Aus den Akten, ins Netz
von Sandra Beck
8.10.2024

Zur medialen Dynamik von True-Crime-Erzählungen 

 

Michelle McNamaras berühmter True-Crime-Bestseller I’ll Be Gone in the Dark. One Woman’s Obsessive Search for the Golden State Killer (2018) ist Fragment geblieben. Posthum publiziert und zusammengesetzt aus abgeschlossenen Kapiteln, Entwürfen und ausformulierten Notizen rekonstruiert das Buch eine Rekonstruktion. Denn als Dokumentation der Recherche nach einem Serienvergewaltiger und Serienmörder legt der Text zugleich bloß, was McNamaras obsessive Spurensuche im Netz, die akribische Lektüre der Ermittlungsakten gekostet hat: nachts vor dem Laptop, in der vermeintlichen Behaglichkeit des eigenen Schlafzimmers jedes noch so abseitig-blutige Detail nach seiner möglichen Bedeutung zu befragen, und dies im beständigen Dialog mit einer Netzgemeinschaft, die sich an wilden Mutmaßungen ebenso berauscht wie am Aufspüren von Leerstellen in den Ermittlungsakten.

Für Gillian Flynn – mit Sharp Objects (2006), Dark Places (2009) und Gone Girl (2012) eine der  Königinnen des Domestic Noir – ist denn auch nicht der Täter und seine Geschichte entscheidend, um das Buch aufzuschlagen; zu abgegriffen ist mittlerweile der erzählerische Baukasten serienmörderischer Lebensgeschichten, die in enervierender Regelmäßigkeit auf die Trope ‚Mütter machen Monster‘ zusammenschnurren. Lesenswert ist für Flynn der Text vielmehr, „weil ich diese bemerkenswerte Jägerin der Dunkelheit jagte.“  Die voyeuristische Neugier und die Sehnsucht nach dem Grusel wird neu kalibriert: Im Fokus der Wissbegier steht das psycho(patho-)logische Profil jener Frau, die von der passiven Leserin zur aktiven Ermittlerin geworden ist – und damit ihr Leben einsetzt. Während der Täter im Epilog zweifelsfrei identifiziert werden kann und mit der ans Ende des Textes gewiesenen, aber eben doch abgedruckten Fotografie sichtbar wird, verschwindet die Amateur-Detektivin in der titelgebenden Dunkelheit. Man mag es daher nur konsequent finden, wenn die Erzählung in der sechsteiligen Dokumentation I’ll Be Gone in the Dark (HBO, 2020) McNamara als Opfer ihrer Ermittlung und ihrer Autorschaft präsentiert: „Überwältigt von Material und schmerzhaften Erinnerungen versinkt sie bald ganz in der Welt des brutalen Mörders. Von Medikamenten abhängig, stirbt McNamara 2016 an einer Überdosis.“

Der Erklärung und einer Geschichte bedürfen nicht mehr so recht der Täter und seine Taten; eigentlich erklärungsbedürftig sind die Rezipient*innen, die sich in diesem Grauen vergraben und eine als Textpuzzle zusammensetzbare wahre Geschichte von der Suche nach einem Mörder als Vermächtnis hinterlassen. Dem Publikum wird ein anderes, nicht minder faszinierendes Objekt präsentiert, auf das es im trauernden Angedenken die kollektive Neugier ebenso wie die wieder frei gewordene detektivische Besessenheit richten kann.

An die Akten, an die Tastaturen

In der Geschichte des Krimis sind die traumatisierten Ermittler*innen, die am Schmerz der Anderen, an der monströsen Grausamkeit der aufzuklärenden Taten und an der Abgründigkeit der Welt zerbrechen, nur allzu gut bekannt. Bemerkenswert ist die Leichtigkeit, mit der in den medialen Konstellationen eines Erzählens wahrer Fälle Leser*innen und Autor*innen, Opfer und Ermittler*innen in der Gegenwart zwischen den Rollen oszillieren. Die Recherche- und Lektüremöglichkeiten im digitalen Raum scheinen die fair-play-Doktrin aus dem Golden Age detektivischen Erzählens endlich Wirklichkeit werden zu lassen: Alle lösungsrelevanten Fakten liegen vor; wenn man nur aufmerksam genug liest, akribisch Indizien auswertet, die kleinen grauen Zellen ausreichend anstrengt, Zeit investiert, allen Hinweisen nachgeht, muss es doch möglich sein, das Taträtsel zu lösen, die Geschichte der Täter*innen zu entschlüsseln.

