Mode: Beige und Grau
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 24, Frühling 2024, S. 10-15]
Kinder mit traurigem Gesichtsausdruck stehen in kargen Landschaften oder spärlich dekorierten Intérieurs. Ihre Kleidung ist beige, ocker, braun oder grau. »Welcome to Werner Herzog’s new line of children’s clothing: Sad beige clothes for sad beige children.« Mit pointiertem fake-deutschem Akzent, der an den charakteristischen Sprech-Gestus des berühmten Regisseurs angelehnt ist, fabuliert eine Frauenstimme über die Abgründe der menschlichen Existenz und das ihr inhärente Leid – und preist dabei überteuerte Kindermode und -spielzeuge in Beige an. Die US-Amerikanerin Hayley DeRoche ist die Online-Comedian hinter dem Pseudonym That Sad Beige Lady, unter dem sie diese Videos für TikTok und Instagram kreiert. Kulminationspunkt ihrer Parodien sind die Marketingstrategien hochpreisiger Ökolabels, die sich an ›Crunchy Moms‹ wenden, also Anhängerinnen einer aktuellen Form bürgerlich grünen Lifestyles, der moderne Technologien infrage stellt und Wert auf naturnahe Erziehung und Ernährung legt, dabei aber paradoxerweise besonders auf Social-Media-Plattformen in Erscheinung tritt.
Das »traurige Beige« in DeRoches ungemein erfolgreichen Reels steht für die Überzeugung dieser Eltern, durch Reizreduktion anhand von Kleidung und Spielzeug in gedeckten Farben und einfachen Formen die Kreativität ihrer Kinder zu befördern. In einem Interview mit Yahoo Life erklärt sie das Phänomen so: »Sad beige is when your aesthetic is marketed in such a way that it views childhood as a somber experience and that dressing your children this way […] will create a calm environment full of little scholars who want nothing more than to […] listen to Mozart quietly in their beige room and play quietly with their one wooden toy«.
In einem Trickle-Down-Effekt werde der an minimalistischen Designs geschulte Geschmack wohlhabender Eltern der gesamten Bevölkerung als »das Beste für Ihr Kind« verkauft. Die teuren Basics der Kinder sind dabei so etwas wie die Vorstufe zu den ›Quiet Luxury‹-Outfits der Erwachsenen. Der Nachhaltigkeits- und Umweltverträglichkeitsfaktor, der von diesen Eltern und den Labels gerne ins Feld geführt würde und die Kleidung besser mache als die häufig von den Kindern selbst präferierten schreiend bunten Kleider und Objekte, ist ihren Nachforschungen zufolge häufig reines Greenwashing. Doch darüber hinaus habe diese eingeschränkte Farb- und Formenwahl auch ganz praktische Gründe, führt DeRoche weiter aus: Influencerïnnen würden von ihren Sponsorïnnen dazu angehalten, ihre Behausungen möglichst neutral zu dekorieren, um so mehr Aufmerksamkeit auf die vorgestellten Produkte lenken zu können. Da sei es nur konsequent, dass auch die eigenen Kinder möglichst farblos gestylt würden.
Wo die Sad Beige Lady mit ihrem Content hauptsächlich Momfluencerinnen aufs Korn nimmt, die ihren Kids aus Geschäftsgründen den Spaß an bunten Klamotten und Chaos in der Bude verhageln, trifft sie damit jedoch auch einen größeren Punkt, der die Mode- und Designwelt seit geraumer Zeit umtreibt. »Haben wir es mit einem Verschwinden der Farben zu tun?« oder »Wird die Welt immer grauer?« sind Headlines, die nicht nur in Fachzeitschriften für Farbdesign und Architektur auftauchen, sondern auch intensiv auf Plattformen wie TikTok diskutiert werden.
