Vom Berghain zu Balenciaga
von Diana Weis
11.6.2024

Ästhetisches Code-Switching zwischen Pariser High-Fashion und Berliner Underground-Techno

Prolog: Die Wankelmütigkeit der Mode

Die Arbeit an diesem Text begann im Herbst 2021; damals wurde die Modewelt von dem französischen Luxuslabel Balenciaga und dessen superberühmten Kreativdirektor Demna Gvasalia geradezu dominiert. Die Met Gala, das wohl medienwirksamste internationale Modeereignis, hatte gerade zum ersten Mal nach einer zweijährigen Pandemiepause wieder stattgefunden. Die Menschen strebten nach der tristen Jogginghosenzeit erneut zu Glanz und Glamour, sie wollten endlich wieder aufregende Kleider auf dem roten Teppich sehen. Einige der meistfotografierten Stars der Veranstaltung, darunter Rihanna, Kim Kardashian, Isabelle Huppert oder Elliot Ross, trugen an diesem Abend Looks von Balenciaga.

Dass ein Luxusmodelabel zum Liebling der High Society wird, ist an sich nichts Neues. Zu anderen Zeiten waren es Chanel, Versace oder Gucci. Was den Hype um Balenciaga so besonders machte, war die Art der Entwürfe, die dem öffentlichen Bild von exklusiver Designermode und der Idee von Luxus eine ganz neue Richtung gaben.

Demna verstand die Begehrlichkeiten der Netzkultur besser als jeder andere zeitgenössische Designer.  Er wusste, dass die Menschen immer noch Modeprodukte konsumierten, um Status und Überlegenheit zu demonstrieren, aber die alten Codes von Glamour und High Fashion bedeutungslos und langweilig geworden waren. In einem Interview mit der britischen Vogue erklärte er: „[Ein Logo] kann jemandem eine Vorstellung – ein Gefühl – von Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vermitteln, als deren Teil er gesehen werden möchte“.[1]

Im Folgenden werde ich mich vor allem auf die auffälligen Parallelen zwischen den elitären sozialen Sphären, die normalerweise mit Luxuskonsum assoziiert werden, und der Berliner Underground-Techno-Szene, insbesondere dem Berghain, das als „exklusivster Club der Welt“[2] bezeichnet wird, konzentrieren. In einer krisengebeutelten Welt hat der Lebensstil des lässigen Müßiggangs, der Juwelen, des Champagners und der Privatjets viel von seinem Reiz verloren. Stattdessen verkaufte Demna Dekadenz und einen Hauch von Darkroom-Sex. Dafür ließ er sich von den typischen Outfits der Berliner Clubszene inspirieren, die er in ihre einzelnen Elemente zerlegte und konzeptionell zuspitzte: All-over-Black-Looks, die funktionalen Sportswear mit gewagten Fetisch-Accessoires kombinierten. So gründete der kometenhafte Aufstieg von Balenciaga zu einem guten Teil auf einem spezifischen Stil, der als Berghain-Look weltweit bekannt wurde.

Am 2. Oktober 2022 zeigte Balenciaga die Frühjahr/Sommer-Kollektion 2023 während der Pariser Fashion Week in einem spektakulären Bühnenbild: Der spanische Künstler Santiago Sierra hatte im Kongresszentrum Parc des Expositions de Villepinte am Stadtrand eine dystopische Kulisse aus 275 Kubikmetern Schlamm geschaffen. Die notorisch schlecht gelaunten Models stapften durch Modder und Pfützen, versauten dabei ihre Schuhe und durchnässten die Säume ihrer bodenlangen Kleider. Einige trugen dazu Handtaschen, die wie zerfledderte Teddybären aussahen.

Die Ereignisse, die sich daran anschlossen, haben die heutige Rezeption der von Demna geprägten Balenciaga-Ästhetik verändert. Eine Bestandsaufnahme der verschiedenen Bezüge, die zwischen diesem Stil und den Bekleidungspraktiken der Berliner Clubbesucher:innen bestehen, und im weiteren Sinne zwischen der Pariser Luxusindustrie und dem Berliner Underground, muss daher notwendigerweise eine Analyse der Skandalisierung dieser Ästhetik im Mainstream-Diskurs beinhalten.

Die sozialen Medien der Modebranche waren in den nächsten Tagen voll von Bildern von Balenciagas Schlammspektakel. Viele waren begeistert, manche verstört, wie immer, seit Demna das Ruder bei Balenciaga übernommen hat. Doch im Nachhinein scheint dieser Abend des 2. Oktober als ein Wendepunkt. Die tektonischen Platten der Publikumsgunst und des Zeitgeschmacks begannen sich zu verschieben und steuerten unaufhaltsam auf eine katastrophale Kollision zu.

Eröffnet wurde die Show von dem Rapper Kanye West, der zu diesem Zeitpunkt dank seiner Zusammenarbeit mit dem Sportartikelhersteller Adidas auch als Designer äußerst erfolgreich war. Doch West, der eine Art futuristischen Kampfanzug trug, hatte in den Monaten zuvor immer wieder für Negativschlagzeilen gesorgt, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Scheidung von seiner Ex-Frau Kim Kardashian, die ihn der Belästigung und des Stalkings beschuldigte. Viele fragten sich, warum Balenciaga weiterhin an West als Promimodell festhielt. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Nur einen Tag nach seinem Auftritt in der Modder-Arena von Balenciaga zeigte sich West öffentlich händchenhaltend mit der rechtskonservativen politischen Kommentatorin Candace Owens in Paris. Beide trugen T-Shirts, die offenbar von West selbst entworfen worden waren und auf deren Rückseite der kontroverse Slogan White Lives Matter stand.

Jetzt ging es Schlag auf Schlag: Am 8. Oktober setzte West einen Tweet ab, in dem er einen persönlichen Rachefeldzug gegen „Jewish People“ ankündigte. In den nächsten Tagen geriet verstrickte er sich zunehmend in antisemitische Verschwörungstheorien, teilweise als Reaktion auf die öffentliche Kritik an seiner Aussage.[3]  Am 21. Oktober beendete Balenciaga offiziell die Zusammenarbeit mit Kanye West, doch wie sich herausstellte, sollten die wahren Probleme für das Luxushaus erst noch beginnen.

