[erschienen in: Hanna Hamel/Eva Stubenrauch (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023, S. 23-32]
I.
»Ich frag mich manchmal, WEN zum Henker sollen die neuen Medien eigentlich überhaupt noch verblöden wollen? Ich meine, die alten haben auf diesem Gebiet doch wirklich profundes geleistet. Und ich finde diesen Aspekt in der ganzen gegenwärtigen Mediendiskussion einfach nicht genügend gewürdigt. Aber so ist das bei den Warner Brothers, die warnen vor allem, nur vor einem nicht: vor sich selbst.«[1]
So äußert sich Keiner, der im Münchner Fanzine 59 to 1 die Literaturkolumne Keiner liest betreibt – und zwar im Jahre 1985. Was zu der Frage führt, von welchen neuen Medien da überhaupt die Rede sein kann. Immerhin wird »die Frage, was eigentlich für die Literatur gefährlicher ist: die neuen Computer oder die alten selbstgefälligen Geschmackspäpste vom Schlag eines Reich-Ranicki?«,[2] im Vorwort des 59 to 1-Readers ausdrücklich gestellt, dessen Titel lautet: Alles ist Pop! und der Rest macht uns auch sturzbetroffen. Was für eine beeindruckende Devise! Mitte der 1980er Jahre war Pop noch kein Gegenstand der Literaturwissenschaft und kam auch sonst – jenseits der Pop-Art – allenfalls in der Soziologie von Jugendbewegungen zu akademischer Aufmerksamkeit. Seither ist Grundstürzendes geschehen, und es ist heute kaum mehr vermittelbar, welch befreiende Wirkung dann von der Pop-Literatur ab Mitte der 1990er Jahre ausging.
Worin lag diese Wirkung begründet? Als ich um die Jahrtausendwende anfing, mich wissenschaftlich mit Pop-Literatur zu beschäftigen, fielen mir vor allem die zahlreichen Listen und Kataloge auf, mit denen diese Prosa die Aufmerksamkeit auf die Zeichenebene des Textes lenkte. Im Vergleich mit dem viel erfolgreicheren Populären Realismus von Autor:innen wie Bernhard Schlink, Daniel Kehlmann, Karl Ove Knausgård oder Elena Ferrante, der zeitgleich reüssiert, wäre allerdings auch für eine pop-affine Gegenwartsliteratur von, sagen wir, Christian Kracht, Leif Randt, Mithu Sanyal, Lisa Krusche oder Joshua Groß erst einmal zuzugeben, dass die wesentlichen Zeichen hier wie dort diegetische sind, also Zeichen auf einer Darstellungsebene, die sich in der Lektüre mehr oder weniger direkt herstellt. Mit anderen Worten: Es handelt sich hier wie dort prima facie um realistisches Erzählen.
Aus der semiotischen Realismusforschung kann man lernen, dass das realistische diegetische Zeichen keineswegs so einfach ist, wie es zunächst aussieht. Ein diegetischer Gegenstand in einem realistischen Erzähltext verweist nicht einfach auf eine Realität, sondern hat nach Hans Vilmar Geppert immer die doppelte Eigenschaft erstens eines sin-Zeichens, das auf eine singuläre Erscheinung verweist – diese wirkt auf der Darstellungsebene metonymisch in Welt- und Handlungsstrukturen, die das sin-Zeichen zugleich mit herstellt –, und zweitens eines legi-Zeichens, das auf eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit verweist, den Code, nach dem diese Welt- und Handlungsmuster funktionieren und vor allem im emphatischen Sinne etwas bedeuten,[3] und dies nunmehr auf einer dritten Ebene des literarischen Zeichens.