Einer der Auslöser für diese Beschäftigung war eine Studie, die die Datenwissenschaftlerin Cath Sleeman im Oktober 2020 online veröffentlichte. Dafür hatte sie 7083 Fotos von Alltagsobjekten wie Uhren, Kameras oder Computer aus den Jahren 1800 bis 2020 aus der Sammlung der britischen Science Museum Group Collection analysiert. Ihr Fazit: Die häufigste Farbe war ein dunkles Anthrazit, das in über 80 % der Bilder als Pixel vorgekommen sei. Die Präsenz von Grau habe über die Jahre zugenommen, während Gelb- und Brauntöne sukzessive abgenommen hätten. In Sozialen Medien erhob sich daraufhin ein Aufschrei über die zunehmende Eintönigkeit unserer Welt. Journalistische und Fachartikel wiesen wiederum daraufhin, dass es sich bei der Veröffentlichung um eine nicht peer-reviewte Studie gehandelt habe und die insgesamte Dominanz grauer Pixel im Querschnitt, die in vielen einzelnen Fotos aber in der Minderzahl waren, sich auch durch den Materialwandel (von Holz zu Plastik zu Aluminium) und technische Innovationen (von Briefpapier zu Schreibmaschinen zu Computern) erklären ließe. Zudem gelte es zu bedenken, dass im 21. Jahrhundert im Vergleich zum 18. Jahrhundert die Anzahl von existierenden Objekten explodiert sei und es daher insgesamt zwar mehr Grau, aber auch mehr bunte Produkte als früher gebe.
Doch ein Blick in die Filialen von High-Street-Fashion-Unternehmen wie H&M oder Zara bestätigt den subjektiven Eindruck eines Rückgangs der Farbigkeit: Während hier früher Farbtupfer offensiv präsentiert wurden, herrscht seit einigen Jahren, besonders in den ebenerdigen Verkaufsflächen, die die Kundïnnen meist als erste betreten, eine Dominanz von Weiß, Schwarz, Grau und Beige vor: Basics für den (Arbeits-)Alltag, die immer funktionieren und sich einfach kombinieren lassen. Die bunteren Stücke für Kleinkinder sowie Tweens und Teens sind meist in den hinteren Bereichen oder anderen Stockwerken versteckt. Doch auch in anderen Designbereichen ist ein Verschwinden der Farben zu beobachten, das sogar mit konkreten Zahlen belegt ist. Für das Jahr 2020 berichtete der Farbhersteller Axalta, dass weltweit 72 % aller Autos entweder weiß, schwarz oder grau gewesen seien. Die einzige »echte‹ Farbe, die es in die Auto-Top 5 schaffte, war Blau mit 7 %. Das Farbdatenauswertungsunternehmen HueData fand ebenfalls heraus, dass Grau die häufigste Farbe für Branding Logos ist und – nach Schwarz – die zweitbeliebteste Farbe in der Modeindustrie.
Im Interior Design lässt sich ebenfalls eine Bewegung hin zu gedeckteren Tönen beobachten: Waren die McDonalds-Filialen früher noch im typischen Grellrot-Knallgelb-Look gehalten, sind diese Signalfarben seit 2006 sukzessive dezentem Holz-Beige und Öko-Grün sowie einer edleren Innenausstattung gewichen. Im Interior Design ist die beliebteste Farbe seit einigen Jahren Grau – u.a. auch deswegen, weil so der Wiederverkaufswert in einem immer stärker auf Anlagestrategien ausgelegten Immobilienmarkt besser gewährleistet scheint (auch kostspielige elektronische Geräte wie IPhones lassen sich in neutralen Farben besser weiterverkaufen).
Da wirkt es fast wie ein Witz, dass eine der beliebtesten Newcomer-Farben in diesem Bereich ein Hybrid aus zwei als besonders fad geltenden Tönen ist, nämlich Greige, ein Mix aus grau und beige. Interessanterweise ist eine der ersten verbrieften Nutzungen des Terminus noch dezidiert negativ. 2009 schrieb die für ihre humoristischen Einlassungen bekannte englische Journalistin Caitlin Moran in »The Times« in einem Artikel mit dem Titel »Sorry Star Wars Fans, but Ghostbusters Is the Best Film Ever Made« davon, es könne doch niemand ernsthaft ein Jedi in einer greigen Mönchskutte sein und drei Filme lang ohne einen einzigen Witz auskommen wollen.
