Noch mehr Illustrierte
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 52-56]
Mit seinem »Grundgesetz als Magazin« bringt Journalist Oliver Wurm 2018 die »Verfassung auf Hochglanz« (»FAZ«). Man könnte ihn, u.a. dank dieses Projekts, in dem er ganz ohne großes Verlagshaus im Rücken die Verfassung hübsch zum Schmökern inszeniert, auch als medialen Experimentalisten bezeichnen. Er hat jedenfalls einen Hang zu Sonderausgaben. 2011 sorgte seine ›verzeitschriftete‹ Version des »Neuen Testaments« für Aufsehen. 2021 ist es Angela Merkel, die er zum Finale ihrer Amtszeit glossy in Szene setzen will. Sein neuestes Magazin, für das er als Herausgeber und Chefredakteur in Personalunion zeichnet, fällt im Wust des großen Zeitschriftenangebots allerdings weitaus weniger auf als das biblische Magazin oder das hochglänzende Grundgesetz, das es vor vier Jahren nicht nur in die Auslagen und Schaufenster der Bahnhofsbuchhandlungen, sondern auch ins Feuilleton schaffte.
Dass »Die Kanzlerin«, so der schlichte Titel seiner aktuellen Sonderausgabe, weniger heraussticht aus dem breiten Angebot an immer neuen Zeitschriften, mag daran liegen, dass Wurms Ausgabe zum Ende der ›Ära Merkel‹ – anders als sein »Neues Testament« und das Verfassungstext-Projekt – kein singuläres Phänomen ist. Schon 2018 hatte die Kanzlerin (inzwischen) a. D. angekündigt, dass sie nach der laufenden Legislaturperiode für keine weitere Kandidatur zur Verfügung stehen würde. Die Redaktionen in Funk, Fernsehen und Print verfügten darum über eine gewisse Vorlaufzeit für ihre Best- und Worst-Ofs, ein News-Thema mit Ansage und Countdown sozusagen. So liegt »Die Kanzlerin« gleichberechtigt neben mehreren der anlassbezogenen Spin-Offs der Größeren und Großen. Das Magazin steht in direkter Konkurrenz u.a. zur »Focus Sonderedition Merkel 2021«, der »Spiegel Biografie 1/2021« und der »Super Illu«-Sonderausgabe zur Revue der scheidenden Bundeskanzlerin. Wenn man nicht gerade »Merkelcore«-Anhängerïn ist, ein Begriff, den Matthias Warkus im »Philosophie Magazin« vorgeschlagen hat, genügt wohl genau eine der zahlreichen angebotenen Ausgaben. Sie wird vermutlich nach Vorliebe dessen gekauft, was das Muttermagazin seinen Käuferïnnen verspricht. Die »Focus«-Fassung gönnt sich, wer sich zur ›Info-Elite‹ zählt, so hatte das Magazin mal seine Leserïnnen charakterisiert; die »Super-Illu« kauft wohl eher, wem die Bilder von Merkel in Bayreuth-Pomp, mit Putin und Papageien eigentlich ausreichen.
Klar, für sein Gesetzestexte-Projekt hatte Wurm auch schon Konkurrenz: Wer das Grundgesetz einfach nur haben und/oder lesen will, kann schließlich auf die kostenlose Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung zurückgreifen. Diese Version ist allerdings »so sexy wie die Bedienungsanleitung eines Staubsaugers«, so jedenfalls Arno Orzessek, als er im »Deutschlandfunk« über den GG-Herausgeber und dessen Projekt glossiert. Das »Grundgesetz als Magazin« – mal was anderes, »[w]ichtiger denn je. Und schön zu lesen«, heißt es in der einseitigen Werbeanzeige, die Wurm für sein, für unser Grundgesetz auch noch einmal in »Die Kanzlerin« schaltet. Es muss aktuell gehalten werden, was mehr als siebzig Jahre nach Inkrafttreten und drei Jahre nach der zumindest potentiell ›sexy‹ Veröffentlichung zwar immer noch relevant, deswegen aber längst nicht permanent eine Nachricht oder einen prominent platzierten Werbeaufsteller wert ist. Was für die Anzeige vom »Grundgesetz als Magazin« in »Die Kanzlerin« gilt, ist übertragbar auf andere Sonderausgaben – irgendwann werden sie schließlich abgeräumt, müssen neuen Sonderausgaben weichen und sich anders bemühen, interessant zu bleiben.