Vereinfacht gesagt: Wo realistisch erzählte Texte in unserer Welt spielen, können wir gar nicht anders, als den Nazi als legi-Zeichen für etwas Böses zu lesen, und wo die Handlung das nicht hergibt, weil sich die KZ-Wärterin als unschuldige Analphabetin herausstellt (was einem interessanten Plot durchaus zuträglich sein mag), da drängt sich sofort der Verdacht der Verharmlosung auf – sollen Nazis etwa als ungebildete Naive verharmlost werden? Der realistische Text muss das dann auffangen durch ein Arsenal erwartbar guter und böser Gestalten, die keine andere Funktion haben als die, die bekannte Ordnung von Gut und Böse zu bestätigen. Denn der realistische Text ist eben in der Bedeutung, die er seinen diegetischen Frames und Skripten gibt, alles andere als frei; diese sind wesentlich in unserem Weltwissen vorcodiert, und niemand ist strenger im Abgleich der literarischen Texte mit unseren Wissens- und vor allem auch ethischen Beständen als wir. Das führt dann, etwas schlicht gesprochen, dazu, dass wir beim Sonntags-Tatort ziemlich sicher sein können, dass der Obdachlose, das ADHS-Kid oder die Borderline-Aktivistin mit den Rastalocken eben nicht die Täter:innen sind.
Im Pop verhält sich das anders. Das diegetische Zeichen im Pop, ein Beatles-Hit, Jever trinken auf Sylt oder das Partymädchen aus Soloalbum, verweisen vor allem auf ein Paradigma (die Affinität zu den Listen weist bereits in diese Richtung). Folglich steht es immer schon in Anführungszeichen als Ergebnis einer Auswahl, deren Kontingenz auf seinen ontologischen Status abfärbt. Nun ließe sich einwenden, dass, texttheoretisch gesprochen, doch jedes syntagmatische Element per definitionem, als Ergebnis einer Selektion, auf sein Paradigma verweist. Realistische Texte stellen diese Selektion aber nicht aus, sondern verdrängen sie nach dem Prinzip des Mythos nach Roland Barthes, indem sie ihre Zeichenebene narkotisieren. Das realistische Zeichen auf der Darstellungsebene will sozusagen natürliches Zeichen sein, daher tendieren die entsprechenden Texte dazu, alles zu tilgen, was als Ausweis gestalterischer Willkür lesbar wäre – die nichtsdestoweniger immer herrscht. Diese Tilgung des Zeichencharakters automatisiert den Übergang von der Zeichen- zur Darstellungsebene und macht den Text zu einem ›realistischen‹.
Es gibt noch einen zweiten Unterschied: Die paradigmatische Enzyklopädie, auf die das Pop-Zeichen verweist, ist kein reiner Code. Sie ist vielmehr ebenfalls Teil der diegetischen Wirklichkeit. Wer die Beatles hört, hört nicht die Stones, aber eben auch vice versa. Dortmund-Fans sind keine Schalke-Fans, just dadurch definieren sich beide Lager jedoch aktiv gegenseitig, und wenn eine Romanfigur Jever auf Sylt konsumiert, dann säuft sie dezidiert kein Astra auf St. Pauli. Der paradigmatische Möglichkeitsraum steht in der kulturellen Logik des Spätkapitalismus als weltförmiges Dispositiv zur Verfügung. Entsprechend wird das sin-Zeichen, anders als im Populären Realismus, nicht selegiert, weil es wahr oder natürlich wäre, sondern weil es aufgrund seines spektakulären oder Fiktionswerts attraktiv ist, weil es in einem ästhetischen Sinne ›gut kommt‹.
Das gilt insbesondere auch für das vermeintlich authentischste Pop-Zeichen: das Ich der Pop-Persona. Diederichsen formuliert als Grundgesetz des Pop, dass »in keinem performativen Moment klar sein darf, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht«.[4] Von traditionell-realistischer Seite aus wird das dann gern als ›Ironie‹ mit der Konnotation von ›Unernst‹ beklagt; exemplarisch lässt sich das bis heute an der Rezeption von Christian Kracht oder Leif Randt belegen. Bereits Susan Sontag weist jedoch darauf hin, dass die »traditional means for going beyond straight seriousness – irony, satire – seem feeble today, inadequate to the culturally oversaturated medium in which contemporary sensibility is schooled.«[5] In einem größeren literaturgeschichtlichen Hallraum mag man bei solchen modal offengehaltenen Möglichkeitsräumen aber auch an Robert Musil denken. Mit dem Mann ohne Eigenschaften »ließe sich Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«[6]
II.
