Das Netflix-Dilemma
von Nicolas Pethes und Julia Willms
14.5.2024

Zum Standardargument: die Gefahren neuer Medien

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 150-171]

Warnungen vor den verheerenden Wirkungen übermäßiger Mediennutzung kommen gemeinhin mit großem Tamtam daher – und das mitunter im wörtlichen Sinne. Das ›Tam-Tam‹ ist ja in unser aller Ohren, seitdem das Programmfernsehen von Streaming-Anbietern ersetzt wurde und die Programmvielfalt von einem dieser Anbieter reguliert wird, der die synkopierte Abfolge zweier knapper »Tams«, unterlegt mit einem Orgelton, zum Marken- und Erkennungszeichen des Sendebeginns eingeführt hat. Interessanterweise hat Netflix dabei im Rahmen seiner zahlreichen Eigenproduktionen zuletzt insbesondere auf dem Feld von Dokumentationen reüssiert, und wessen Nutzer*innenprofil im Spätsommer vergangenen Jahres hinreichend auf dieses Genre ausgerichtet war, dem stand unweigerlich und ungefragt die vielfache Ankündigung einer neuen Dokumentation ins Haus – bzw. ins Email-Eingangsfach, in die Anzeige von Push-Nachrichten auf dem Smartphone oder in die personalisierte Startseite des eigenen Netflix-Nutzungskontos: Unter dem Titel »The Social Dilemma« und der Regie von Jeff Orlowski präsentierte die Plattform ab dem 9. September 2020 Einblicke in die Verfahren zur Manipulation von Nutzer*innen Sozialer Medien, allen voran Facebook und Twitter, aber auch Instagram, Pinterest sowie, als Mutter aller Monopolbestrebungen und Datenschutzverletzungen, Google.

Der besondere Reiz der Enthüllung fragwürdiger Geschäftsgebaren aus dem Silicon Valley lag dabei darin, dass die Erkenntnisse sämtlich Insider-Informationen waren, d.h. solche, die von ehemaligen Mitarbeiter*innen der genannten Konzerne offengelegt wurden, allen voran von Tristan Harris, dem heutigen Präsidenten eines »Center for Humane Technology« (das auf seiner Webseite wiederum die Netflix-Dokumentation bewirbt) und ehemaligen Ethikbeauftragten von Google, der nun in Vortragsveranstaltungen auf so charismatische wie apokalyptische Weise vor den persönlichen und gesellschaftlichen Gefahren der Nutzung von Sozialen Medien und Smartphone-Apps warnt.

Der Film folgt damit einem fest etablierten Muster in der Diskussion über neue Medien: Je weiter verbreitet die Nutzung von Technologien ist, und je selbstverständlicher und in der Folge ubiquitärer und unreflektierter diese Nutzung wird, desto evidenter wirkt das Narrativ einer allgegenwärtigen Gefahr für Individuen und Gesellschaft. Diese Evidenz speist sich nicht zuletzt aus dem Gestus der Decouvrierung einer verborgenen Wahrheit hinter den medialen Scheinwelten, in denen wir leben – also im Offenlegen desjenigen Abgrunds, auf den Nutzer*innen ahnungslos zusteuern, weil sie aufgrund der großen Verbreitung der fraglichen Technologie der Meinung sind, sich gänzlich normal zu verhalten.

In »The Social Dilemma« werden dieses Narrativ und dieser Gestus stark personalisiert und durch eine Mischung verschiedener Darstellungsformate erzeugt und unterstützt: Neben den herkömmlichen O-Tönen verschiedener Mitarbeiter*innen der betroffenen IT-Konzerne bzw. Wissenschaftler*innen, die an US-amerikanischen Eliteuniversitäten Informatik oder Verhaltenspsychologie lehren, inszeniert die Dokumentation zum einen Tristan Harris als prophetische Lichtgestalt, die man kurz vor einem Auftritt im Scheinwerferlicht der Bühne einen Vortrag proben sieht, den er in der nächsten Einstellung dann einer schockierten, aber zugleich faszinierten Zuhörerschaft zum Besten geben wird – Volksaufklärung als messianischer Budenzauber. Zum anderen sind die Interviewsequenzen unterbrochen von einzelnen Stationen einer Spielfilmhandlung, die die Folgen übermäßigen Smartphone-Gebrauchs für eine amerikanische Durchschnittsfamilie zeigt – sowie diejenigen Techniken, mittels derer die Algorithmen von Social-Media-Apps die Routinen und Vorlieben ihrer Nutzer*innen so auswerten und berechnen, dass sie sie passgenau und rechtzeitig mit gezielten Impulsen und Anreizen versorgen und damit zum Verweilen auf den jeweiligen Plattformen bewegen und dem Ideal einer pausenlosen und kontinuierlichen Mediennutzung näherbringen. Auf diese Weise, so die Botschaft von »The Social Dilemma«, manipulieren Social Media ihre User bis zur Abhängigkeit, lassen ihre analogen Sozialkompetenzen verkümmern und realisieren so die Dystopie einer ferngesteuerten Menschenherde, die nicht mehr wahrnehmen kann, dass die Hand, die sie mit schönen neuen Reizen füttert, sie zugleich ökonomisch ausbeutet und politisch steuert.