In der deutschsprachigen TV-Landschaft wurde diese Adressierung des Publikums als Amateur-Detektiv und Hinweisgeber nicht zuletzt durch Eduard Zimmermanns Aktenzeichen XY … ungelöst vorbereitet. Denn die Sendung bettet die Re-Enactments wahrer Verbrechen in die gravitätische Moderatorenansprache einer BRD Noir ein und bietet in der dringlichen Bitte um Hinweise neben der passiven Unterhaltung im Fernsehsesselplüsch bei Knabbergebäck auch nachdrücklich die Möglichkeit, sich als Teil einer abenteuerlichen Verbrecherjagd zu imaginieren. Regina Schillings Dokumentation Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann (2023), die diese Fernsehpolitik der Angst vor dem Hintergrund der eigenen Seh-Sozialisation kritisch aufgearbeitet hat, zeigt Zimmermann nicht nur auf Sendung, sondern auch hinter den Kulissen, bei der konzeptionellen Planung inmitten von Aktenmappen, aus denen seine Bildwelten der Kriminalität generiert werden. Gezeigt wird, wie hochgradig selektiv die Entscheidung für den jeweiligen Fall waren, der (nach-)erzählenswert erschien. Offen bleibt aber auch bei Schilling, wer diese Akten freigegeben hat, ob Hinterbliebene und Opfer gehört werden – heute wie damals –, wenn die True-Crime-Maschinerie anläuft, um mit exklusivem Wissen und dem Grusel des Ersatz-Blutes unsere Emotionen zu reizen, um sie am Ende zusammen mit dem Fall wieder zu den Akten zu legen.

Was soll es bedeuten

Legitimiert werden die Wiedererzählungen und Wiederaufnahmen wahrer Fälle mit einem didaktischen und aufklärerischen Potenzial: der Vermittlung zwischen ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘. Mit dieser interdiskursiven erzählerischen Leistung, den Fall aus den ermittlungsbürokratischen, kriminalistischen und juristischen Spezialdiskursen in die Alltagsdiskurse um Kriminalität zu übersetzen, wird vielfach auch ein gesellschaftspolitisches Vermögen verbunden. Wiedererzählungen wahrer Fälle vermögen in der kritischen Lektüre der Ermittlungsakten und der Prozessunterlagen Fehlurteile zu korrigieren, Cold Cases zu lösen, Polizei- und Justizapparat kritisch zu inspizieren, vergessene Verbrechen in ihrer historischen und gesamtgesellschaftlichen Bedeutung zu erkennen und damit andere Archive aufzubauen. Blickt man in die Geschichte kriminalliterarischen Erzählens, erscheint diese Balance auf diesem Zwiespalt alles andere als neu.

Der französische Advokat François Gayot de Pitaval ist mit seinen causes célèbres bereits 1734 angetreten, um den „Tresor einer ungeheuren Wissenschaft“ aufzuschließen („trésor d’une science prodigieuse“) und die „Geheimnisse der Jurisprudenz in die Hände der besseren Gesellschaft“ zu legen („les se­crets de la Jurisprudence entre le mains du beau monde“). Unterhaltend ist das dann allemal, wenn eine Frau, angeklagt des Gattenmordes, sich mit seiner Vorführung vor Gericht verteidigt (Fem­me / Accusée d’avoir fait tuer son Mari, qui se justifie en le représentant) und es allerlei juristische Irrungen und Wirrungen inklusive Gespenstererscheinungen zu klären gilt.

In E.T.A. Hoffmanns Bearbeitung des Stoffes unter dem Titel Marquise de la Pivardiere (1820) bricht allerdings das sich an Mord und Verbrechen delektierende Salongespräch ab, sobald man gewahr wird, dass man Täter und Opfer dieses neuesten denkwürdigen Falles persönlich kennt: „Stumm, von Entsetzen erfaßt, starrte Alles den Grafen an, der sich vor der Duchesse, die der Ohnmacht nahe, tief verbeugte und dann den Saal verließ. –“ Vor dem echten Schmerz unmittelbarer Betroffenheit, so die Überlegung von Hoffmanns Erzählung, kollabieren die geselligen Konversationskulturen; an ihre Stelle treten Schweigen, Flucht und Bewusstlosigkeit.