Diese Prozesse vollziehen sich heute in anderen ›kulturell übersättigten‹ sozialen Medien als in den 1960er Jahren. Der digitale Raum lässt sich dabei als die technische Verkörperung des hier skizzierten Dispositivs verstehen, unter dessen Bedingungen bereits Camp und Pop, als kulturelle Praktiken der Postmoderne, signifizierten. Insofern lässt sich die Frage nach einer postdigitalen Literatur reformulieren als: Wie und worauf verweist das postdigitale diegetische Zeichen?
Im Netz stehen die alternativen paradigmatischen Möglichkeiten jederzeit nebengeordnet zur Verfügung, und zwar materialiter. Sie könnten nicht nur ebenso gut sein, sie sind es, weil das Angebot, das sie machen, von anderen Stilgemeinschaften als der meinen (oder auch von mir in einem anderen Kontext oder zu einem anderen Zeitpunkt) ebenfalls nachgefragt wird. Selegiere ich also etwas Bestimmtes, dann (wie im Pop) nicht aufgrund seines höheren Wahrheitswertes, sondern aufgrund seiner höheren Attraktivität, seines spektakulären Fiktions-, Wallungs- und Befriedigungswertes. An dem systematischen Ort, an dem sich im klassischen Textmodell der Bedeutungscode findet, steht im neuen Dispositiv also zunächst einmal die ästhetische Zustimmung. Genau die wird durch Verkaufszahlen, Einschaltquoten und Klicks auch mit der Produktionsinstanz rückgekoppelt. Das bedeutet wohlgemerkt nicht automatisch, dass in einem solchen Modus nicht Themen und Probleme der Gegenwart ernsthaft verhandelt werden könnten – in realistischen TV-Serien wie The Wire etwa ist das durchaus der Fall. Doch ist ein solcher Realismus, so wäre meine These, unter Gegenwartsbedingungen nur als Re-entry in das beschriebene Modell denkbar – er bleibt also gegenüber dem Attraktionswert immer sekundär.
Wie das Pop-Zeichen, so ist auch das postdigitale Zeichen folglich nicht einfach ein Versprechen von Sinn, sondern immer bereits auch eine Erfüllung – mag diese noch so ephemer und kurzfristig sein. Um es noch einmal am Pop zu erläutern: Die zahlreichen Konsum-, Medien- und Markenartikel sowie die sexy Körper, die in Richard Hamiltons seminaler Pop-Art-Collage Just What Is It That Makes Today’s Homes So Different, So Appealing? (1956) figurieren, von den Comics über das Ford-Logo bis zur Financial Times, vom Tonbandgerät über das Büchsenfleisch zum Kino, werden sicher nicht unkritisch rezipiert; die Ironie des Pop-Lollis, den das männliche Model phallisch vor sich hält, spricht Bände. Und doch überwiegt die Attraktivität der hier verarbeiteten Welt amerikanischer Hochglanzmagazine, die positive Energie, die von all diesen Dingen ausgeht, jede implizierte Kritik bei weitem.[7] Zunächst einmal hat Hamiltons Kunst an einer faszinierenden neuen Kultur teil, auch wenn die transatlantische Rezeption dieser Kultur durch die International Group immer schon in Anführungszeichen stattfindet (und damit Pop erst als solchen definiert).
Dieses Zeichenverhältnis konstituiert einen ästhetischen Modus, den man ›getten‹ muss, wie Sontag das für Camp beschrieben hat. »Dieses Moment des ›Gettens‹ ist ein gutes Anzeichen dafür, dass wir es mit Ästhetischem im definierten Sinne zu tun haben.«[8] Sobald dies jedoch geschehen ist, sobald es einmal Klick gemacht hat, erfassen die Anführungszeichen, die diesen Modus bezeichnen, auch jene traditionelle, ›ernsthafte‹ Kunst, die zuvor von diesem unbeeinträchtigt scheinen konnte. »Once you ›got‹ Pop, you could never see a sign the same way again«, bemerkte bereits Andy Warhol.[9] Und warum? Weil von diesem Moment der ästhetischen Erkenntnis an kein Außerhalb jenes Dispositivs radikaler Pluralität und Paradigmatik mehr zugänglich ist, das Fredric Jameson als Logik des Spätkapitalismus beschrieben hat.[10] Deshalb macht uns der Rest auch sturzbetroffen: Er wirkt prätentiös und als strukturelle Lüge genau darin, dass er glaubt, über diesen archimedischen Punkt außerhalb verfügen zu können.