Nun liegt im Jahr ihres Ausscheidens aus dem bundespolitischen Alltagsgeschäft Angela Merkel als Thema quasi auf der Straße, ist für alle auf dem Silbertablett serviert. »Die Kanzlerin« also – die Größeren und Großen lassen die letzten 16 Jahre noch einmal Revue passieren, bringen einschlägige Texte und Bilder, produziert von den hierfür einschlägigen Köpfen ihrer Redaktionen. Sie haben Personal und ein Archiv, auf das sie zurückgreifen können. Wurm dagegen, der mit seinem Medienbüro freier agieren muss, vielleicht auch: kann, wirbt Schreiberïnnen an und Karikaturen ein. 16 profilierte Autorïnnen schreiben zu 16 Themen: Die ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Nicole Diekmann analysiert etwa Merkels Social-Media-Aktivitäten (mit Fokus auf die Merkelʼsche Raute, was sonst?), die »Stern«-Reporterin Ulrike Posche schreibt über den Humor der Bundeskanzlerin und Humor-Typ Micky Beisenherz lässt sich über das Stichwort ›Mutti‹ aus. Das alles braucht freilich eine Weile, bis es zusammengetragen ist, zumal ohne ordnenden Redaktionsalltag: »Nun ist es zwar der letzte Rückblick, der an den Kiosk geht. Dafür jedoch der ausgeruhteste und vollständigste«, resümiert Wurm im Editorial. Mit der Superlativierung (von Absolutadjektiven) ist er nicht zurückhaltend, Klappern gehört schließlich zum Handwerk. »Der bunteste sowieso«, heißt es weiter zu seinem Take on Merkel. Was ordentlich mitklappert, sind die durchaus ins Auge stechenden Extras: Während das kleine Beiheft mit den dpa-Eilmeldungen zu Merkel vielleicht wirklich als »kleines Stück Zeitgeschichte« durchgeht, wie es Wurm im Vorwort vorschlägt, ist das Sticker-Sheet mit Illustrationen des markigen (und verkürzt in die Geschichte eingegangenen) Spruchs »Wir schaffen das« reinste Spielerei. Superlativ. Aber warum eigentlich nicht? Sowas reizt ja die Käuferïnnen des Wohlfühlmagazins »Flow« oder der Jugendzeitschrift »Bravo« auch immer wieder. Es ist ein Angebot, das Zurück zur Stickersammlung in Zeiten, in denen Sticker eigentlich völlig demokratisiert sind und immer von allen besessen und geteilt werden können (digital bei Telegram und Co., Voraussetzung: ein Smartphone). Braucht man nicht, aber ist möglicherweise schön zu haben. Irgendwie müssen sich schließlich auch die zehn Euro begründen lassen, die diese Merkel-Sonderausgabe im Verkauf kostet. Sie kommt weitestgehend ohne Werbeanzeigen aus. Eine Ausnahme ist, wie angedeutet, die Bewerbung eigener Produkte.
Das eint diese Sonderausgabe mit anderen Sonderausgaben zu anderen Schwerpunktthemen. Egal ob in »Wissen heute. Kultur« zu »Harry Potter«, im Untertitel beschrieben als »Der ultimative Guide zu allen Filmen«, oder in der »Collectorʼs Edition« des »Hamburger Abendblatts« zum Fußball-Idol Uwe Seeler: Es findet sich kaum bis keine Werbung. Auch im Jahresrückblick der »Süddeutschen Zeitung« fallen die wenigen Werbeinhalte, die es dann doch ins Heft schaffen, eigentlich nicht weiter ins Gewicht. Kennt man die Münchener Tageszeitung auf Tageszeitungspapier, kommt diese (in dieser Form laut Webshop-Tags erste) Jahreschronik in Hochglanz daher. Abgesehen vom Mantel finden sich hier auf 194 reich bebilderten und farblich je nach Ressort abgesetzten Seiten gerade einmal zwei mit ganzseitigen Anzeigen externer Werbepartnerïnnen – eine Marketingabteilung ist im Impressum auch gar nicht erst ausgewiesen.
