Überflieger-Philosophie
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 86-92]
Die HBO-Serie »The Flight Attendant«, die seit April 2021 auch im deutschsprachigen Raum (bei Prime Video) zu sehen ist, zeichnet eine Reihe von Aspekten aus, die paradigmatisch für neuere Tendenzen serieller Fernsehformate sind. Diese Tendenzen betreffen in gleichem Maße den Inhalt wie die Form, was schon am Beispiel der Protagonistin der Serie, der Flugbegleiterin Cassie Bowden (Kaley Cuoco), deutlich wird: Wie die Hauptfiguren einer Vielzahl anderer aktueller Serien (z.B. »Homecoming« oder »Mr. Robot«) wird auch sie von Erinnerungslücken und einer traumatischen Vergangenheit geplagt. Diese Aspekte sind einerseits Thema der Serie, andererseits inspirieren sie ihre audiovisuelle Form. Letztere wird bestimmt von häufigen Rückblenden, Traumsequenzen, imaginierten Situationen und Bildern mit unklarem Realitätsgehalt. Die bewegungsorientierte Form des Aktionskinos bleibt so zwar erhalten, jedoch unter deutlich prekären oder kontingenten Bedingungen.
Diese ästhetische Konstellation, die mit diversen Anleihen beim Avantgarde- oder Autorenkino einhergeht, ist nicht nur für »The Flight Attendant« konstitutiv, sondern auch für viele andere Fernsehserien der Gegenwart. Typisch ist hier, dass die Aktionsfähigkeit und Handlungsschnelligkeit der Hauptfigur mit ihrem ebenfalls manifesten Wahrnehmungs-, Kontroll- oder Gedächtnisverlust in Konflikt steht. Auf Grundlage der Hybridisierung kinematografischer Formen einerseits und der Disjunktion von Aktion und Perzeption andererseits entsteht ein televisuell-serieller Erzählstil, der in der Forschung unter dem Stichwort des »Complex Television« (Jason Mittell) untersucht worden ist. Es handelt sich allerdings weder um eine hauptsächlich technologische Entwicklung, noch haben wir es mit einer rein film- oder fernsehästhetischen Komplexitätssteigerung zu tun. Vielmehr verweisen die ästhetischen und erzählerischen Neuerungen auf den disruptions- und krisenanfälligen Charakter von neoliberaler Gegenwart und globalisierter Risikogesellschaft. Auch »The Flight Attendant« erfüllt als Serie mit großer Flugbahn – mit den Stationen Bangkok, Seoul, New York, Rom und Portland (Maine) – daher nicht bloß eine unterhaltende, sondern zugleich eine diagnostische Funktion.
1st Stop, Bangkok: Im gold-glitzernden Paillettenkleid trifft die Stewardess Cassie Bowden den Fluggast und Multimilliardär Alex Sokolov (Michiel Huisman), mit dem sie während des Flugs auffällig über die Lektüre von Dostojewskis »Schuld und Sühne« geflirtet hat. Sie sei mehr ein »Dr. Schiwago«-Girl, heißt es in der charmanten und flapsigen Art, die Sokolovs Widerrede geradezu einfordert. Was in dieser Nacht außer Dinner, Alkohol und Sex genau geschieht, erfahren sowohl wir als auch Cassie erst im Nachhinein, vermittelt durch zahlreiche disruptive Rückblicke, innere Dialoge und Traumbilder, schließlich durch mittels Detektivarbeit zusammengetragene Indizien. So wird schnell klar, welche Art von HBO-Format hier zu erwarten ist: Geboten wird das ganze Genre-Spektrum in bestechenden Bildkompositionen und sich elegant entspinnenden Erzählsträngen, die zwischen konventioneller und postmoderner Narration hin und her navigieren. Oberflächenästhetik und Multiperspektive bilden ein perfektes Hybrid. Der ›Opening Credit‹ im Comic-Stil nimmt seine Anleihen bei Serien wie »Mad Men« und deutet symbolisch die Hauptmotive und Handlungsstränge an.
Mit Cassie Bowden präsentiert die Serie eine starke weibliche Hauptfigur, bei der es sich jedoch um alles andere als eine makellose Heldin handelt. Handlungsunfähig eingeschlossen in die Bildwelten ihrer traumatischen Kindheit und der Ereignisse in Bangkok – zudem gehandicapt durch ihren alkoholbedingten Gedächtnisverlust –, stolpert sie vielmehr durch ihre eigene Geschichte. Schnell wird deutlich: Diese Heldin ist nicht im Besitz martialischer Kampfkünste oder sonstiger ›special skills‹. Im Gegenteil, die Souveränität über ihre eigene Geschichte hängt kaum vom aktionsreichen Eingriff in die Geschehnisse, sondern buchstäblich von der Rückeroberung der Bilder ab. »The Flight Attendant« folgt damit einer Erzählweise, die geradezu paradigmatisch für die Kinematografie der gegenwärtigen Serie geworden ist. Bewegung kommt in die Ereignisse weniger durch die Aktionen der Figuren als durch die Unordnung zwischen imaginären, realen und virtuellen Bildern. Diese Bilder stoßen den Figuren regelrecht zu, indem sie sich als Fall und Aufgabe aufdrängen. Es gilt, die Ordnung der Bilder wiederherzustellen.