Mutatis mutandis gilt dies auch für das Dispositiv des Digitalen, auf das der Modus des Postdigitalen rekurriert. Bei der »Automatischen Literaturkritik« des Riesenmaschine-Blogs von Kathrin Passig und anderen gibt es einen Pluspunkt für »Text spielt in einer Welt, in der es das Internet gibt«, Abzüge aber, wenn hier die Selbstverständlichkeit fehlt: etwa wenn man »weltweites Netz« für Internet sagt oder sich im Gegenteil »besonders zeitgemäß durch technischen Zierrat (Dateinamen als Überschriften, Chatprotokolle, Programmcode im Text)« geriert. Negativ ins Gewicht fällt auch: »Probleme ließen sich durch Handy/GPS/Google lösen, Autor bleibt eine Begründung schuldig, warum Protagonisten nicht auf diese Idee kommen«.[11] Texte dieser Art spielten, so heißt es dort, in »den fünfziger Jahren des Geistes«, in einer immer noch sehr lebendigen Nachkriegsepoche also, in der Literatur sich als vermeintlich unbeeinflusst von allen anderen Medien gibt und sich ihnen als autonome Kunst vor- und übergeordnet wähnt.[12]
Nun muss das Digitale, um prägend für die Gegenwartsliteratur zu sein, nicht zwangsläufig als Motiv in dieser vorkommen. Zwar gibt es in jüngster Zeit viele spannende Texte, bei denen das der Fall ist und an denen die »Automatische Literaturkritik« nichts auszusetzen hätte, die Romane von Berit Glanz und Juan S. Guse beispielsweise, von Josefine Rieks, Samantha Schweblin und vielen weiteren, aber vielleicht ist die perfekte postdigitale Literatur etwas ganz anderes, sagen wir: Fantasy.[13] Fakt ist: »Unter postdigitalen Voraussetzungen ist kein Schreiben mehr vorstellbar, das von den Veränderungen der medialen und technischen Gegebenheiten unberührt bliebe«,[14] auch wenn nicht alle reflektieren oder wahrhaben wollen, dass sie unter digitalen Voraussetzungen arbeiten. Man könnte also von der anderen Seite her fragen: Was sollte das überhaupt sein, ein nicht-postdigitales diegetisches Zeichen in der Literatur des 21. Jahrhunderts? Wie könnte das aussehen? Lässt sich das anders denken als entweder als massive Verdrängung oder aber als strukturelle Lüge, als Vortäuschung einer irgendwie vormedialen Authentizität? Wir produzieren und rezipieren Texte mithilfe eines Second Screen, über die uns die paradigmatischen synchronen Archive auf Knopfdruck zugänglich sind. Hier ist en passant ein Unterschied zum Pop-Zeichen zu notieren: Das postdigitale Zeichen taugt nicht mehr zur Distinktion. Alle kennen alles. In wenigen Minuten kann man sich kulturelle Bestände aneignen, nicht nur als Wissen über diese, sondern in Form von Ganztexten, für die man sonst Monate der Recherche gebraucht hätte. Das ist ja mein Punkt: Das Mögliche ist immer schon da, in praesentia, ich muss nur den Browser öffnen.
III.