Die Gerichtsreportagen der Zwischenkriegszeit dagegen übersetzen nicht nur zwischen Justiz und Öffentlichkeit, sondern gewinnen aus den Fällen vor Gericht die Signatur ihrer Zeit. So formuliert Gabriele Tergit 1927 in den sog. Goldenen Zwanzigern der Weimarer Republik: „Moabit ist seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des einzelnen, der Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe […] handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, res gestae steht vor Gericht“.

Die unterhaltende Belehrung des zeitgenössischen Publikums durch eine fachwissenschaftliche und literarische Aufbereitung wahrer Fälle aus den Kriminal-Archiven und die journalistische Berichterstattung aus den Gerichtssälen mit dem Anspruch, die Gegenwart zu erkennen, kehren in den Konstellationen des 21. Jahrhunderts in unterschiedlichen medialen Formaten wieder.

Durchsprechen, aber bitte mit Meta

Die Geschichte dieses Erzählens führt in den medialen Konstellationen des 21. Jahrhunderts zu den True-Crime-Podcasts. Versucht man grob das schier unermessliche Angebot zu sondieren, so lassen sich in einem ersten Schritt Formate mit dramaturgisch übergreifendem story arch wie SERIAL von Angeboten unterscheiden, die mit einer episodischen „Monster of the Week“-Struktur arbeiten und je unterschiedliche Verfahren, Settings und Erzählstrategien ausgebildet haben, um den Einzelfall als (durch-)hörenswert zu präsentieren. MORDLUST oder MORD AUF EX zum Beispiel setzen auf das immersive Potenzial einer erzählerischen Anverwandlung des wahren Falles. Die Lesung der Verbrechensgeschichte wird von spontanen Gefühlsausbrüchen unterbrochen, die als authentische Rezeptionszeichen die Fiktion in ihren Emotionalisierungsstrategien kommentieren und das unterstellte Entsetzen der Zuhörer*innen gleichsam mit auf Sendung nehmen.

Im Kontrast zu diesen Strategien, mit den Mitteln der Stimme das Verbrechen vor Augen zu führen und auditive Realitätseffekte zu generieren, sind etwa DIE SPUR DER TÄTER (seit März 2024 ARD CRIME TIME) oder ZEIT VERBRECHEN als journalistisch-investigative Gesprächsformate mit Interview-Struktur angelegt, die zum Teil mit auditiven O-Tönen und Original-Aufnahmen arbeiten. Die Rollenverteilung zwischen interessiert nachfragenden Podcast-Hosts und Expert*innen, die ‚ihre Fälle‘ mitbringen – von unglaublich skurril bis erschütternd monströs ist alles dabei –, kann vielfach variiert werden. Das Konzept des BR TRUE CRIME-Podcast sieht in seiner Stimm-Regie einen scharfen Kontrast zwischen juristischer Fach-Expertise und Laientum vor, der sich in jeder Folge wiederholt, während VERBRECHEN VON NEBENAN mittlerweile immer einen Gast mit auf Sendung nimmt, der die vorgetragene Fall-Erzählung emotional und kognitiv quittiert.

Die Podcasts übersetzen einen wahren Fall in eine öffentliche Erzählung – aus den Gerichtsakten, aus vorgängigen Texten, aus dem Netz – und holen in der Logik ihrer medienspezifischen Aufnahmepraxis affektive Fassungslosigkeit und kognitive Ungläubigkeit ein. Es sind gleichsam Wiederauflagen der Salongespräche, freilich in variabler erzählerisch-rhetorischer Gewandtheit, Eloquenz und Expertise, denen ein Massenpublikum lauschen kann. Der Materialbedarf ist so immens, dass Einzelfälle nicht exklusiv besprochen werden, sondern zwischen den Medien und unter den True-Cri­me-Podcaster*innen zirkulieren. Formate wie AKTENZEICHEN XY GELÖST oder ZEIT VERBRECHEN zeigen, wie sich TV-Erzählungen bzw. journalistische Recherchen in die Gesprächsstruktur des Podcasts übersetzen und fortführen lassen.