Praktisch jede Seite der Sonderausgaben wird gefüllt mit: Besonderem. So jedenfalls die Behauptung. Der Anspruch ist Universalität in freundlich konsumierbarer Form. Blättern in Illustrierten soll Spaß machen, Kurzweil versprechen. Illustrierte Sonderausgaben wollen die ›ultimativen Guides‹ sein zu Personen, Jahren, Bands oder Franchises – sind aber eben auch Zeitschriften, keine hochwertig in Leder gebundenen Weltchroniken mit Goldschnitt. Das Medium Zeitschrift mit seinem soften Cover und seinen flattrigen Seiten scheint da – bei allem superlativierten Geklappere – auch vor zu viel Anspruch zu schützen. In den Beispielen sind es vermeintlich abgeschlossene Phänomene, die auf den Heftseiten festgehalten werden. Uwe Seeler? Wird vermutlich nicht mehr für die deutsche Fußballnationalmannschaft auflaufen. Angela Merkels Kanzlerschaft? Im Winter 2021 vorbei. Das Jahr 2021? Auch. Resümierendes Innehalten bietet sich also an.
Was macht das Jahr 2021 aus? Laut »SZ«-Jahresrückblick sind es unter anderem Köpfe wie Annalena Baerbock, Joe Biden und Angela Merkel sowie Ereignisse wie die Corona-Pandemie und der letzte Bundeswehrflug aus Kabul zum umstrittenen Ende des Afghanistaneinsatzes. Dass die Redaktion wahrscheinlich schon ab Mitte des Jahres, noch mittendrin im einzuordnenden Geschehen, an den wichtigsten Ereignissen und Personen herumlaboriert – geschenkt! An der journalistisch-professionellen Einschätzung zu den wichtigen Themen wird sich vermutlich auch mit größerem historischem Abstand nicht viel ändern, wenn auch die High- und die Lowlights des letzten Jahres an Bedeutung verlieren werden, je größer das Vergleichsparadigma mit denen anderer Jahre wird. Das ist der Lauf der Dinge, daran ändert auch eine noch so ›schön zu lesende‹ Sonderausgabe nichts.
Als Zeitschrift ist sie ohnehin Schrift zur Zeit und kann nur überblicken, was sie eben überblicken kann. Ob sie dann wirklich im Regal landet und auch in zwanzig Jahren noch zur Hand genommen wird? Vermutlich hätte ein Buch mit ledrigem Einband und goldenem Schnitt da doch bessere Chancen. Sammelmappen finden sich im Webshop der »SZ« jedenfalls nicht. Überhaupt: So toll war das Jahr 2021 dann auch nicht, dass man es sich in Heftform in die Preziosensammlung stellen will, oder?
Anders ist das bei anderen Sonderausgaben, die sich unmittelbar an Fankulturen richten und die gern mal zu Jubiläen auf den Markt geworfen werden. Fans neigen ja ohnehin zum Sammeln – und zum Geldausgeben. Auch wenn heute längst nicht mehr jeder Schnipsel sorgsam aufbewahrt wird, ein Magazin wie »In der Welt von Harry Potter. Der ultimative Guide zu allen Filmen« wäre dann vielleicht doch des Aufbewahrens wert. »Über 20 Jahre Magie«, preist ein Goldsticker auf dem Cover den Inhalt an, »[m]it Erinnerungen & Geheimnissen der Stars!« Die Stars der Filmreihe blicken in ihren Rollen die potenziellen Käuferïnnen an – oder knapp an ihnen vorbei, wenn die gemeinfreien, collagierbaren Bilder mit Blick in die Kamera schwieriger zu bekommen waren (so jedenfalls eine These).