Das strukturalistische Modell, auf das ich mich hier stütze, entwirft »Literatur als sekundäres modellbildendes System«.[15] Das ist zwar zunächst auf ein realistisches Standardverfahren gemünzt, in dem die Zeichenebene eine Darstellungsebene konstituiert, auf der die Handlung der Figuren in einer Diegese abläuft, die selbst als Zeichen zweiter Ordnung noch einmal eine Bedeutungsebene hervorbringt. Als Modell ist das allerdings bereits modern, zumindest aber von einem Begriff autonomer Kunst her gedacht. In Literatur mit stabilem Bedeutungscode, sagen wir: in religiöser, aufklärerischer oder politischer Literatur, hätte man die Bedeutungsproduktion gleichsam umgekehrt zu denken. Hier steht die Bedeutung immer schon fest, der Autor sucht exemplarische Narrative dazu und führt die dann sprachlich mehr oder weniger geschickt aus (letztlich nach dem Muster der klassischen Rhetorik). Das führt in realistischen Texten tendenziell zu einer doppelten Automatisierung: Erstens ist der Übergang von der Zeichen- zur Darstellungsebene automatisiert – das eben verstehen wir unter Realismus als Verfahren –, zweitens ist darüber hinaus aber auch die Bedeutung des Erzählten von vornherein festgelegt. Spätestens in diesem Fall, wenn sich auch die Bedeutungsebene als prästabilierte von selbst versteht, wird der Text, zumindest aus ästhetischer, also kunstautonomer Sicht, entweder trivial oder ideologisch.
Gerät das dreistufige Modell, das wie gesagt am realistischen Erzählen entwickelt wurde, nun unter den Einfluss eines postmodernen und später eines postdigitalen Dispositivs, kommt zunächst der Midcult ins Spiel. Semiotisch kann man den klassischen Midcult als eine Figuration beschreiben, bei der der Text letztlich keine irgendwie ›tiefe‹ Bedeutung selbst herstellt, sondern nur so tut, als ob. Er suggeriert dazu durch gut eingeführte Signale eine Bedeutsamkeit, die er tatsächlich, qua Verfahren, nicht in der Lage ist zu decken. Oder mit Umberto Eco gesprochen: Er versucht, »ein Fragment der ›Kunst‹ einzuschmuggeln, um den Eindruck zu erwecken, der Zusammenhang selbst sei ›Kunst‹« – und zwar im emphatischen Sinne, also irgendwie deep und bedeutungsschwer –, »während er in Wahrheit bloß der Träger für ein ›zitiertes‹ Stilelement ist«.[16] Dabei operiert der Text genau auf der rückgekoppelten Ebene des Spektakulären, der Attraktivität, die er selbst leugnet. Was Eco als strukturelle Lüge verurteilt, funktioniert so gut, weil Angebot und Nachfrage übereinstimmen.
Der Neue Midcult, über den wir neuerdings diskutieren, setzt dagegen wieder klare Bedeutungsmuster ein (Antirassismus, Antikapitalismus, Feminismus etc.), was man für eine Rückkehr zu vormodernen Zeichenverhältnissen halten könnte. Tatsächlich handelt es sich hier aber vielmehr um besagten Re-entry stabiler Bedeutungscodes in das postmoderne Zeichenverhältnis: Diese Literatur ist eng rückgekoppelt mit Stilgemeinschaften, die genau diese ethisch-lebensweltlichen Codes erwarten und nachfragen. Das semiotische Problem von sin– und legi-Zeichen und die Trivialitätsgefahr durch doppelt automatisierte Semantik bleiben freilich virulent. Es war schließlich immer schon, bereits im Poetischen Realismus vor der Moderne, unklar, weshalb gerade literarischen Autor:innen eine wesentlichere Sicht auf die Welt möglich sein sollte als allen anderen. Dieses Legitimationsproblem löst heute eine Struktur, die im literarischen Diskurs der Gegenwart erstaunlich selbstverständlich geworden ist: dass nämlich die Autorin selbst als Opfer der ethischen Missstände deren Wahrheit und Bedeutsamkeit beglaubigt. Das zeigt sich schon in der narrativen Konstruktion, in der sich in der Regel eine traumatisierte, autornahe Heldin, sympathisch, aber durchaus auch mit Schwächen, durch eine mehr oder weniger feindliche Umgebung bewegt. Die sinntragenden diegetischen Ereignisse verweisen dann als legi-Zeichen auf die Schlechtigkeit der Anderen und generell die Missverhältnisse dieser Welt, den allgegenwärtigen Rassismus etwa oder die kapitalistische Ausbeutung, die als Bedeutungscodes nicht verhandelt werden, sondern immer schon vorausgesetzt erscheinen. Als sin-Zeichen aber entstammen sie der auktorial beglaubigten Diegese: ›Haben Sie das selbst erlebt?‹ – die auf Lesungen immer schon gern gestellte Frage galt einst als Ausweis literarischer Naivität und paraliterarischen Lesens, im gegenwärtigen Dispositiv muss sie positiv beantwortet werden können, wenn die Bedeutungsebene tragen soll. Dabei müssen solche Texte keineswegs so simpel geschrieben sein, wie die meisten Memoirs es sind, sie können auf discours-Ebene durchaus komplex daherkommen – ihre Trivialität ergibt sich aus dem automatisierten Übergang zum immer schon gegebenen Bedeutungscode.