Verfolgen lässt sich dabei nicht nur eine plurimediale Verwertungsstruktur, sondern die Ausbildung eigener Archive. In der 200. Folge von ZEIT VERBRECHEN Die Geschichte einer Mörderin vom 4. Juni 2024 blendet Sabine Rückert zurück zur ersten Podcast-Folge mit dem Titel Wie Frau L. ihren Mann umbringen ließ (24.04.2018), die auf ihrer mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis prämierten Reportage Die Mörderin (Die Zeit, 26.07.2001) basiert. Rückert erzählt nun ihrem Publikum, dass sie das Preisgeld seinerzeit mit jener Frau geteilt habe, deren Biografie und Tat sie „na ja, wie man es sieht, erzählt, unter die Leute gebracht, bekannt gemacht, man kann auch sagen: ausgeschlachtet [hat]. Also derjenige, der den Preis bekommt, ist nicht derjenige, der das er­litten hat“. Valerie L. – verurteilt für den Auftragsmord an ihrem Ehemann, der sie jahrelang misshandelt hatte – engagierte mit diesem Geld einen Rechtsanwalt zur Aufsetzung eines Gnadengesuchs, dem schließlich stattgegeben wird. Die Show Notes versammeln rund um die Jubiläumsfolge zahlreiche Links: Bestelllinks für das Kriminalmagazin ZEIT Verbrechen, den Subskriptionslink zum Newsletter, aber auch zum ZEIT-Artikel Die Mörderin, der freilich hinter der Paywall liegt.

Die Show Notes verdeutlichen ökonomische Verwertungsstrukturen. Wer nach dem Durchhören auch noch Weiter- oder gar Nachlesen will, muss zahlen. Allerdings ist auch der pünktlich zum Jubiläum eingespielte Meta-Diskurs aufschlussreich. Reflektiert wird im Modus von ethischem Soll und ökonomischem Haben das eigene Selbstverständnis als True-Crime-Podcaster*in. WEIRD CRIMES startet dagegen bereits in der ersten Episode Der Katzenkönig (22.07.2021) mit einem psychologisch-subjektiven Rechenschaftsbericht, wenn sich die Podcasterinnen darüber austauschen, dass der eigene True-Crime-Konsum zwar „Spuren in [der] Seele hinterlassen“ habe, man aber auch im echten Leben schon so viele „Sachen“ überstanden habe, die „unschön waren“ und man sich jetzt denke, „was soll mir denn noch passieren?“ Man mag das auch als Bemächtigungsstrategie lesen, in einer misogynen und rassistischen Wirklichkeit einerseits mörderische Taten zu verlachen, andererseits selbst die Fall-Archive zu beschriften und einen Femizid einen Femizid zu nennen, nicht ‚Familientragödie‘, nicht ‚Ausländerkriminalität‘. Der populäre True-Cri­me-Co­medy-Podcast My Favorite Murder, der seit Episode 1: My Firstest Murder auch immer wieder über Michelle McNamara, ihre True-Crime-Arbeit und ihr Leben spricht, komprimiert diese Zusammenhänge im berühmt-berüchtigten Motto: „Stay Sexy And Don’t Get Murdered“. Dazu passende T-Shirts, Tassen, Taschen gibt’s für Fans und selbsternannte Murderinos im Online-Shop.

Dieses Nachdenken über die eigene True-Crime-Faszination als Effekt realer Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen beantwortet die kulturkritische Sorge vor einer zu obsessiven Faszination – namentlich von Frauen – für verstörende Verbrechen mit dem Verweis auf eine Alltagswirklichkeit, die auch in ihren medialen Fiktionen schon immer vom Phantasma der schönen toten weißen Frau bestimmt war: Over Her Dead Body. So mag sich denn auch die quantitative Dominanz von Frauen unter den Konsument*innen von True-Crime-Podcasts erklären, die erhebliches Forschungsinteresse hervorgerufen hat. Im Interview mit dem MDR erklärt Dr. Corinna Perch­told-Stefan von der Universität Graz dieses Phänomen psychologisch als „Defensive Vigilanz“.