Ein paar Wochen später, im November 2022, veröffentlichte Balenciaga eine Werbekampagne für die ironische Merchandise-Linie Balenciaga Objects. Auf der dazugehörigen Website gab es vom Feuerzeug über Schlüsselanhänger und Kaffeetassen bis hin zu Bettwäsche und Hundefutternäpfen alles zu kaufen – versehen mit dem Balenciaga-Logo zu exorbitant hohen Preisen. Für die Kampagne wurde der italienische Dokumentarfotograf Gabriele Galimberti engagiert. Zwei Jahre zuvor, im Jahr 2020, hatte Galimberti einen großen internationalen Erfolg mit seiner Serie Toy Stories, die Kinder auf der ganzen Welt in ihren Zimmern zeigte, ihre Besitztümer fein säuberlich vor ihnen aufgereiht.  Die Werbebilder für Balenciaga wurden auf ganz ähnliche Weise konzipiert, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die Kinder wurden gecastet, die Kinderzimmer von Setdesignern gebaut, und statt Spielzeugen lagen den Kindern jetzt die Produkte aus der Balenciaga Objects-Kollektion zu Füßen.

Gekleidet in minimalistische Sportoutfits mit Balenciaga-Logo, hielten die Kinder die zerfledderten Teddybär-Handtaschen, die zuvor Teil der Pariser Schlammschau waren, in ihren kleinen Händen. Durch die ruhigere Inszenierung der Bilder waren die Details nun auffälliger: Ein Bär trug ein Netzhemd und Nietenarmbänder, ein anderer schwarze Lederriemen um seinen Oberkörper. In den Medien war schnell die Rede von „Plüschtieren in Bondage-Ausrüstung“[4] oder „BDSM-Teddybären“[5]. Kim Kardashian, die nur wenige Tage zuvor noch medienwirksam in einem Balenciaga-Komplettlook posiert hatte, zeigte sich nun „angewidert und empört“[6] über das Label.

In den folgenden Wochen zog der Skandal immer weitere komplizierte Kreise und wies schließlich alle Elemente einer ausgewachsenen Verschwörungstheorie auf[7].  Der Ruf eines Modehauses, vielleicht der einer ganzen Branche, stand auf dem Spiel – und eine Menge Geld. Innerhalb einer einzigen Saison fiel Balenciaga von der meistgesuchten Modemarke bei Google auf einen bescheidenen Platz 18 zurück.[8]

Demna, der selten Interviews gab und sich in der Vergangenheit nie zu einem der zahlreichen Skandale, die er verursachte, geäußert hatte, brach schließlich am 2. Dezember 2022 sein Schweigen und entschuldigte sich öffentlich. Im März 2023 zeigte er in Paris seine nächste Kollektion: schlicht, minimalistisch, skandalfrei. Er habe nun begriffen, schrieb er in einer persönlichen Notiz, die er auf den Stühlen der geladenen Gäste hinterließ, dass sich die Mode verändert habe, dass sie nicht länger eine Form der Unterhaltung sein könne.[9]

Trash-Chic: Balenciaga und die Erfindung des neuen Luxus

Um den Aufstieg und Fall von Balenciaga richtig zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die Geschichte des Labels notwendig: 1917 von dem baskischen Modeschöpfer Christobál Balenciaga gegründet, hat das Haus seit 1937 seinen Sitz in Paris. Der Designer feierte vor allem in den 1950er und 1960er Jahren große Erfolge, indem er ein neues, freies und extravagantes Frauenbild mitprägte. Balenciaga interpretierte die Tunika neu und lancierte erfolgreich den Baby-Doll-Dress und das Sackkleid. Durch die Umhüllung des weiblichen Körpers mit opulenten Stoffen schuf er Silhouetten, die sich über die natürliche Form der weiblichen Figur hinwegsetzten. Ein kühner Schritt nach vorne, nachdem Diors konservativer New Look das vorangegangene Jahrzehnt dominiert hatte. Die voluminösen Kleider von Balenciaga, die nur einer Handvoll gut betuchter Kundinnen aus der Oberschicht zugänglich waren, definierten den Luxus neu: Statt sich in unbequeme Kleider zu zwängen, um ihre winzige Taille zu betonen, trugen die Damen nun fast architektonische Gebilde, die ihnen erlaubten, Raum einzunehmen. Im Jahr 1968 zog sich Christobál Balenciaga aus der Öffentlichkeit zurück. Obwohl er mit seinen locker sitzenden, auffälligen Kleidern ein visueller Vorreiter der Hippie-Bewegung gewesen war, gefiel ihm die neue, von jugendkulturellen Protesten geprägte Gesellschaftsform nicht. Er vermisste den Glamour der High Society und bemerkte resigniert: „There is no one left to dress.“[10]

Nach Balenciagas Tod im Jahr 1972 wurden mehrere Versuche unternommen, das Label wiederzubeleben. Die Designer Nicholas Ghesquière und Alexander Wang wurden als Kreativdirektoren eingestellt, hatten aber nur mäßigen Erfolg. Erst 2015, als der Georgier Demna Gvasalia, der zuvor bereits als Mastermind des Designerkollektivs Vetements für Schlagzeilen gesorgt hatte, den Job übernahm, konnte Balenciaga wieder an seine alten Glanzzeiten anknüpfen. Demnas Rezept war denkbar einfach und ein wenig respektlos: Anstatt in Balanciagas Archiven zu wühlen, um mit zeitgenössischen Interpretationen ikonischer Designs zu punkten, wie es Ghesquière und Wang versucht hatten, exportierte er kurzerhand das bereits erfolgreiche Konzept von Vetements zu seinem neuen Arbeitgeber. Tatsächlich gingen die Entwürfe von Balenciaga und Vetements (Gvasalia blieb hier bis 2019 federführend) so nahtlos ineinander über, dass es fast unmöglich gewesen wäre, sie ohne die exzessiven All-Over-Prints der jeweiligen Markennamen zu unterscheiden, einem der Erkennungsmerkmale von Demnas Stil. Es verging keine Saison, in der Balenciaga nicht einen weiteren wohl kalkulierten Skandal lancierte. Der Ansatz war immer derselbe: Demna ließ sich von Versatzstücken der Jugend- und Trashkultur inspirieren und übersetzte sie in sündhaft teure Statussymbole.

