Kontrollregime der Covid-19-Ära
von Ramón Reichert
4.1.2025

Digitale Überwachungsmaßnahmen und -fantasien in China und anderswo

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 49-59]

Ein entscheidender Effekt der weltweiten Verbreitung des Corona-Virus ist die Umwandlung digitaler Lifestyle-Medien in staatlich genutzte Aufzeichnungs-, Speicher- und Vertriebsmedien. Mit der zunehmenden Ausbreitung von Covid-19 etablierten nationale Gesundheitsbehörden, Geheimdienste und Polizeiapparate zusammen mit IT-Unternehmen eine systematische Erfassung und Auswertung von Nutzungsdaten. Von vielen Gesundheitsbehörden werden asiatische Präventionskonzepte – vornehmlich jene Chinas, Singapurs und Hongkongs – als Vorbilder für die Eindämmung der Pandemie angesehen. In den Hightech-Gesellschaften spielen digitale Vernetzungsmedien, Soziale Medien, Online-Plattformen, Apps und Messenger-Dienste eine zentrale Rolle bei der Pandemiebekämpfung.

Die Mobilitätsnachverfolgung gilt weltweit Gesundheitsbehörden und Regierungsbeamten als notwendige Datengrundlage für die Durchsetzung politischer Entscheidungen. Digitale Medien bilden verstärkt die empirische Grundlage politischen Handelns. Die disziplinarischen Techniken der staatlichen Überwachung und Bestrafung wandern in alle Bereiche der digitalen Kommunikation und wirken sich auf mobile Medien (Geo-Tracking), Stop-Corona-Apps (Überwachung), Soziale Medien (Schuldzuweisungen) und Selfies (Selbstbeweise) aus. Auch die bei Jugendlichen erfolgreiche Videoplattform TikTok ist in den letzten Monaten zu einem einflussreichen Portal für die Verbreitung von Hygienestandards, Präventionsaufklärung und Verhaltensänderungen geworden. TikTok hat sich von einem Entertainment-Format zu einem unidirektionalen Medium entwickelt, das Push-Inhalte für jugendliche Zielgruppen anbietet.

In der Pandemie hat sich das öffentliche Leben auch in vielen städtischen Räumen massiv verändert. China und seine Regierungs- und Steuerungstechnologien wie die automatische Gesichtserkennung werden von Gesundheitsbehörden mittlerweile weltweit als effektives Modell der Identifizierung von potenziellen Infizierten eingestuft. Der Gebrauch solcher Technologien ist nicht gänzlich neu. Der erste landesweite Einsatz der automatischen Gesichtserkennung erfolgte im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September. Die algorithmische Gesichtserkennung steht am Beginn des epistemischen Umbruchs im Bereich der Kontrollkultur. Clive Norris und Gary Armstrong haben dafür in ihrem Pionierbuch »The Maximum Surveillance Society« den Begriff »algorithmische Überwachung« eingeführt: »Algorithmische Überwachung wird verwendet, um sich auf Überwachungstechnologien zu beziehen, die Computersysteme verwenden, um mehr als die beobachteten Rohdaten bereitzustellen. Dies kann von Systemen reichen, die einfache Daten klassifizieren und speichern, über komplexere Systeme, die die erfassten Daten mit anderen Daten vergleichen und Übereinstimmungen bereitstellen, bis zu Systemen, die versuchen, Ereignisse basierend auf den erfassten Daten vorherzusagen.«

Die algorithmische Überwachung individualisiert das einzelne Subjekt durch die Etablierung einer visuellen Einheit, schafft aber gleichzeitig auch abstrakte Beziehungen und Merkmale, um die Subjektivität auf einer kategorialen Ebene lokalisieren und organisieren zu können. Dazu schreiben Armstrong und Norris: »Die algorithmische Gesichtserkennung ist eine Technologie, die einen Schlüsselaspekt des zeitgenössischen Kapitalismus ausdrückt: die problematische Position des Individuums angesichts neuer Formen algorithmischer und statistischer Machtregime. Während es einen klaren Zusammenhang zwischen modernen disziplinarischen Individualisierungsmechanismen und dem Gesicht als Zeichen der Individualität gibt, erscheint dieser Zusammenhang in Kontrollgesellschaften als Widerspruch.«