Was solche Literatur nicht realisiert, ist, dass das Schlechte, das sie anprangert, auf diese Weise zur Voraussetzung ihrer stipulierten literarischen Bedeutsamkeit wird – also sozusagen zum literarisch Guten. Probleme können in diesem realistischen Modus weder auf der Höhe ihrer systemischen Komplexität dargestellt noch gar gelöst werden. Die narrative Schließung kann also allenfalls in der Selbstfindung der Heldin bestehen – das ist das typische Muster der Memoirs. Tatsächlich steht die Wahrheit in diesen Texten aber nicht einmal mehr, wie im klassischen Realismus, »am anderen Ende des Wartens«;[17] sie ist vielmehr immer schon vorausgesetzt, auch und vor allem beim Publikum. Gerade das erweist sie aber, so negativ sie auch scheinbar daherkommt, als Wohlfühlwahrheit, als bewohnbare Struktur und damit als Attraktionswert im Sinne des Spektakulären. Die wahre Schließung ist denn auch hier die zwischen Angebot und der Nachfrage einer Stilgemeinschaft, die sich in ihrer ästh-ethischen Identität nicht herausfordern, sondern bestätigen lässt.
IV.
Eine realistisch erzählte postdigitale Literatur auf der Höhe der Zeit müsste sich demgegenüber daran erkennen lassen, dass sie Verfahren findet, um das realistische Zeichenverhältnis zu enttrivialisieren. Wo jenseits des Midcultigen auf der einen Seite ein hedonistischer Realismus sich mit dem reinen Attraktionswert zufrieden gibt und keine höheren Ansprüche stellt, wäre auf der anderen Seite nach einem paradigmatischen Realismus zu fragen, der die Selektion aus äquivalenten Möglichkeiten in Vergleichsoperationen ausstellt, statt sie im Sinne eines immer schon Verstandenen zu narkotisieren. Mit Donna Haraway gesprochen: »[W]e need stories (and theories) that are just big enough to gather up the complexities and keep the edges open and greedy for surprising new and old connections.«[18] Indizien für eine solche Literatur sind zum einen dort erkennbar, wo Gegenwartsbefunde, selbst Autofiktionales, sich mit Möglichkeitsräumen des Parahistorischen, der Virtual Reality oder auch des Futuristischen im Sinne von Science-Fiction verbinden. Andererseits, und noch konkreter, lassen sich die zahlreich auftretenden Oktopusse, Quallen und vielarmigen Göttinnen als Marker eines solchen tastenden, nach vorne offenen, tentakulären Erzählens deuten (sie können derzeit als Lackmustest einer postdigitalen Literatur dienen, wie im Pop die Listen und Markennamen, und sie bringen auch einen Pluspunkt in der Automatischen Literaturkritik). Mit beidem verbindet sich das ebenfalls Haraway’sche Projekt des Making Kin, das Bestreben, möglichst viele auch sehr ungleiche Akteure in Teams zu integrieren, die die Zukunft gestalten wollen.