Für Herbst/Winter 2016 entwarf er die Bazar Bag, eine Tragetasche aus feinstem Kalbsleder, deren Design von den billigen Nylontaschen inspiriert ist, die fliegende Händler für den Transport ihrer Waren verwenden. Im Januar 2017 brachte Balenciaga den Triple S Sneaker auf den Markt, einen klobigen weißen Sportschuh mit einer dicken Sohle aus geschäumtem Kunststoff. Die Einführung dieses Sneakermodells stellt einen wichtigen auslösenden Moment für die Mode der 2010er Jahre dar, denn nicht nur war der Begriff Ugly Sneaker plötzlich in aller Munde, sondern auch weitere Luxuslabels fingen nun damit an, auf dem Sneakermarkt um eine junge Kundschaft konkurrieren (Luis Vuitton folgte ein Jahr später mit dem Modell Archlight, Dior kollaborierte mit Nike etc.).

Im Jahr 2022 setzte Demna die Strategie fort, billige und unglamouröse Waren als Luxusartikel nachzubilden, indem er die treffend benannte Trash Bag sowie die Lay’s x Balenciaga Potatoe Chips Clutch Bag herausbrachte. Während diese Technik des Konterkarierens von High-Fashion-Produkten mit profanen oder „Low-Class“-Codes später noch im Detail untersucht wird, muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass die Balenciaga-Ästhetik der Demna-Ära von Anfang an eng mit den Stilpraktiken der Berghain-Crowd verbunden war. Tatsächlich wurde diese Verbindung in einem solchen Maße als symbiotisch angesehen, dass oft nicht klar ist, wer sich auf wen bezog – oder wie diese ästhetischen Parallelen kulturell bewertet werden mussten. Ein Modeblogger bemerkte beispielsweise, dass der Instagram-Account von Balenciaga „wie ein privater Account von jemandem aussieht, der im Berghain feiern geht“[11] – während ein Hochglanzmagazin die Tatsache bewunderte, dass die Menge im Berghain aussah, als käme sie gerade von einer Balenciaga-Show[12].

Diese offensichtliche Liebesbeziehung zwischen High-Fashion-Looks und elektronischer Musik gefiel jedoch nicht jedem: Ein Musikjournalist beschwerte sich, dass das Berghain zu einer „seelenlosen Simulation von Coolness“ geworden sei, und unterstrich seine Einschätzung mit der Feststellung, dass „[h]alf the dancefloor looked like they stepped from the Balenciaga runway“[13]. Begleitet wurde der Artikel von einer Fotomontage, die eines von Gvasalias Schlammspektakel-Models in schwarzem Leder und Ketten zeigte, das über das Pflaster vor dem Eingang des Clubs stampfte.

Authentizität und der Mythos des subkulturellen Kapitals

Der Begriff „Style Tribes“, manchmal auch als ‚ästhetische Stämme‘ bezeichnet, wurde 1994 von dem Anthropologen Ted Polhemus geprägt[14], um die Fragmentarisierung der Gesellschaft durch eine Vielzahl visuell erkennbarer Untergruppen zu beschreiben, und wurde schnell von der Konsum- und Jugendkulturforschung übernommen. Auch wenn das Konzept eines modernen Tribalismus einige problematische Aspekte aufweist[15], bleibt die Idee wichtig, dass Konsumstile im späten 20. Jahrhundert zu den hervorstechenden Merkmalen von Wertegemeinschaften geworden sind, noch vor sozialer Klasse, regionaler Herkunft usw.  Wie Maffesoli schreibt: „So wie die Politik das Zeichen der Moderne war, könnte die Ästhetik das Zeichen der postmodernen Gesellschaft sein.“[16]

Die frühe Techno-Szene in Berlin war stolz auf ihre Vielfalt und Inklusivität. Raver, die sich zu Veranstaltungen wie der Love Parade versammelten, die in ihrer ursprünglichen Form zwischen 1989 und 2003 stattfand, wurden als „Familie“ bezeichnet und übernahmen die Werte „Peace, Love, and Unity“ als ihr Motto.[17] Der frühe „Techno-Look“, der Mitte der 1990er-Jahre aufkam, spiegelte diese naive, hippieeske Einstellung durch seine Vorliebe für leuchtende Farben, ungewöhnliche Materialien wie Plastik und Plüsch sowie die Einbeziehung von verspielten, ja kindlichen Elementen wie Teddybären, verzierten Haarspangen und Schnullern wider. Joe Perry beschreibt Marushas Videoästhetik für ihren frühen Rave-Goes-Mainstream-Hit „Somewhere“: „Sexualized but also infantilized, Marusha and her toys collapse childhood and adulthood into a reverie of happy, dreaming youth unfolding in the vacant space of an eternal present.“[18]

Martin Wuttke, der 1995 das Berliner Modelabel Next G+U.R+U Now gründete, erklärte, dass die Kleidung für Raver bequem genug sein musste, um die ganze Nacht zu tanzen. Deshalb trugen sie Turnschuhe in den Club, wobei sie funktionalere Running- oder Hikingmodelle den klobigen Basketball- und Skateschuhen der Hip-Hop-Crowd vorzogen. Designer wie Wuttke orientierten sich an der Sport- und Funktionskleidung und machten diese sexy[19].  Es dauerte nur wenige Jahre, bis Clubwear zu einem Massenmarkt wurde[20]. Natürlich suchten die Underground-Raver daraufhin nach neuen Wegen, um sich vom Mainstream abzugrenzen. Die Berliner Szene teilte sich zunehmend in verschiedene Clubs und Musikrichtungen auf, deren Anhänger:innen für Insider auf den ersten Blick an ästhetischen Codes zu erkennen waren. Während die einen die offene Campness von Glitzer-Make-up und Federboas bevorzugten, bevorzugten andere härtere, vom Militär inspirierte Looks.

Wenn es um die Kleiderordnung im Berghain geht, wird die Farbe Schwarz fast immer als erstes genannt. Auf einer Reihe von Online-Plattformen finden sich Artikel darüber, wie man die Chancen erhöht, von den notorisch strengen Türstehern des Clubs durchgewunken zu werden, mit Ratschlägen wie: trage Schwarz mit ausgefallenen Accessoires (Ledergeschirr, Ketten usw.)[21] oder trage Schwarz und zeige etwas Haut, aber ohne so zu wirken, als hätte man sich extra Mühe gegeben[22]. Natürlich sind die Hardcore-Techno-Fans nicht die einzige Subkultur, die sich überwiegend in Schwarz kleidet. Einige Kulturtheoretiker haben darauf hingewiesen, dass diese Vorliebe nicht willkürlich ist. Dittman argumentiert, dass die Farbe Schwarz die Eigenschaften aufweise, eine allgemeine Verachtung für das Weltliche auszudrücken.[23] Stigglegger bezeichnet Schwarz als Metapher für die Abgründe der Popkultur, ihre Schattenseite, und weist darauf hin, dass ein komplett schwarzes Outfit sowohl als radikal individualistisch als auch als elitär angesehen werden kann[24], während Harvey die konformistische Dominanz schwarzer Kleidung als „Ausdruck der Unpersönlichkeit“ interpretiert[25].