So unterschiedlich diese beiden Fallanwendungen (Terror, Pandemie) auch sein mögen, sie zeigen, dass man Ansteckung und Gewalt als Problem der öffentlichen Sicherheit mit Hilfe digitaler Kontrolltechnologien, die urbanes Leben unter ›Überwachen und Strafen‹ stellen, in den Griff bekommen möchte. In beiden Fällen geht es darum, von einer diffusen Bedrohung auszugehen, die sich grundsätzlich der Erfahrung entzieht und schwer zu erkennen ist. Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungssituation werden das öffentliche Leben und die bürgerliche Freiheit als Risiko angesehen. Die Sphären zwischen Opfer und Täter können darum nicht mehr klar voneinander getrennt werden.

Ziel der automatischen Gesichtserkennung ist es, den öffentlichen Raum in klar erkennbare Unterscheidungen und Kategorien zu fassen. Die Aufzeichnung aller Menschen in einer räumlichen Umgebung soll nahtlos und eindeutig sein. Das Sammeln von Daten in allen verhaltenskritischen und verbrauchsrelevanten Alltagsbereichen verfährt panoptisch: Der öffentliche Raum wird gänzlich durchdrungen, ohne selbst als Medium der Datenerfassung und -auswertung in Erscheinung zu treten. Es handelt sich um eine unsichtbare Überwachung; der Überwachte kann von ihr kein Wissen haben, er ist aber von ihren polizeilichen, juristischen und administrativen Konsequenzen betroffen.

Die Volksrepublik China hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 Weltmarktführer für künstliche Intelligenz zu werden. Mit der Verbreitung von Covid-19 hat sich SenseTime, ein Forschungs- und Entwicklungsunternehmen für künstliche Intelligenz, zu einem der größten Branchenführer entwickelt. Im Rahmen der epidemiologischen Diagnostik konzentriert sich das Unternehmen auf die Gesichtserkennung sowie die thermische Wärmeverfolgung von Passanten und liefert Software, mit der die chinesischen Behörden potenziell infizierte Personen identifizieren und ansprechen können. Benutzer:innen, die die SenseTime-App verwenden, werden sofort mit einem Pop-up-Alarm angesprochen. Passanten im öffentlichen Raum, die keine Maske tragen, können ebenfalls erkannt und verfolgt werden. Das von SenseTime entwickelte biometrische Grenzkontrollsystem mit integrierter Fiebererkennung dient der Gebäudesicherheit zur Kontrolle des Zugangs. Personen, die ihre Masken nicht angemessen tragen und eine hohe Körpertemperatur haben, sind vom Eintritt ausgeschlossen.

Die Architekturen der Gesichts- und Bilderkennungssoftware sind mit Kameraüberwachungssystemen verbunden, die in öffentlichen Einrichtungen, Plätzen, Verkehrsbereichen und Geldautomaten installiert sind. Diese Software ist auch auf mehr als 100 Millionen chinesischen Smartphones installiert. Die Überwachungsbilder können live übertragen, ausgewertet und in einem einzigen System zusammengeführt werden. Zusammen mit der chinesischen Regierung ist geplant, in Chinas größten Städten Hochleistungscomputer mit 8.000 computergestützten Grafikkarten zu bauen, mit denen mindestens 100.000 Livebilder in Echtzeit ausgewertet werden können.

Zusätzlich zu SenseTime haben bekannte Unternehmen wie Baidu und Megvil Technology ein AI-basiertes kontaktloses Körpertemperatur-Screening-System entwickelt, das an öffentlichen Orten installiert werden kann, um diejenigen zu identifizieren, die mit Covid-19 infiziert sind. Insbesondere AI-basierte Systeme mit kontaktloser Ferntemperaturabschirmung können aus einer Entfernung von drei Metern etwa fünfzehn Personen pro Sekunde abschirmen.