2nd Stop, Seoul: Spätestens als Cassie neben dem ermordeten und in einer Blutlache liegenden Sokolov aufwacht, wird die Drastik der Bildturbulenzen deutlich. Anders als für ihre Flugroutinen fehlt ihr hier jenes Skript für den Ernstfall, das auf den sogenannten ›Safety Instruction Cards‹ im Flugzeug für alle Passagiere nachvollziehbar in einer Bilderserie arrangiert ist. Nicht nur, dass Cassie noch am Tatort duscht; sie verteilt nahezu auf allen Gegenständen ihre Fingerabdrücke und ihr Blut, das aus einer Schnittwunde tropft, die sie sich beim planlosen Aufräumen zugezogen hat. In der Zwischenzeit telefoniert sie nervös mit ihrer besten Freundin, die zufälligerweise Anwältin ist. Von ihr erhält sie den juristischen Ratschlag, in Thailand lieber nicht wegen Mordes angeklagt zu werden. Kurzentschlossen checkt sie mit ihren gut gelaunten Kollegen für den Überflug nach New York mit Zwischenstopp in Seoul ein. Cassie wird für das Publikum zum reinen Affektbild, d.h. das ganze Spektrum von Hektik, Panik, Nervosität und vorgetäuschter Coolness steht ihr wechselweise ins Gesicht geschrieben. Direkt nach der Landung in den USA wird das Flugpersonal gebeten, sich für Interviews mit dem FBI bereitzuhalten. Cassie versucht zunächst, sich der Vernehmung zu entziehen, wodurch sie den Verdacht der Beamten umso mehr auf sich lenkt.
Die Akzeleration des kinematografischen Geschehens und die übereilten Handlungen von Cassie paaren sich hier mit ihrem gleichzeitigen Kontroll- und Erinnerungsverlust. Daraus ergibt sich für das Publikum eine scheinbar heilsame affektive Dissonanz, denn die slapstickartigen Szenen unterbrechen die angespannte Empathie für das Schicksal der Protagonistin. Ganz im Stil des Dramedy-Genres kontrapunktieren die niederen Gefühle der Komödie die hohen, auf Katharsis angelegten der Tragödie. Das komödiantische Verlachen und die Tragik der Heldin machen deutlich, dass sie mehr noch als gegen äußere Feinde und Kräfte gegen innere Widerstände, Abgründe und Einflüsse anzukämpfen hat. In dieser Hinsicht steht die Protagonistin in einer Tradition, die sich mit dem Titel von John Cassavetes’ Filmklassiker »A Woman Under the Influence« (1974) unter ein treffendes Schlagwort bringen lässt.
3rd Stop, New York: Charakteristisch für die Figuren in »The Flight Attendant« und in vergleichbaren Serien ist ein Phänomen, das sich mit Michaela Ott als »Dividuation« oder Gerald Raunig als »Dividualisierung« beschreiben lässt. Hier sind einerseits die Strukturbedingungen der seriellen Form relevant: Um das Publikum dauerhaft zu binden, muss auch das ganze Spektrum an Identifikations- und Desidentifikationsmöglichkeiten, an Nähe und Distanz, an Wendungen und Brüchen ausgeschöpft werden. Andererseits entsprechen fluide Charaktere der Idee des flexiblen Subjekts. Im zeitgenössischen Serienfernsehen scheint nichts den unzähligen Möglichkeiten der permanenten Neuerfindung im Weg zu stehen. Am ersichtlichsten wird dieses Phänomen an der Figur der Miranda (Michelle Gomez), die zunächst als kaltblütige Mörderin auftritt, im Laufe der Handlung jedoch vorübergehend zu Cassies Sidekick wird und ihr hilft, die Fragmente zu ordnen. Auch die Nebenfiguren Shane (Griffin Matthews) oder Megan (Rosie Perez) haben – jenseits reiner Psychologie – multiple Identitäten. Shane arbeitet verdeckt für die CIA, und Megan ist auf Kosten ihres Mannes für den nordkoreanischen Geheimdienst tätig. Der zunächst harmlos wirkende Buckley (Colin Woodell) erweist sich als skrupelloser Killer. Fluide gleiten die Charaktere zwischen Gutem und Bösem, Normalem und Anormalem, Virtuellem und Aktuellem, Leben und Tod hin und her. Diese dividuelle Fluidität ist nicht zuletzt an die Logik der seriellen Form angepasst, die eine Art ›anything goes‹ impliziert: Selbst der Tod – verstanden als Endpunkt, als Zustand einer physikalischen Unumkehrbarkeit – scheint aufgehoben. Im seriellen Quality TV der Gegenwart ist vielmehr alles umkehrbar, wiederholbar, modulierbar und dividualisiert.
Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhang die Figur des toten Alex Sokolov ein, denn dieser bleibt als Alter Ego und Handlungskatalysator in Cassies Bewusstseinsbildern lebendig. Seine untote kinematografische Präsenz verweist auf »Sunset Boulevard« von Billy Wilder (1950), wo die Ereignisse rückblickend aus der Perspektive des Toten im Pool (William Holden als Joe Gillis) erzählt werden. Dass Megan Cassies geheimnisvollen Look mit Kopftuch und großer Sonnenbrille auf Norma Desmond (Gloria Swanson) aus Wilders Film bezieht, ist somit kein beliebiger Verweis auf die Filmgeschichte. Denn als vergessener Stummfilmstar, die mit ihrem ehemaligen Regisseur und jetzigem Butler (Erich von Stroheim) auf ihrem Anwesen am Sunset Boulevard lebt, träumt Norma Desmond von ihrem Hollywood-Comeback. Der junge, mittellose Drehbuchschreiber Joe Gillis, den sie nach einigen Missverständnissen unter ihre Fittiche nimmt, soll ihr dieses ermöglichen. Cassie birgt als kinematografische Serienfigur die Anteile beider Rollen in sich: Wie eine Stummfilmheldin transponiert sie ohne Dialoge die Affekte ins Bild. Gleichzeitig ist sie handlungsunfähig in Bildwelten eingeschlossen, so wie der Autor Gillis in den bizarren Filmprojektionen von Desmonds eigenen Filmen in ihrem Haus am Sunset Boulevard und ihren wiederkehrenden Reenactments von großen Stummfilmszenen in Vergessenheit geratener Größen wie Buster Keaton oder Anna Q. Nilsson. Cassies Aufgabe ist es, zwischen der affektiven Kraft ihrer Darstellung und den auf ihre Darstellung einwirkenden Kräften so nahtlos wie möglich zu moderieren.
4th stop, Rome: Diese Art Rollensplitting, das aus der Moderation polarer affektiver Kräfte hervorgeht, wird am Beruf der Stewardess besonders sinnfällig. So stellt die Stewardess im kulturellen Imaginären seit den 1950er Jahren stets lächelnd und gut gelaunt ihre eigenen Bedürfnisse und Emotionen hinter die von der Situation erforderten zurück. Ständig neue Länder bereisend, immer bereit für ein Abenteuer im passenden Outfit, multilingual und interkulturell durch potenzielle Konfliktzonen navigierend, verkörpert sie die Subjektanforderungen in der globalisierten Dienstleistungsgesellschaft auf exemplarische Weise. Arlie Russell Hochschild hat in »The Managed Heart« von 1983 gezeigt, dass es Stewardessen oftmals schwerfällt, die Anforderungen ihrer affektiven Arbeit mit dem privaten Modus eines wohltemperierten Gefühlshaushalts in Einklang zu bringen. Hochschild stellt die wegweisende These auf, dass intime Beziehungen im Zuge dieses nicht mehr leistbaren Rollensplittings zunehmend durch eine Kommerzialisierung der Gefühle beeinträchtigt werden.
Den Topos und die Tragik der kosmopolitischen Stewardess nimmt Cassie entsprechend auf, wenn sie auf die Frage antwortet, ob der Beruf ihr Freude macht: »It is fun. You know, I get to see all these beautiful places…«. Vor dem Hintergrund des Albtraums allerdings, den sie durchlebt, offenbart sich die Kluft zwischen den Funktionsrollen. Mit der Flugbegleiterin präsentiert die Serie so eine soziale Figur, die auf besondere Weise die globale Konfiguration unserer Gegenwart zum Ausdruck bringt. In Anbetracht sich vollziehender und kommender Katastrophen gilt es, die (affektive) Fassade zu wahren, den Passagieren Geborgenheit auch im Angesicht ihrer schlimmsten Momente zu spenden. Doch gelingt es Cassie nicht einmal, sich selbst dieses Gefühl zu geben. Wie Absturz oder Turbulenzen im Krisenfall nicht von der Flugbegleiterin zu kontrollieren sind, lassen sich auch die Krisen des Lebens von ihr nicht mehr in den Griff bekommen. Das Handeln der Stewardess ist lediglich kurzfristig und überbrückend, und es betrifft allenfalls die Gefühlswelt. Damit verkörpert Cassie – als die Zukunft vorhersagende, aber ungehörte Cassandra – den Status quo unserer Gegenwartsgesellschaft. Wo langfristige Maßnahmen gegen die schwelende Krise versagen, werden individuelle und kollektive Affektmodulationen immer wichtiger, um die Dauerkrisen wenigstens emotional zu bewältigen. Eine dieser Modulationen hat Lauren Berlant in ihrem gleichnamigen Buch von 2011 als »cruel optimism« beschrieben: eine Art negativer Optimismus, den Gegenwartssubjekte an den Tag legen, um problematische Umstände ertragbar zu machen oder ihnen gar Chancen für eine bessere Zukunft abzugewinnen.