Die enge Beziehung zwischen dem Berghain und der Farbe Schwarz lässt sich auch durch einen Blick auf die Geschichte des Clubs erklären. Vor dem Berghain gab es das Ostgut, das 1998 eröffnet wurde und eine ähnliche dystopische, postindustrielle Atmosphäre wie sein Nachfolger ausstrahlte. Das Ostgut war jedoch in erster Linie ein Schwulenclub, der für seine Hardcore- und Fetisch-Veranstaltungen bekannt war. Hier trafen die Kleiderordnungen der schwulen Lederszene auf ein jüngeres Rave-Publikum, das Streetwear bevorzugte. Schwarz wurde bald zu einem gemeinsamen Nenner, der beide Gruppen von Männern vereinte. Im Jahr 2000 eröffnete das Ostgut einen zweiten Raum im ersten Stock des Clubs, die Panoramabar, die von Anfang an auf ein trendigeres Publikum ausgerichtet war, darunter auch Frauen und heterosexuelle Männer. Fast sofort wandelte sich das Ostgut von einem nischigen Techno-Fetisch-Club zur angesagtesten Location der Stadt[26]. Nach dem Abriss des Ostguts im Jahr 2003 wurde der Club 2004 als Berghain wiedereröffnet, wobei das Konzept eines härteren main floors mit Zugang zu den dark rooms, die nicht ausschließlich, aber überwiegend von schwulen Männern genutzt werden, und der Panoramabar als weichere, heterofreundlichere Location im Obergeschoss beibehalten wurde. Bis heute geht ein Großteil der Anziehungskraft des Berhgains auf seinen Ursprung als schwuler Underground-Sexclub zurück, und während diese Szene auch heute noch ihren Platz im Berghain hat, wurde die inzwischen weltberühmte Kleiderordnung von einer anderen Gruppe adaptiert.

Der Begriff „subkulturelles Kapital“ wurde 1995 von Sarah Thornton geprägt und beschreibt den Status, der mit dem Wissen über eine bestimmte Szene, dem Besitz relevanter physischer Objekte, dem Auftreten durch Stil sowie dem wahrgenommenen Engagement für oder der Identifikation mit dieser Szene einhergeht[27]. Im Diskurs über subkulturelle Praktiken geht subkulturelles Kapital oft Hand in Hand mit dem Konzept der Authentizität, in dem Sinne, dass das eine nicht ohne das andere erreicht werden könne. Auf der grundlegendsten Ebene kann Authentizität definiert werden als eine zuverlässige Repräsentation eines Originals[28]. Vannini und Willimas fügen hinzu, dass „Authentizität nicht so sehr ein Seinszustand ist, sondern vielmehr die Objektivierung eines Repräsentationsprozesses, d. h. sie bezieht sich auf eine Reihe von Eigenschaften, die nach übereinstimmender Auffassung der Menschen in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ein Ideal oder Vorbild darstellen“[29]. Aus dieser Perspektive sind subkulturelles Kapital und Authentizität kaum noch von ihren Simulationen zu unterscheiden, da beide ein hohes Maß an Wissen über eine bestimmte Szene voraussetzen. Thorntons Beobachtung, dass dieses Wissen (im Gegensatz zu Bourdieus ursprünglichem Konzept des kulturellen Kapitals) hauptsächlich über die Medien verbreitet wird[30], trägt zur Ununterscheidbarkeit bei.

Gleichzeitig kritisiert Thornton, dass die politische Relevanz subkultureller Bewegungen in der akademischen Forschung oft überbewertet wird[31]. Diese Analyse trifft auf die Techno-Szene zu, die sich bewusst weigerte, sich an traditionellen politischen Aktionen zu beteiligen[32].  Es ist wahrscheinlich, dass die Ursprünge des Berghain-Looks in der Beobachtung und Anpassung der ersten Underground-Crowd des Clubs liegen, angefacht durch den anschließenden Medienrummel. Denn im Kontext des Clubs „überschneidet sich subkulturelles Kapital weitgehend mit queerem Kapital […] wer wie eine sexuelle Minderheit aussieht, hat bessere Chancen, reinzukommen“[33]. Man kann also festhalten, dass eine Aneignung subkultureller Codes innerhalb des Clubs bereits stattgefunden hat, lange bevor Demna sie in die Hände bekam. Was als Berghain-Look bekannt geworden ist, ist eine Mischung aus kommerzialisierten schwulen Fetisch-Codes und dem Komfort von Sportkleidung, zusammengehalten durch die Farbe Schwarz und vorangetrieben durch das Marktbewusstsein des urbanen Hipstertums.

Demna ist bei weitem nicht der erste Modedesigner, der sich von den widerspenstigen Stilen subkultureller Kleiderordnungen inspirieren ließ. Spätestens seit Punk sind Anleihen bei „der Straße“ zu einem Automatismus geworden, der die High Fashion mit beständigen Frischeinjektionen versorgt. Man denke nur an den legendäre safety pin dress von Versace, den die Schauspielerin Liz Hurley 1994 bei einer Filmpremiere trug. Es gibt jedoch einen bemerkenswerten Unterschied zum angestrebten Ideal der Coolness im 21. Jahrhundert: Obwohl Hurleys schwarzes Versace-Kleid, das von übergroßen goldenen Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde, als Revolution des red carpet dressings gilt[34], war Hurley selbstverständlich weder Teil der Punk-Kultur, noch wollte sie diesen Eindruck erwecken. Sie war einfach eine Prominente in einem Designerkleid, wenn auch einem gewagten.