Wie sieht das Zeichenverhältnis etwa im Parahistorischen oder auch im leicht ins Virtuelle Verschobenen aus, wie es sich derzeit beispielsweise bei Kracht, Randt, Guse oder Groß findet? Das über ein realistisches Verfahren erzeugte diegetische Zeichen behauptet hier nicht, eine wirklichere Version der Realgeschichte zu zeichnen oder deren wahres Wesen zu entlarven. Diese Literatur pocht nicht, wie ihre populärrealistische Verwandte, auf »die empörte ›Vorführung‹ der Anrechte des Realen auf die Sprache«.[19] (›Das muss man doch mal sagen dürfen‹ bzw. ›Das muss endlich eine Stimme bekommen‹.) Ihr Modus ist weder referenziell noch allegorisch auf eine ›eigentliche‹ Wahrheit gerichtet. Das sin-Zeichen fungiert im paradigmatischen Realismus also nicht automatisch auch als legi-Zeichen, sondern, wenn der Ausdruck erlaubt ist, als para-Zeichen. Indem der Text eine äquivalente mögliche Welt entwirft, entautomatisiert er den Blick auf die wirkliche, denn beide paradigmatisieren sich in der Folge gegenseitig. Sprich: Das Wirkliche erscheint im selben Möglichkeitsraum wie das Fiktive, das ebenso gut sein könnte. Es wird als eine Option, ein Tentakel von mehreren möglichen lesbar. Damit wird das Wirkliche selbst letztlich Zeichen des Möglichen.
In seinem »Kalkülroman« Gentzen oder: Betrunken aufräumen (2021) verknüpft Dietmar Dath sein Erzählprogramm mit der angewandten Logik des früh verstorbenen Mathematikers Gerhard Gentzen und dessen amerikanischer Kollegin Ruth Barcan Marcus. Deren Möglichkeitsformel besagt laut Roman, »dass Wahrheit nicht Bedingung für Wirklichkeit ist, sondern die Einheit des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit«.[20] Mir scheint, dass Dath darin eine Formel für einen nichttrivialen Realismus liefert. Begreift man nämlich Wahrheit (nach Barcan/Dath: fälschlich) als Bedingung für Wirklichkeit, dann liegt die Bedeutung eines realistischen Romans darin, dass er in seiner erzählten Wirklichkeit (Diegese) ›die Wahrheit‹ darstellt – etwa die Wahrheit des Naziterrors, einer traumatischen Kränkung oder eines allgegenwärtigen Rassismus. Diese Wahrheit wäre aber immer schon gegeben, eben Bedingung, und die erzählte Wirklichkeit, die Diegese des Romans, wäre dann nur ihre mehr oder weniger triviale Ableitung. Das entspräche jenem oben kritisierten Realismus, der den paradigmatischen Raum verdrängt, in dem er spricht. Versteht man dagegen Wahrheit (nunmehr mit Barcan/Dath) als Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit, dann erhält jede erzählte Wirklichkeit ihre Bedeutung zuallererst in diesem paradigmatischen Raum der Möglichkeiten. Denn dieser Raum ist jenes Jenseits des bloß Faktischen, das sich im Wirklichen bemerkbar macht: Wo A ist, könnte auch A‘ sein. Die Bedeutung des Erzählten versteht sich in diesem Fall in mehrfachem Sinne nicht von selbst, denn es könnte auch anders sein, es könnte verändert werden und, nicht zu vergessen: Es könnte auch anders erzählt werden. Die Wahrheit des Wirklichen ist in diesem Fall nur im Vergleich mit dem jeweils auch Möglichen herstellbar, und genau damit wird die Bedeutungsebene des Textes Funktion seines literarischen Verfahrens. Das aber definiert einen Realismus, der nicht trivial ist – einen paradigmatischen Realismus.[21]
Der ist denn auch nicht weit von Pop gebaut, wenn es im Roman heißt:
»Das Kunstwerk ist, ich sag’ mal, ein Positivum, es kann sogar vom Guten und Richtigen handeln, es ist ja, wenn es ein Kunstwerk ist, selbst gut und richtig. In der imperialistischen Welt handelt es aber lieber von Pessimismus, Lustgrusel, Apokalypse, Frust, Kummer, wie neunzig Prozent der Sachen, die das Feuilleton anbetet, und spachtelt höchstens noch ein bisschen Versöhnungkitsch drauf […].«[22]
Womit der Unterschied von Pop- bzw. postdigitaler Literatur und altem wie neuem Midcult noch einmal gut formuliert ist. Statt vor den neuen Medien zu warnen, was immer Konjunktur hat und nie zu etwas führt, entwirft Dath mit Gentzen oder: Betrunken aufräumen eine Theorie des Romans als Möglichkeitsmaschine, wobei die Bezeichnung ›Kalkülroman‹ signalisiert, dass diese Maschine auf den gleichen Denkformen beruht, die – etwa in der Logik Gentzens – auch den Computer ermöglichen. Worin sich erweist, dass unser paradigmatischer Realismus als Verfahren dem postdigitalen Dispositiv angemessen ist.