Auch in der Mode gibt es, wie schon am obigen Shop-Beispiel gezeigt, einen starken Sog in Richtung neutrale Farben. Nicht nur der #QuietLuxury-Trend, der diesen Sommer die Modemedien dominierte (auch bekannt als ›StealthWealth‹, also subtiler Statuskonsum, oder ›Investment Fashion‹ – in besonders zeitlose Pieces) setzt auf Zurückhaltung in allen Bereichen, auch dem der Farben. Die von einer jüngeren Zielgruppe propagierten und konsumierten Trends, die z.B. auf Tiktok unter Hashtags wie #ThatGirl, #CleanGirl oder #VanillaGirl viral gingen, betonen ebenso das Unauffällige als Gestaltungsprinzip der Stunde.
»Das typische #vanillagirl hat helle Haut und lange blonde Haare, trägt natürliches Make-up und goldenen Schmuck. Morgens wacht es im Seidenschlafanzug zwischen beigefarbener Bettwäsche auf, um in einen weißen Strickpullover und Ugg-Boots zu schlüpfen und sich dann zu schminken, Kaffee zu trinken oder verträumten Tätigkeiten wie dem Tagebuchschreiben oder Lesen nachzugehen«, hieß es im Frühjahr 2023 in einem Artikel des »Redaktionsnetzwerk Deutschland« mit dem Titel »Mehr als ein süßer Social-Media-Trend? Warum die ›Vanilla-Girl‹-Ästhetik so umstritten ist«.
#ThatGirl und #CleanGirl folgen einem ähnlichen Look. Deren Anhängerinnen sollen nicht nur ihre Garderobe und ihren unaufdringlich geschmackvollen Stil, sondern auch ihr Leben als Ganzes perfekt im Griff haben: früh aufstehen, Yoga machen, frisch zubereitete Beeren-Smoothies trinken, fokussiert arbeiten und den gesamten Tag möglichst achtsam und früh beschließen. Hier zeigt sich, dass der Wunsch nach einer neutralen, »cleanen« Garderobe der Fiktion folgt, dass eine gelingende Existenz durch mehr Reinheit, hier verkörpert durch gedeckte Farben, reduzierte Formen, orthorektische Ernährungsweisen und körperliche und mentale Fitness, erreicht werden könne. Tatsächlich wurde bereits vielfach postuliert, dass der ›hustle and bustle‹-Vibe aktueller urbaner Lebensstile zu einer gewissen Überreizung geführt habe, sodass im Privaten ein Schutz vor visuellen Stimuli gesucht würde, sowohl in der Gestaltung der eigenen Räume wie auch der Garderobe.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren durch technische Innovationen chemische Färbemittel verfügbar, zuallererst das berühmte lilafarbene Mauvein, das der englische Chemiker William Henry Perkin 1856 zufällig erfand, und durch die globale Explosion von billigen, chemisch hergestellten Farbstoffen ab den 1950er Jahren eine riesige Palette an knalligen Farben. Besonders in der Zeit florierender Gegenkulturen ab den 1960ern gab es eine immense Nachfrage, galt doch Buntheit als Ausweis von Modernität und progressiven Politics, wenn wir beispielsweise an farbenfrohe FlowerPower-Styles oder psychedelisch bunten LSD-Chic denken.