Während der Covid-19-Pandemie ist das Tragen von Masken in der städtischen Öffentlichkeit weit verbreitet. Deshalb hat SenseTime seine Gesichtserkennungssoftware so modifiziert, dass Personen nur anhand ihrer Augen und des oberen Nasenbereichs identifiziert werden können. Entsprechend scannt der SenseTime-Algorithmus 240 Gesichtsmerkmale. Der Gesichts-Scan fungiert als biometrischer Personalausweis in halböffentlichen oder privaten Räumen und entscheidet, ob eine Person Zugang zu einer hermetisch abgeschlossenen Einrichtung bekommt. Dieses biometrische Identifikationssystem kombiniert automatisierte Biometrie mit der Erkennung und Verarbeitung der aufgezeichneten Körperdaten in hoher Geschwindigkeit.

Covid-19 geht nicht mit einem eindeutigen Krankheitsbild einher. Es gibt Menschen, die das Virus tragen und keine oder zumindest keine klar erkennbaren Symptome haben. Eines der allgemeinen, nicht Covid-19-spezifischen Muster, mit denen ein Algorithmus arbeiten kann, ist die erhöhte Körpertemperatur, die mit Hilfe von Wärmebildkameras erfasst werden kann. Für die von der automatischen Gesichtserkennung oder dem Wärmescan betroffenen Personen sind diese Steuerungstechnologien »stille« Überwachungsinstrumente, deren Funktionsweise und Folgen für sie selbst verborgen bleiben. Yann Sweeney hält in seiner Studie »Tracking the Debate on COVID-19 Surveillance Tools« fest, dass die Gesichtserkennungsalgorithmen der intelligenten Videoüberwachung ein besonders gutes Beispiel für eine »stille Überwachungstechnologie« seien, weil die meisten Softwarealgorithmen von Gesichtserkennungssystemen proprietäre Softwareobjekte sind, die einen Zugang zur Inspektion und Kontrolle erschweren oder unmöglich machen. Für das betroffene Subjekt bleibt die staatliche Intervention, bei der polizeiliche, pathologische und administrative Maßnahmen kombiniert werden, darum weitgehend unbemerkt. Es ist sich seiner Überwachung nicht bewusst und kann sich dieser Beobachtung, Analyse und Speicherung nicht entziehen. Die Umwandlung von Städten in Kontrollzentren für Sensortechnologie ist durch diese asymmetrische Beziehung gekennzeichnet.

Die Covid-19-Pandemie hat China einen Anlass geboten, um seine Städte mithilfe der ›Internet of Things‹-Industrie in technologische Kontrollumgebungen umzuwandeln. Bei der öffentlichen Präsentation dieser technischen und medialen Transformationen wird häufig der euphemistische Begriff ›Smart City‹ verwendet. Dieser Begriff dient dazu, die soziale Kontrolle durch technische Systeme als effizientes Maß für die Stadtverwaltung darzustellen. Es soll der Eindruck entstehen, die Umwandlung von Städten in sensorgesteuerte Steuerungsumgebungen sei eine Art neutraler Prozess. Diese Ansicht teilen auch die WHO und zahlreiche Vertreter westlicher Regierungen. Im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie hat die WHO angegeben, dass Chinas Erfolg hauptsächlich auf den Einsatz modernster Technologien in Chinas intelligenten Städten zurückzuführen sei.

Sensorgesteuerte ›Smart Cities‹ befinden sich in einem Zustand ständiger kollektiver Beobachtung, weil die ›Peer-to-Peer‹-Netzwerke Sozialer Medien sozial geteilte Wahrnehmungsweisen der Stadt ermöglichen. Intelligente Städte in China nutzen die Cloud und die Handys zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Handys sammeln mit ihren eingebetteten Kameras und Biosensoren persönliche Informationen über ihre Bürger. Die Sensoren der Mobiltelefone, die ein AI-basiertes Framework verwenden, zeichnen Bewegungsdaten, Herzfrequenzen und Hustengeräusche auf, die dann verschlüsselt, komprimiert und zu Trainingszwecken für ›tiefes Lernen‹ an die Cloud gesendet werden.