Bei der Analyse der ästhetischen Codes auf Social-Media-Kanälen wie Instagram kommt dem Begriff Authentizität eine besondere Bedeutung zu. Der Marketingberater Noch Southgate bezeichnet Authentizität als „the truest hallmark of cool behaviour“[35]. Jüngere Konsument:innen lehnen leere Statussymbole zunehmend ab und möchten stattdessen an Praktiken, Szenen oder Begegnungen teilhaben, die als authentisch wahrgenommen werden. Vor allem Berlin scheint sich besonders gut für eine neue Art von „postindustriellem urbanem Pastoralismus“[36] zu eignen. Die düstere elektronische Musikszene der Stadt verspricht Zugang zu einzigartigen mikrokulturellen Erfahrungen, die nirgendwo anders erlebt werden konnten.

Nancarrow und Nancarrow argumentieren, dass der ideologische Diskurs um Authentizität die Populärkultur zugunsten einer neuen Vorstellung von Exklusivität abwerte; der Begriff sei so zu einem politischen Instrument der Kritik an Massenkultur und Elitismus geworden[37]. In diesem Sinne kommt der Journalist Tobias Rapp in seiner Analyse des Phänomens Technotourismus zu dem Schluss, dass die Berliner Türpolitik „radikal demokratisch“[38] sei. Dies ist insofern richtig, als subkulturelles Kapital weniger klassengebunden ist als kulturelles Kapital, aber dennoch in ökonomisches Kapital umgewandelt wird[39]. Der Kulturwissenschaftler Johan Andersson hält dagegen, dass im Berghain die Choreografie der Warteschlange besonders „brutal“ sei, da sie die Abgewiesenen zu einem „Walk of Shame“ vorbei an den noch in der Schlange wartenden zwinge[40]. Man kann argumentieren, dass das Berghain, „der exklusivste Nachtclub der Welt“[41], alle Merkmale einer privilegierten Elite-Institution aufweist, was durch die Tatsache unterstrichen wird, dass die Mehrheit der Berliner Techno-Tourist:innen, die in den letzten zwei Jahrzehnten Geld in die leeren Kassen der Stadt gespült haben, weiße Europäer:innen sind und der Mittelschicht angehören.[42]

Ästhetisches Code-Switching: How low can you go?

Der Begriff ‚Code-Switching‘ stammt aus der Linguistik, wo er meist zur Beschreibung des Sprachverhaltens bilingualer Communities verwendet wird. Einige Soziolinguist:innen weisen jedoch auf enge Verbindungen zwischen Sprache, Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und anderen sozialen Positionen hin. Vogt zum Beispiel schreibt, dass Code-Switching im Kern ein psychologisches Phänomen ist, dessen Motivatoren und Auswirkungen außerhalb des sprachlichen Bereichs zu suchen sind[43]. Der Begriff des visuellen oder modischen Code-Switching wurde bisher nur von wenigen Autor:innen untersucht, die sich mit dem Thema Kleiderordnungen am Arbeitsplatz befasst haben. Analog zum sprachlichen Code-Switching wird untersucht, wie sich Individuen in verschiedenen Lebensbereichen bewegen, denen jeweils unterschiedliche Codes zugeordnet sind – zum Beispiel die der hegemonialen Mehrheit und die der Migrant:innengemeinschaften[44].

Eine Reihe von Modetheoretiker:innen, die Roland Barthes folgen, untersuchen Mode als eine Form der Artikulation, die durch Zeichen funktioniert[45].  In seinem 1988 erschienenen Buch Culture and Consumption argumentierte der Anthropologe Grant McCracken, dass Modeobjekte als Bedeutungseinheiten nicht mit Worten gleichgesetzt werden können, weil es unmöglich ist, sie zu „Körpersätzen“ (body sentences) zu kombinieren. Als Beispiel führte McCracken eine empirische Versuchsanordnung an, bei der eine Reizfigur einen eleganten Herrenanzug mit groben Arbeiterstiefeln trug. Er stellte fest, dass diese ungewöhnliche Kombination die beobachtenden Probanden in tiefe Verwirrung stürzte, da das dargestellte Subjekt weder dem bürgerlichen noch dem Arbeiterbereich vollständig zugeordnet werden konnte[46].

Überträgt man diese Überlegungen auf Balenciagas ikonische Modeprodukte – wie den Triple-S-Sneaker oder die Trash Bag -, so scheint sich das Modepublikum in den 25 Jahren seit McCrackens Studie weiterentwickelt zu haben. Nicht nur war es nun offenbar in der Lage, zwischen der „billigen“ Oberflächenästhetik der Produkte und ihrem monetären wie kulturellen Wert als Designobjekte zu unterscheiden, sondern es fand sogar Gefallen an genau diesen semantischen Brüchen. Die Lay’s x Balenciaga Potato Chips Clutch Bag wurde in den sozialen Medien und in der Modepresse kontrovers diskutiert und entweder als brillanter Kommentar zur Wegwerfkultur, als lustiger Scherz oder einfach als Verarschung interpretiert. Zu keiner Zeit hatten die Diskursteilnehmer:innen Anfang an kein Problem damit, die kognitive Spannung zwischen einer 1.800 Euro teuren Luxustasche aus Kalbsleder in Form einer Chipstüte und einer realen Chipstüte aus Plastik als Grundlage ästhetischer Bedeutungsproduktion zu begreifen.

Die Anwendung des Konzepts des ästhetischen Code-Switching auf die dynamische Beziehung zwischen Balenciagas High-Fashion-Produkten und dem subkulturellen Kapital des Berghains funktioniert in beide Richtungen: Während der Konsum von teuren Designerstücken als oberflächlich und bedeutungsleer angesehen wird, erfordern Demnas Modeobjekte (medial vermitteltes) subkulturelles Wissen über Coolness und Authentizität. Gleichzeitig profitiert der Mythos Berghain davon, mit der elitären Sphäre der High-Fashion in Verbindung gebracht zu werden. Die Schauspielerin Claire Danes performte 2015 in der US-Talkshow Ellen einen „Technotanz“ und schwärmte von ihren Erlebnissen im Berghain[47]. Wenn eines auf den Club Berghain und das Label Balenciaga gleichermaßen zutrifft, dann dass sie sexuelle Devianz für ein Mainstream-Publikum konsumierbar gemacht haben. Wenn das Alleinstellungsmerkmal Berlins darin besteht, die Antithese zur Pariser old money Eleganz zu sein, stellt sich die Frage, ob das Original nicht ebenso sorgfältig konstruiert wurde wie seine Simulationen von Balenciaga.