Doch laut Riccardo Falcinelli, italienischer Designer und Autor des Farbtheorie-Standardwerks »Chromorama«, erzeugte Farbigkeit bald andere Effekte und Assoziationen: »A colorful world is no longer something new. It’s something commercial. In the same way that we criticize consumerism, we criticize too many colors.« Der »Visual Noise«, dem wir seit der Postmoderne beständig durch Werbungen, Bildschirme und Verpackungen ausgesetzt seien, erzeuge heute das Bedürfnis nach »Design Calmness«. Schon ab den späten 1970ern hätten die wirtschaftliche Rezession und eine ›No Future‹-Punk- bzw. Wave-Subkultur zu mehr Schwarz-, Grau- und Dunkelblau-Tönen geführt. Laut Falcinelli ist Farblosigkeit ein Krisenphänomen, das er auch aktuell beobachtet: »This is not a magenta period. If you go on Netflix, there’s a lot of black and dark colors on the posters. A lot of the series take place during the night or while it is raining. I think it is not just a matter of style. We are living in a period of crisis, not a Technicolor period.«
Die Anthropologin Nicole Truesdell geht in ihrer Analyse sogar noch weiter und stellt eine Verbindung zwischen Prozessen der (De-)Kolonialisierung und der heutigen (Nicht-)Verwendung von Farben her. Das uniforme Scandinavian Design mit seinen charakteristischen Greige-Tönen dominiere neuere, hochpreisige Innenstadt-Cafés und Co-Working-Spaces und verdränge mitunter knalliger gestaltete migrantische, prekär agierende Imbisse. Sie sieht zwei parallele Prozesse am Werk, nämlich einerseits einen der prolongierten (ökonomischen) Kolonisierung, bei dem westliche Wirtschaftstreibende durch eine Homogenisierung bzw. Eindämmung der Farbpalette und des Designs Raum einnehmen würden, andererseits eine Wiederbesinnung Ex-Kolonisierter auf traditionelle Muster und Farben, die für die Stärkung der eigenen Identität stünden. David Batchelor, Autor des Werkes »Chromophobia«, verbindet explizit das Konzept der »Whiteness« mit dem der europäischen Rationalität, wenn er schreibt: »It is, I believe, no exaggeration to say that, in the West, since Antiquity, colour has been systematically marginalized, reviled, diminished and degraded. […] its loathing masks a fear: a fear of contamination and corruption by something that is unknown or appears unknowable.« Diese Angst vor Kontamination lässt sich auch in den Trends von Vanilla bis Clean Girl ablesen, die, wie der oben zitierte Artikel aus dem Redaktionsnetzwerk darlegt, sehr früh schon für ihre Betonung einer ethnisch weißen Identität, die hier unschwer als ästhetisches Ideal erkennbar ist, kritisiert wurden.
Doch wie passen nun mediale Megahypes wie Barbiecore (dazu Diana Weis in Heft 23 dieser Zeitschrift) oder nischigere Trends wie der traurig bunte Clowncore in dieses – bisher reichlich farblose – Panorama? Es gibt Stimmen, die bereits eine Gegenbewegung zur ›Greigification‹ unserer Welt ausmachen, die durch den Hunger nach Leben, Öffentlichkeit und damit auch Farbigkeit nach den traurigen Jahren der Pandemie (in reizarmen greigen Innenräumen) und besonders von der nach mehr Leichtigkeit strebenden Gen Z getragen würden. Die hot pinken Barbie-Outfits, die junge Fans mit großer Begeisterung bei Kinobesuchen des Films trugen, seien Ausdruck dieser neuen Lebenslust und Emotivität, getreu des Diktums von David Batchelor: »You can never have color without emotion.«
Auch von den Runways der großen Modelabels sind starke Farben nie verschwunden, wie die Valentino Pink PP Collection von Pierpaolo Piccioli aus Herbst/Winter 2022/23 beweist (wobei hier durch die monochrome Verwendung in gewisser Weise nicht einer neuen Buntheit, sondern eher der Etablierung eines neuen Grundtons, in diesem Fall pink, das Wort geredet wurde). Allerdings haftet der Nutzung dieser Designs eher der Charakter der Performance oder der Maskerade an, wie eben innerhalb des besonderen, außerhalb des Everyday stehenden Besuchs der Barbie-Kinopremiere. In vestimentären Praxen des Alltäglichen spiegeln sie sich nach wie vor selten wider. Beweist das, dass unsere Welt grauer wird? Mitnichten. Denn es stehen heute nicht nur 50, sondern mehr als 200 verschiedene ›Shades of Grey‹ zur Verfügung, die Pantone-Palette umfasst mehr als 15.000 Farben, und HueData hat die unfassbare Menge von 21 Millionen existierender Farbtöne erfasst. Auf der Erde sammeln sich also nicht nur immer mehr Objekte, sondern auch immer mehr Farben an. Die Mode hat die Wahl, und wird sie in ihren unendlichen Reinkarnationen auch nutzen.