5th Stop, Portland (Maine): Der globale Handlungsraum, den die Serie zwischen Bangkok, Seoul, New York und Rom entfaltet, scheint sich auf einen Raum der Machtkonzentration im amerikanischen Portland zu verdichten. Hier findet Cassie die entscheidenden Beweise, dass Alex’ Tod in einem Zusammenhang globaler Kriminalität steht. Zugleich entpuppt sich hier der gesamte Planet als Spielball einer globalen Elite, in der Jetset-Leben und mafiöse Strukturen, Korruption und Geheimdienste (CIA, FBI, Nordkorea) ineinandergreifen. Das Flugzeugpersonal gehört dieser Welt zwar nicht an, doch es bildet zusammen mit der technischen die affektive Infrastruktur, die die reibungslose Mobilität dieser Elite und ihrer Güter ermöglicht. Die Serie verweist so auf die globalen Dissonanzen und Ungleichverteilungen, an denen wir alle mehr oder weniger ungewollt und ungewusst partizipieren. Das globale Prekariat, das mit unsicheren Bedingungen und einer fragilen Zeitlichkeit agieren muss, ermöglicht die grenz- und barrierefreie Mobilität der globalen Elite und ihres Kapitals.
Der Linienflug mit seinen ausdifferenzierten Preis- und Komfortklassen verweist hier einerseits auf die Klassengesellschaft; andererseits verweist er auch auf das Grenzregime, das Teilen der Weltgesellschaft jeglichen Zugang versagt. Noch wesentlich deutlicher kommt das Prekäre der globalen Mobilität allerdings in einer anderen zeitgenössischen Fernsehserie zum Ausdruck. In der in sechs Episoden auf Netflix ausgestrahlten Serie »Stateless« (2020) landet eine deutsch-australische Flugbegleiterin nach einem sexuellen Übergriff durch ein Sektenmitglied traumatisiert und orientierungslos in einem australischen Auffanglager für Flüchtige. Ihre einstige Mobilität kehrt sich so ins Gegenteil: Von den Behörden als staatenlos klassifiziert, wird sie im Außen der Legalität gewissermaßen stillgestellt. Sie verliert sich in Imaginationen und inneren Bildern als Kompensation für ihre reale Immobilität. Durch den Kontrast zwischen Flugbegleitung und Internierungslager wird das Motiv der globalen Dissonanz in »Stateless« noch einmal weitaus drastischer zugespitzt als in »The Flight Attendant«. In beiden Fällen kommt jedoch zum Ausdruck, dass die Möglichkeiten grenzenloser Mobilität äußerst ungleich verteilt sind.
Mit dem Thema des Globalen stellen beide Serien zudem ihre eigene Möglichkeitsbedingung dar – über globale Plattformen können Serien heute weltweit gestreamt werden und einen globalen Markt bedienen. Die Popularität von Serienformaten wie »The Flight Attendant« steht dabei nicht mehr in erster Linie für die Hegemonie der US-amerikanischen Kultur, da es sich bei einem Großteil der behandelten Themen – und nicht zuletzt bei der seriellen Form der TV-Unterhaltung selbst – um weithin globale Phänomene handelt, die eher ökonomisch als (im nationalspezifischen Sinne) kulturell zu erklären sind. Das irreale Happy End von »The Flight Attendant« bedient dagegen einmal mehr die Mythologie des American Dream und den Makeover-Topos, was vor dem erwähnten Hintergrund einigermaßen zynisch anmutet. Der fleißigen, emanzipierten und nun auch abstinenten Flugbegleiterin steht am Ende eine Stelle bei der CIA offen. Sie hat sich individuell bewährt und steigt innerhalb der Vigilanz-Hierarchie auf. Wohlgemerkt: Im postdemokratischen Kontext der globalen Risikogesellschaft kommt die Aufgabe der Sicherung der sozialen Grenzen nicht zuletzt Organisationen zu, die wie die Geheimdienste in den Grauzonen der Souveränität agieren.