Subkulturelle Aneignung: Symbolische Räume

Im Dezember 2021 eröffnete die erste Balenciaga-Boutique in Berlin, die von der Presse treffend als „ein kleines Berghain am Ku’damm“ beschrieben wurde[48]. Das minimalistische Beton-Brut-Interieur stand in krassem Gegensatz zu den stuckverzierten Fassaden der berühmtesten High-Fashion-Einkaufsstraße Berlins. Doch damit nicht genug der Ähnlichkeiten: Nach der Eröffnung der Boutique bildete sich vor der Tür eine Schlange eifriger Käufer:innen, meist jung, meist weiß, in Schwarz gekleidet, mit futuristischen Sonnenbrillen und klobigen Turnschuhen, die optisch nahtlos in die Schlange vor dem Berghain einige Stunden später überging. Wie Andersson schreibt, bildet die Warteschlange eine menschliche Erweiterung der imposanten Architektur des Berghains, die in den urbanen Raum um das Gebäude herum übergreift[49].

Doch was sagen diese Anmutungen über die tieferen symbolischen Eigenschaften des jeweiligen ästhetischen Feldes aus? Was sagt die Gestaltung eines Innenraums oder der Schnitt eines Kleidungsstücks über die soziale und emotionale Verfassung der Menschen aus, die sich darin aufhalten – in dem Raum oder in dem Kleidungsstück?

Man könnte argumentieren, dass das Berghain und die Balenciaga-Boutique beides elitäre Räume sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die legendäre strenge Tür des Berghains spielt eine große Rolle für die Mystifizierung des Clubs. Anekdoten wie die, dass Elon Musk bei einem Besuch in Berlin der Zutritt verwehrt wurde, unterstreichen die Idee, dass die Teilnahme am symbolischen Raum des Berghains nicht allein mit ökonomischem Kapital erkauft werden kann[50]. Die Balenciaga-Boutique am Ku’Damm hingegen kann jede:r besuchen, sie ist einfach ein Geschäft in einer Straße voller Geschäfte. Allerdings sind die dort angebotenen Waren so exorbitant teuer, dass ein großer Teil der Bevölkerung sie sich niemals leisten kann, so dass ökonomisches Kapital die wichtigste Voraussetzung ist, um als Kund:in an der symbolischen Labelwelt von Balenciaga teilzuhaben.

Trotzdem lässt sich Demnas Erfolg als Kreativdirektor von Balenciaga nicht einfach auf die Kommerzialisierung subkultureller Bekleidungspraktiken reduzieren. Als erster Designer, der die Internetkultur wirklich versteht[51], erfordern die von ihm entworfenen Objekte ein hohes Maß an popkulturellem Bewusstsein, einschließlich subkultureller Randerscheinungen. Indem er diese ironisiert, bedient Demna nicht nur die exzessive Verschwendungssucht der High-Fashion-Welt, sondern hinterfragt gleichzeitig auch Vorstellungen von Originalität und Authentizität in einer postdigitalen Welt des endlosen Zugangs zu Bildern, Codes und Symbolen. Er nutzt die Idee der Subkultur und verwandelt sie in ein Mittel der Gegen-Subversion, die nur Eingeweihten zugänglich ist[52].

In Anlehnung an Nelson Goodmans Konzept der „Welterzeugung“ kann die ästhetische Aktivität als Symbolverarbeitung verstanden werden: das Erfinden, Anwenden, Interpretieren, Transformieren, Manipulieren von Symbolen und Symbolsystemen[53]. Es sind diese Symbole, durch die die Verbraucher:innen eine Beziehung zu ihren Objekten eingehen. Die Substituierung von ökonomischem Kapital durch subkulturelles Kapital als Strategie zur Generierung von Status in der Modewelt erscheint jedoch weniger revolutionär, wenn man den stolzen Preis der Produkte bedenkt: Während eine schlichte schwarze Schirmkappe schon für 9,99 Euro zu haben ist (asos.com), und dieselbe Mütze mit einem aufgestickten Nike-Logo 14,99 Euro kostet (nike.com), zahlt man für die günstigste schwarze Schirmkappe bei Balenciaga 350 Euro (balenciaga.com). Coolness als Mehrwert kann per Definition als ein angeeignetes Gut betrachtet werden, da sie nicht in einer Fabrik hergestellt werden kann, sondern immer aus einem breiteren kulturellen Kontext entlehnt wird[54]. Wenn das Berghain den breiteren kulturellen Kontext für den Mehrwert der Produkte von Balenciaga liefert, kann festgestellt werden, dass das ökonomische Kapital, im Sinne Bourdieus, immer noch dominant bleibt.

Ob es einem gefällt oder nicht, Demna hat die Welt der High Fashion revolutioniert. Selbst nach der Wiedereinführung einer Haute-Couture-Linie im Jahr 2021 und seinem selbstauferlegten neuen Fokus auf die „Kunst des Kleidermachens“[55] bleibt seine Version von Balenciaga weit entfernt von der Vision des Gründers Cristobál Balenciaga, der zu Lebzeiten jegliche Lizenzverträge mit der Begründung ablehnte: „I will not prostitute my art“[56].

Heute gehört Balenciaga zum französischen Luxuskonzerns Kering. Seit Demna die kreative Leitung von Balenciaga übernommen hat, wurde das Image der Marke als Ganzes völlig neu erfunden. Mit seiner Instagram-tauglichen Mischung aus Scheinauthentizität und konsumkritischer Ironie ermöglicht er es Luxuskund:innen, große Summen für Kleidungsstücke auszugeben, die als Zeichen des Protests oder des kulturellen Verfalls interpretiert werden können. Im Jahr 2014 sagte die Trendforschererin Li Edelkoort das „Ende der Mode“ voraus und machte die sozialen Medien und die Mem-Kultur für den Niedergang der Mode als bedeutendes kulturelles Genre verantwortlich[57]. Natürlich ist auch diese Einschätzung nicht neu. Bereits 1889 veröffentlichte der britische Kulturkritiker Matthew Arnold sein Buch „Culture and Anarchy“ in dem er davor warnte, dass die aufkommende Massenkultur die Qualität der elitären Kulturprodukte zerstören könne[58]. Im Laufe des 20. Jahrhunderts stellten Surrealisten, Dadaisten und Pop-Künstler die Konventionen der Hochkultur in Frage, indem sie Alltagsgegenstände, einschließlich Kleidung, in den institutionellen Kontext von Galerien oder Museen stellten. Es bleibt abzuwarten, ob sich Konzepte wie Ready-Mades oder Appropriation Art, die in der Kunstszene bereits ein alter Hut sind, als dauerhaft geeignet erweisen, die Welt der High Fashion zu modernisieren.