Literatur
[1] Keiner [d.i. Dieter Klink], in: Thomas Diener/Dieter Klink (Hg.): Alles ist Pop! und der Rest macht uns auch sturzbetroffen, München 1985, S. 11.
[2] Thomas Diener/Dieter Klink: »Zu diesem Buch«, in: dies. (Hg.): Alles ist Pop! und der Rest macht uns auch sturzbetroffen, München 1985, S. 7-9, hier S. 8.
[3] Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994.
[4] Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik, Köln 2014, S. XXIV.
[5] Susan Sontag: »Notes on ›Camp‹« (1964), in: dies.: Against Interpretation, London 2001, S. 275-292, hier S. 288.
[6] Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek 1987, S. 16.
[7] Thomas Hecken weist darauf hin, dass die Independent Group diese Konsumgegenstände sogar selbst als »pop art« bezeichnete, »gleichrangig mit dem, was bislang als ›schöne Kunst‹ firmierte und der ›populären Kultur‹ entgegenstand«. Thomas Hecken: »Pop 2022«, in: Pop – Kultur und Kritik 21 (Herbst 2022), S. 132-151, hier S. 133.
[8] Moritz Baßler/Heinz Drügh: Gegenwartsästhetik, Göttingen 2021, S. 51.
[9] Andy Warhol/Pat Hackett: POPism. The Warhol ’60s, New York 1980, S. 39.
[10] Vgl. Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, London/New York 1991.
[11] o.A.: Automatische Literaturkritik Preis, https://docs.google.com/document/d/1CvANIOEDGGTiMWfvI_rCcBTJPZZrl0c70-FH6Z5DpGM/edit (aufgerufen am 30.3.2022).
[12] Ebd.
[13] Vgl. dazu Moritz Baßler: Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens, München 2022, S. 109f.
[14] Hanna Hamel/Eva Stubenrauch: »Workshop: Wie postdigital schreiben? Verfahren der Gegenwartsliteratur«, ZfL, 2022, https://www.zfl-berlin.org/veranstaltungen-detail/items/wie-postdigital-schreiben-verfahren-der-gegenwartsliteratur.html (aufgerufen am 24.6.2022).
[15] Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München ³1989, S. 39.
[16] Umberto Eco: »Die Struktur des schlechten Geschmacks«, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, übers. von Max Looser, Frankfurt a.M. 1986, S. 59-115, hier S. 88.
[17] Roland Barthes: S/Z (1970), übers. von Jürgen Hoch, Frankfurt a.M. 1987, S. 79.
[18] Donna Haraway: »Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin«, in: Environmental Humanities 6 (2015), S. 159-165, hier S. 160.
[19] Roland Barthes: Mythen des Alltags (1957), übers. von Horst Brühmann, Berlin 2010, S. 308.
[20] Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman, Berlin 2021, S. 244.
[21] Dieser Abschnitt variiert einen Abschnitt aus meinem Buch Populärer Realismus.
[22] Dath: Gentzen, S. 420.