlyFans aus als über ein bei vielen offensichtlich unbefriedigtes Bedürfnis, nämlich dem nach menschlicher Nähe.
Das hat auch OnlyFans-Veteranin und Topverdienerin Dannii Harwood früh erkannt. Sie beschreibt ihren Softcore-Service als Gratwanderung zwischen Sex- und Sozialarbeit: »You can get porn for free. Guys don’t want to pay for that. They want the opportunity to get to know somebody they’ve seen in a magazine or on social media. I’m like their online girlfriend«, wird sie in dem »New York Times«-Artikel »How OnlyFans changed Sexwork forever« vom 9.2.2019 zitiert. Harwood arbeitet sich in die Psyche ihrer Fans hinein, merkt sich Gewohnheiten, wichtige Ereignisse in deren Leben und, natürlich, ihre sexuellen Vorlieben. Auch Kreativität spiele eine wichtige Rolle, so führt Harwood laut »New York Times« immer neue »themed days like Mistress Mondays and Dare Dannii Tuesdays« ein oder lässt Fans darüber abstimmen, ob sie dem Pizzalieferanten nackt die Tür öffnen oder doch lieber in Unterwäsche mit dem Auto durch die Stadt fahren soll.
Wenn das Beziehungs-Kopfkino gut anläuft, kommt auch die Zahlungswilligkeit in Gang. Und dabei scheint es wenig Unterschied zu machen, ob jemand Softcore- oder Hardcore-Inhalte anbietet. Die Pornodarstellerin und MILF Sylvia Saige, die sich auf maßgeschneiderte Porno-Clips und Fotos spezialisiert hat, verkauft ihre kostbare Zeit zusätzlich durch ebenso maßgeschneidertes Sexting und dem »Boyfriend for the Week«-Feature. Ihre temporären Boyfriends erhalten eine Woche lang extra Zuwendungen, mehr Nachrichten und je nach Tageszeit Bilder von Siage, wie sie sich, scheinbar gerade aufgewacht, in Unterwäsche auf dem Bett räkelt oder sich zum Ausgehen in den Club fertig macht.
Damit die monetären Transaktionen dem Gefühl von Intimität nicht in die Quere kommen, sorgt OnlyFans dafür, dass Fans nicht ständig daran erinnert werden, dass sie für sexuelle Zuwendungen Geld ausgeben müssen. Das Webdesign ist vertrauenserweckend unpornografisch. Das Bezahlsystem ist verlässlich und läuft kaum spürbar im Hintergrund ab. Abos verlängern sich automatisch, wenn erwünscht. Auch die Tip-Transaktion ist so subtil, dass sie einem kaum auffällt. Einmal eingegeben, werden Kreditkartendaten abgerufen, ohne dass man sich irgendwo neu einloggen muss.
Das Abo, das als erste Zugangsschranke überwunden (sprich: abgeschlossen) werden muss, verschafft einem allerdings nur sehr begrenzten Zugang zu Inhalten. Für viele Bilder und Clips müssen extra Tips (bis maximal 100 Dollar) gezahlt werden, sodass manch ein Account-Besuch ähnlich unbefriedigend ausfällt wie ein Stadtbummel, bei dem man feststellt, dass 60 % der Schaufenster leer oder blickdicht verhangen sind. Damit man den Blick trotzdem nicht abwendet, trudeln auf der Seite ständig Textnachrichten mit Versprechen auf neue Inhalte ein. Katrina Jade z.B. verschickt gerne Status-Updates, ob sie gerade erreichbar ist, etwa: »I’m online, send me a tip to play«, oder Abstimmungsaufforderungen wie »I just masturbated by riding my own hand and now I’m ready to go again. What should I jerk off with next? $5 for vibrator $10 for dildo.« Das lukrativste Geschäft des »Instagram for Porn« ist trotz aller gegenteiligen Behauptungen und gerne vorgezeigten Belege aber nicht die Pornografie, sondern die Monetarisierung von Online-Girl- bzw. Boyfriend-Experiences.