Bei aller skeptischen Aufmerksamkeit für exzessive und lustvolle weibliche Lektüren, die den kulturkritischen Diskurs seit den ‚Lesesucht-Debatten‘ des 18. Jahrhunderts umtreiben und sich bereitwillig mit einem argwöhnischen Blick auf je neue Medien zusammenschließen, ist offenbar noch nicht wirklich aufgefallen, dass gerade im True-Crime-Genre die Grenze zwischen Rezipientinnen und Autorinnen hochgradig instabil geworden ist. Damit wird auch neu ausgehandelt, wer die mediale Macht hat, in der Verfügung über Bild- und Hörwelten des Verbrechens die kulturelle, gesellschaftspolitische und historische Bedeutung der Tat festzuschreiben, Trauer und Angedenken für vergessene Opfer einzufordern.

Zwielichtig wird’s auch

Während allerorten Erleichterung spürbar ist, dass BookTok die Jugend zurück ans Leitmedium Buch bringt, sind die Vorbehalte gegenüber den überwiegend weiblichen Rezeptionskulturen im True-Crime-Podcast-Segment immens. Zu unkalkulierbar scheint, welche Lehren sie aus diesen Formaten ziehen, welches Wissen sie mitnehmen, in welche (psychologischen) Abgründe sie sich emotional ver­stricken. Ebenso kritisch gesehen wird die voyeuristische Färbung in sensations­lüsternen Wiederaufnahmen spektakulärer Fälle. Seltener bedacht wird dagegen, inwiefern die Trauer und der Schmerz, die Wut und die Ohnmacht der Hinterbliebenen und Opfer bedacht werden.

Wenn wir alle, wie Stephan Lucas – bekannt geworden im Cast der Gerichtsshow Richter Alexander Holdt, weiterbeschäftigt u.a. im Scripted-Reality-TV in der Sendung Im Namen der Gerechtigkeit, seit 2023 beim reaktivierten Jugendgericht auf RTL als Staatsanwalt zu sehen – in seinem jüngsten Buch Täter und Opfer mit den etwas sperrig geratenen Untertiteln Der Rechtsanwalt über Verbrechen, die Leben zerstören. True Crime aus dem Blickwinkel der Opfer (2022) einleitend schreibt, die „Möglichkeit in uns“ tragen, „zum Opfer“ zu werden, müssen wir dann auch alle damit rechnen, im nächsten Podcast, im nächsten Buch, in der nächsten Gerichtsshow unseres Anwalts als Stoff wiederzukehren, wenn unser Fall Anlass bietet für Spott und Häme, für ein ‚selber schuld‘? Dies betrifft nicht zuletzt laufende Verfahren, wie Lisa Kräher in ihrem Artikel Ein öffentlich-rechtlicher Podcast als Mittel der Verteidigung vom 21. Februar 2024 darlegt:

„Es ist, nicht zuletzt, ja auch eine Frage des Respekts, wie launig zwei Podcaster da über einen brandaktuellen Fall reden. Nicht unwahrscheinlich, dass auch Angehörige des Opfers die Medienberichte über den Prozess verfolgen. Wie es wohl für sie ist, wenn sie zuhören, wie Belle und Stevens schon überlegen, welcher Darsteller Stevens dann in der Verfilmung des Falls spielen könnte. Ryan Gosling vielleicht?“

Serien wie Bodkin oder Only Murders in the Building spielen diese Konfliktlinien durch, wenn sie einerseits True-Crime-Podcasts als „necrophilia“ und „big business“ kritisieren (Bodkin S1, EP1), uns andererseits mit den wilden Amateur-Detektiv*innen im grotesk-skurrilen Zuschnitt deduktiver Inkompetenz und wahnwitzigen Mutmaßungen aber zugleich aufs Beste unterhalten – auch weil sie von den eigentlich für kriminalliterarisches Erzählen verantwortlichen Polizeibeamt*innen mit Verachtung gemaßregelt werden: „You goddamn true crime fuckin‘ numb-nuts“ (Only Murders in the Building, S1 EP1). Es sind Erzählungen, die in Umrissen die Umbrüche des Mediensystems spiegeln, wenn sie beobachten, wie aus Investigativ-Journalist*innen, aber auch ehemaligen TV-Detektiven, Broadway-Produzenten und Amateuren eben True-Crime-Podcaster*­innen werden – aus persönlicher Betroffenheit und ökonomischer Not.

 

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