Der Einsatz von Drohnen spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der mobilen und flexiblen Überwachung in ›Internet of Things‹-Städten. Sie können verwendet werden, um Personen in der Öffentlichkeit zu folgen, die mit Covid-19-Patienten in Kontakt gekommen sind. In Hubei wurden mit Kameras ausgestattete Drohnen systematisch eingesetzt, um Personen zu verfolgen, die gegen die Quarantänemaßnahmen verstoßen haben. Drohnen werden auch verwendet, um sicherzustellen, dass Gesichtsmasken getragen werden, und um in einem Distrikts die Einhaltung sozialer Distanzierungsregeln zu überwachen. Drohnen können auch zur Fernüberwachung von Patienten in Quarantäne oder in stark infizierten Bereichen eingesetzt werden. Darüber hinaus werden in privaten Wohngebäuden AI-basierte CCTV-Kameras mit Gesichtserkennungsfunktionen installiert, um sicherzustellen, dass die Bewohner die Quarantäneregeln einhalten und ihre Häuser nicht verlassen.

Die biometrische Messung und Regulierung des öffentlichen Lebens wurde bereits vor der Covid-19-Pandemie in China durchgeführt. Der Zusammenhang von staatlicher Autorität und technologischer Kontrolle wird aber erst oder besonders oft im Zeitalter von Covid-19 als ›wirksames Management‹ eingestuft. Die massive Kontrolle der chinesischen Öffentlichkeit durch grundlegende ›Internet of Things‹-Infrastrukturen und ›Smart-City‹-Technologien gilt vielen als nachhaltige Maßnahme zur Eindämmung von Epidemien: »Es ist die offensichtlichste Erfahrung in neoliberalen Zeiten während der Covid-19-Pandemie. Der öffentliche Sektor hat unerwartete Macht und Vertrauen zurückgewonnen. Im Gegensatz zu Zeiten vor dem Corona-Virus hat der öffentliche Sektor auf allen Ebenen der Planung und Entscheidungsfindung die Kontrolle über Richtlinien zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus übernommen. Polizei und Behörden haben die Kontrolle effizient ausgeführt.« Die Digitalisierung in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und öffentliche Überwachung wird deshalb beschleunigt durchgeführt werden können, »die geschäfts- und komfortorientierte Transformation der intelligenten Stadt weitergehen« (Bei Chen/Simon Marvin/Aidan While: »Containing COVID-19 in China: AI and the Robotic Restructuring of Future Cities«, 2020). Alle Bestrebungen gehen dahin, die Maßnahmen nicht nur für den Fall einer Krise zu reservieren.

Im Unterschied zum urbanen Konzept der organischen Zivilgesellschaft und der liberaldemokratischen Öffentlichkeit ist im smarten Quarantäne-Modell des Städtischen eine interaktive Teilhabe und Mitgestaltung unerwünscht. Das von der chinesischen Regierung geplante Modell der Informationsstadt basiert auf Ideen einer vertikalen Top-Down-Struktur zwischen Staatsverwaltung und Bürgern. Die Nutzer der Stadt haben nicht die Möglichkeit, sich selbständig an der Gestaltung der ›Smart City‹ zu beteiligen, und sie werden nicht über die Verfahren im Backend-Bereich der Informationsstadt eingeweiht. Das neue Repräsentationsmodell des Urbanen ist eine intelligente App, die auf ihre Nutzer:innen den smarten Druck von Tracking, Monitoring und Mapping ausübt. Ein auf sie genau zugeschnittenes Dashboard signalisiert Vorgaben, Regeln und Übertretungen, die detailliert zu befolgen sind. Feedback ist im Programm nicht vorgesehen. Kritische Kommentare sind in unidirektionalen Mediensystemen außer Kraft gesetzt.

Repressive Medienanordnungen operieren grundlegend mit Formautoritäten. Sie schaffen mit den Vorgaben der Softwarearchitektur Zuordnungen und treffen Bewertungen. Sie schaffen Abgrenzungen, Unterschiede, Klassen und Ränge, die administrativ verwaltet und polizeilich exekutiert werden. Unter Bezug auf das Virus entsteht ein Wissensraum der einseitigen Lokalisierung, der Identifizierung und der Registrierung, der seine Anwender:innen zugleich zum Subjekt und Objekt fahndungspolizeilicher Wahrnehmung, präventiver Normierung und gerichtlicher Sanktionierung macht.

 

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