Der Blick ins Heft offenbart kaum originär redaktionelle Inhalte und dürfte diese (Taschen-) Geldausgabe retrospektiv zu einer reuigen werden lassen. Das ganze Ding ist eine (schlechte) Übersetzung aus dem Englischen und kompiliert vor allem Zitate aus der Boulevardpresse mit solchen aus Bonus-Material, das den eingefleischten Potterheads wahrscheinlich eh bekannt ist. Zitat an Zitat, Anführungsstriche an Anführungsstriche – schön (und sammelwürdig) ist anders.
Gut, man sucht sich nicht unbedingt aus, wovon man Fan wird, aber die zehn Euro wären dann vielleicht doch besser in »Metallica. Das Sonderheft« zu investieren gewesen. Es ist Nr. 34 der Reihe »Rock Classics«, die von der Redaktion des Magazins »Slam« betreut wird. Als »Rock Classic« according to »Slam« gelten neben Metallica die üblichen Verdächtigen (zum Beispiel AC/DC, Ramones, Black Sabbath), und auch deutschsprachige Acts listet das Wiener Magazin – Die Ärzte bekommen ihre Sonderausgabe vor den Toten Hosen. Verfasst sind die sachkundig-soliden Ausgaben jeweils in einer Ansprache, die die Fan-Gruppe abholen soll (und die nur ein bisschen unangenehm ist): Für Metallica »verneigen wir unsere Headbanger-Köpfe«.
Die »Slam«-Redaktion hatte sich selbst einst vom Fanzine (gegründet 1994) zum alle zwei Monate im Bahnhofsbuchhandel erscheinenden Magazin gemausert – laut Mediadaten mit einer Auflage von 30.000. Das Schreiben über Musik haben sie also von der Pike auf gelernt. Die Sonderausgabe soll alles abdecken: »Alle Alben. Hintergründe. Interviews«. Für knapp einhundert Seiten ist das sicher ein hehres Ziel, aber Scheitern sieht dann eben auch anders aus. Das Hochglanzheft zu Metallica ist wie die »Harry Potter«-Sonderausgabe mit einer Collage auf dem Deckblatt illustriert. Hier steckt aber eine bildredaktionelle Idee dahinter, denn zusammenmontiert werden die prägnanten Designs der einschlägigen Albumcover: »And Justice For All« meets »Master Of Puppets« meets »Ride The Lightning« meets »Kill’em All« meets ›das schwarze Album‹. Es scheint sich zu verkaufen. Im Vorwort ist von »der mittlerweile vierten und inhaltlich (unter anderem mit neuen Interviews) aktualisierten Auflage [des] Tributs« die Rede. Anders als mit Merkels Kanzlerschaft oder dem Jahr 2021 ist es mit Metallica noch nicht vorbei – da bedarf es doch noch der einen oder anderen Revision oder Ergänzung.
Die »Rock Classics« sind, wie ihre Geschwister, die ebenfalls von der »Slam«-Redaktion betreuten »Pop Classics« zu Acts wie ABBA, Prince und Elton John, mehr als ein oberflächlicher Wikipedia-Eintrag und weniger als die ausführliche Band-Biografie. Popkulturelles Allgemeinwissen wird in diesen Sonderausgaben optisch ansprechend aufbereitet und mit einem Nerdtum gemischt, dass beim nächsten Konzertbesuch für Smalltalk in der Straßenbahn oder in der Umbaupause zwischen Vorband und Main-Act taugt – oder während einer globalen Pandemie auf dem heimischen Sofa unterhält.
Was alle Sonderausgaben verbindet: Sie liegen nicht ewig wartend auf potenzielle Käuferïnnen am Kiosk aus. Wenn der News-Wert sich abgenutzt hat, wird abgeräumt, und was aus den Augen ist, ist für gewöhnlich auch aus dem Sinn. »Slam« bewirbt seinen Backkatalog entsprechend immer wieder in den eigenen Outlets und online, regt dank der konsekutiven Durchnummerierung und mit Listen zur Vervollständigung der Reihe an: Die »Rock Classics« für den Zeitschriftensammelordner… gotta catch‘em all, wenn schon nicht (mehr) am Bahnhof, dann eben im magazineigenen Webshop – oder, falls dem Mythos des Sammelobjekts Sonderausgabe unterstützend vergriffen: antiquarisch.