Derweil ist die Schlange vor dem Berghain so lang und schwarz gekleidet wie eh und je. Gerüchte über eine bevorstehende Schließung des Clubs haben sich vorerst als falsch erwiesen. Neue junge Labels in der aufstrebenden Modestadt Berlin wie SF1OG, Gmbh oder Richert Beil machen mit kleineren, nachhaltigeren Kollektionen auf sich aufmerksam, die drei Dinge gemeinsam haben: eine Vorliebe für Schwarz, das Zeigen von Haut und Fetisch-Elemente. Die Berliner Modejournalist:innen Manual Almeida-Vergara und Franka Klaproth schreiben, dass die Designer der Stadt nun beweisen müssen, dass sie mehr können als  Berghain[59].

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Madsen, A. (2021): “Social Media Is Boring and Super Manipulative”: Demna Gvasalia on His Deep-Fake Balenciaga Spring 2022 Show and Gucci Cross-Over. Online abrufbar unter: https://www.vogue.co.uk/fashion/article/balenciaga-spring-2022. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024. Übersetzung von der Verfasserin.

[2] Vgl. Bartin, Alex (2024): How I got into the world’s most exclusive club. Online abrufbar unter: https://www.telegraph.co.uk/travel/destinations/europe/germany/berlin/how-to-get-into-berghain-berlin-dress-code/, zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[3] Vgl Jewish Committee (2022): 5 of Kanye West’s Antisemitic Remarks, Explained. Online abrufbar unter: https://www.ajc.org/news/5-of-kanye-wests-antisemitic-remarks-explained, zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[4] Vgl. Rao, K. (2022): “Is that stuffed toy in bondage gear?”: Balenciaga children ad leaves internet stunned. Online abrufbar unter: https://www.sportskeeda.com/pop-culture/is-stuffed-toy-bondage-gear-balenciaga-children-ad-leaves-internet-stunned. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[5] Vgl. Diaz, A. (2022): Balenciaga ‘BDSM teddy bear’ photographer speaks out amid backlash. Online abrufbar unter: https://nypost.com/2022/11/23/balenciaga-bdsm-teddy-bear-photographer-addresses-backlash/. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[6] Vgl. https://twitter.com/KimKardashian/status/1597017102665142272?lang=en [Tweet]. Übersetzung von der Verfasserin.

[7] Vgl. Paton, E., Friedman, V. & Testa, J. (2022): When High Fashion and QAnon Collide. Online abrufbar unter: https://www.nytimes.com/2022/11/28/style/balenciaga-campaign-controversy.html. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024. Rüß, Catharina (2023): Balenciaga. Nach der Grenzüberschreitung. In: Pop. Kultur und Kritik, Heft 23 (auch online abrufbar: https://www.degruyter.com/document/doi/10.14361/pop-2023-120208/html?lang=de Zuletzt abgerufen am 30.05.2024).

[8] Vgl. DMI trend forecast F/W 24/25.

[9] Vgl. Issawi, D. (2023): What to Know About the Balenciaga Ad Scandal. Online abrufbar unter:https://www.thecut.com/article/what-to-know-about-the-balenciaga-ad-scandal.html. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[10] Vgl. Fury, A. (2013): Excess all areas: Mona von Bismarck once ordered 150 Balenciaga garments after her train derailed. In: The Independent, 30.04.2013. Online abrufbar unter: https://www.independent.co.uk/life-style/fashion/features/excess-all-areas-mona-von-bismarck-once-ordered-150-balenciaga-garments-after-her-train-derailed-8636831.html. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[11] Vgl. Ventus, G. (2019): Balenciaga’s Instagram ­– Genius or short-sighted? Online abrufbar unter: the-rosenrot.com/balenciagas-instagram-genius-or-shortsighted/. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[12] Vgl. Riedl, A. (2022): In das Berghain kommen? Harper’s Bazaar, 26.09.2022. Online abrufbar unter: harpersbazaar.de/fashion/modelabel-berlin-uy. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[13] Vgl. Lhooq, M. (2022): Techno Disneyland. Online abrufbar unter: ravenewworld.substack.com/p/techno-disneyland. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[14] Vgl. Polhemus, Ted (1994): Streetstyle: From Sidewalk to Catwalk. London: Thames and Hudson

[15] Vgl. Fluehr-Lobban, C., Lobban, R. & Linda, Z. (1976). “Tribe”: A socio-political analysis. In: Ufahamu: A Journal of African Studies, 7(1).

[16] Vgl. Maffesoli, M. (2007): Tribal Aesthetic. In: Cova, B., Kozinets, R. & Shankar, A. (Hgs.): Consumer Tribes, Routledge: London and New York, 27-34.

[17] Vgl. Perry, J. (2019): Love Parade 1996: Techno Playworlds and the
Neoliberalization of Post-Wall Berlin. In: German Studies Review, Volume 42, Number 3, October 2019, 561-579.

[18] Ebd., 567

[19] Vgl. Blumhardt, O. (2012): Das ist heute völlig normal, damals kannte das niemand. In: Weis, D. (Ed.): Cool Aussehen, Mode und Jugendkulturen, Berlin: Archiv der Jugendkulturen, 167.

[20] Ebd.

[21] Vgl. See How to get into Berghain? Clothing matters! Online abrufbar unter: das-akademie.de/en/how-to-get-into-berghain/. Zuletzt abgerufen am: 30.05.2024.

[22] Vgl. Wie kleidet man sich für das Berghain in Berlin? Online abrufbar unter: stylight.de/Magazine/Fashion/Berghain-Gekleidet/. Zuletzt abgerufen am 18.07.2023.

[23] Vgl. Dittmann, A. (2010): Schwarz als Farbe jugendlicher Subkulturen. In: Nym, A. (Ed.): Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene, Leipzig: Plöttner, 16-25.

[24] Vgl. Stigglegger, M. (2021): Schwarz. Die dunkle Seite der Popkultur. Berlin: Martin Schmitz, 83.

[25] Vgl. Harvey, J. (1995): Men in Black. Chicago: Chicago University Press, 257.

[26] Vgl. myp-magazine.com/interview/boris-reduktion/. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[27] Vgl. Thornton 1995, und Force, W. (2009): Consumption Styles and the Fluid Complexity of Punk Authenticity. In: Symbolic Interaction, Vol. 32, No. 4 (Fall 2009), 289-309.

[28] Vgl. Varga, S. & Guignon, C. (2017): Authenticity. In: Zalta, E. & Nodelman, U. (Eds.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Online abrufbar unter: plato.stanford.edu/entries/authenticity/. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[29] Vgl. Vannini, P. & Willimas, J. (2009): Authenticity in Culture, Self, and Society. Bingley: Emerald Publishing, 3. Übersetzung von der Verfasserin.

[30] Vgl. Thornton 1995, 203.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Perry, J. (2019): Love Parade 1996: Techno Playworlds and the Neoliberalization of Post-Wall Berlin. In: German Studies Review, Volume 42, Number 3, October 2019, 561-579.

[33] Anderson, J. (2022): Berghain: Space, affect, and sexual disorientation. In: EPD Society and Space, Vol 40(3), 451-468. Übersetzung von der Verfasserin.

[34] Vgl. Holland, O. (2020): Remember when Liz Hurley wore ‘that’ dress? CNN am 07.03.2020. Online abrufbar unter: edition.cnn.com/style/article/liz-hurley-versace-remember-when/index.html, zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[35] Southgate, N. (2003): Coolhunting with Aristotle. In: International Journal of Market Research Society, 45 (2), 167–189.

[36] Vgl. Garcia, L. (2016): Techno-tourism and post-industrial neo-romanticism in Berlin’s electronic dance music scenes. In: Tourist Studies, Vol. 16(3) 276–295. Übersetzung von der Verfasserin.

[37] Vgl. Nancarrow, C. & Nancarrow, P. (2007):  Hunting for cool tribes. In: Cova, B., Kozinets, R. & Shankar, A. (Hgs.): Consumer Tribes, Routledge: London and New York, 129-142.

[38] Vgl. Rapp, T. (2009): Lost and Sound: Berlin, Techno und der Easy Jetset. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 144.

[39] Vgl. Thornton, S. (1995): The social logic of subcultural capital. In: Jenks, C. (Ed.): Culture. Critical Concepts in Sociology, Vol. III, Routledge: London and New York, 235-245.

[40] Vgl. Anderson, J. (2022): Berghain: Space, affect, and sexual disorientation. In: EPD, Society and Space, Vol 40(3), 451-468.

[41] Vgl. Linux (2022): Berghain: 36 Hours Inside the World’s Most Exclusive Club. Online abrufbar unter: papermag.com/berghain-linux-2658797996.html. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[42] Vgl. Garcia 2016.

[43] Vgl. See Vogt, H. (1954): Language Contacts. In: WORD, 10:2-3, 365-374.

[44] Vgl. Lowell, E. (2021): The Underrecognized and Incredible Way We Use Outfits to Code-Switch. Online abrufbar unter:  https://hehimhismedia.com/we-use-outfits-to-code-switch/, Quattlebaum, L. (2020) Workplace Dress — Assimilation, Appropriation, and Fashion Code Switching. Online abrufbar unter: https://blog.startupstash.com/workplace-dress-assimilation-appropriation-and-fashion-code-switching-4de39fa3afc1, zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[45] Vgl. Leutner, P. (2015): Die Medialität der Mode. Bielefeld: Transcript.

[46] Vgl. McCracken, G. (1988): Culture and Consumption, Bloomington: Indiana University Press, 64ff.

[47] Vgl. TheEllenShow: Claire Danes Loves Techno [Video]. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=cy9GregPIA4. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[48] Röthig, S. (2021): Kleines Berghain am Kudamm: Erster Balenciaga-Store in Berlin eröffnet. Berliner Zeitung vom 11.12.2021. Online abrufbar unter: https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/kleines-berghain-am-kudamm-erster-balenciaga-store-in-berlin-eroeffnet-li.199598, zuletzt abgerufen am 30.05.2021.

[49] Vgl. Andersson, 2022.

[50] Vgl. Tsjeng, Z. (2022): Did Elon Musk Get Rejected from Berghain? An Investigation. Vice 04/05/2022. Online abrufbar unter: vice.com/en/article/y3vjpb/elon-musk-berghain-refuses-entry. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[51] Vgl. Eror, A. (2017): Why Demna Gvasalia is the first designer to truly understand internet culture. Online abrufbar unter: highsnobiety.com/p/demna-gvasalia-vetements-irony/. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[52] Ebd.

[53] Vgl. Goodman, N. (1967): Art and Inquiry. In: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association, Vol. 41, 5-19.

[54] Vgl. Verma, H. (2014): ‘Cool’, Brands and ‘Cool’ Brands. In: International Journal of Asian Business and Information Management, 5(1), 59-73.

[55] Vgl. Davidson, E. (2023): Out of the darkness, into the light: Demna strips it back at Balenciaga. Online abrufbar unter: dazeddigital.com/fashion/article/58362/1/demna-gvasalia-balenciaga-show-paris-aw23-fw23-womenswear. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[56]Fury, A. (2021): How Demna Gvasalia Reactivated Balenciaga’s Couture for Now. Online abrufbar unter: https://www.anothermag.com/fashion-beauty/13443/why-balenciaga-couture-was-a-measure-of-demna-s-defiance-of-cristobal. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[57] Vgl. Edelkoort, L. (2014): Anti-Fashion Manifesto. Online abrufbar unter: edelkoort.us/anti-fashion-manifesto. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024

[58] Vgl. Arnold, M. (1889): Culture and Anarchy. Online abrufbar unter: archive.org/details/cultureanarchyes00arno. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

[59] Almeida-Vergara, M. & Klaproth, F. (2023) Der Berliner Stil: Gibt es ihn? Und wenn ja – wie sieht er aus? Online abrufbar unter: berliner-zeitung.de/panorama/berlin-fashion-week-gibt-es-den-berliner-stil-und-wenn-ja-wie-sieht-er-aus-li.369510. Zuletzt abgerufen am 30.05.2024.

 

Übersetzung des Aufsatzes:

Diana Weis: From Berghain to Balenciaga: Aesthetic Code-Switching between Parisian High Fashion and Berlin Underground Techno. In: Anita Jóri/Guillaume Robin (Hg.): Living at Night in Times of Pandemic. Night Studies and Club Culture in France and Germany. Bielefeld: transcript, S. 63-84.

Übersetzung ins Deutsche durch Diana Weis mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

 

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