Diese Zukunftsvision hat die Netflix-Doku natürlich keineswegs exklusiv. So sehr der Gestus des Films derjenige der Enthüllung ist, und so sehr wir uns als Zuschauer*innen in der Position der arglosen Mitglieder der exemplarischen Familie wiederfinden, die den steten Versuchungen von Apps, Push-Nachrichten und ›digital nudging‹ nicht widerstehen können, so sehr rekurriert »The Social Dilemma« gleichzeitig auch auf einen etablierten wissenschaftlichen Diskurs über das Suchtpotenzial mobiler und sozialer Digitalmedien. Der Film legt daher eine interessante Doppelbewegung innerhalb der Diskussion über neue Medien offen: Auf der einen Seite zeigt er, wie Elemente der Populärkultur wie z.B. Social Media zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses werden – etwa sozialpsychologischer Diagnosen eines Suchtverhaltens ihrer User. Auf der anderen Seite wird dieser wissenschaftliche Diskurs in Gestalt einer solchen Netflix-Dokumentation wieder re-popularisiert und damit denjenigen Darstellungs- und Vermittlungsformen zugeführt, die angeblich beobachtet und kritisiert, tatsächlich aber vereinfacht reproduziert werden.

»The Social Dilemma« ist daher hier nur der Ausgangspunkt, um zu fragen, welchen Stellenwert die Behauptung von negativen Folgen der Nutzung digitaler Medien innerhalb gegenwärtiger wissenschaftlicher und öffentlicher Diskussionen hat. Die Antwort auf diese Frage wird einen deutlicheren Blick auf die Art und Weise gewähren, wie die Netflix-Dokumentation den fraglichen Wissenschaftsdiskurs nicht nur aufgreift, sondern auf eine Weise inszeniert, die den Film selbst zu einem viralen Medienprodukt macht – wenn nicht gar zum Auslöser eines »social movement« einer neuen Generation von Smartphone-Asketen, wie sich Tristan Harris dies kurz nach Veröffentlichung des Films in einem Interview gewünscht hat.

In diesem Wunsch artikuliert sich aber auch das Dilemma, das mit der Verbindung von populärem Erfolg und gesellschaftspolitischem Anspruch einer solchen Dokumentation einhergeht: einen Dokumentarfilm, der auf wissenschaftliche Evidenzen rekurriert, als spektakulären Publikumsmagnet inszenieren zu müssen. Die Evidenz, auf die »The Social Dilemma« seine Warnung vor dem Suchtpotenzial mobiler und Sozialer Medien stützt, ist dann möglicherweise weniger die tatsächliche Beweiskraft wissenschaftlicher Studien zur Nutzung neuer Technologien als eine mit dieser Nutzung verbundene Alltagsevidenz – wir alle spüren schließlich, wie unsere Aufmerksamkeit bei der Smartphone-Nutzung abdriftet, oder dass wir schlecht schlafen, wenn wir das iPhone mit ins Bett genommen haben. Der kollektive Konsens über eine solche gefühlte Evidenz garantiert das übergreifende Interesse der Netflix-Kundschaft – was aber umgekehrt bedeutet, dass »The Social Dilemma« eher an ein aktuell akzeptiertes Narrativ anschließt und Zuschauer*innenerwartungen bestätigt, als dass der gängige medienkritische Diskurs durch den Bezug auf innovative wissenschaftliche Forschungsergebnisse irritiert oder modifiziert würde.

Ist Sucht gleich Sucht?

Sucht man nach Belegen für den Verdacht, die neuen Digital- und Netztechnologien könnten abhängig machen, so zeigt sich, dass der zugehörige sozialpsychologische Diskurs nahezu zeitgleich mit der Etablierung des Internets und parallel zu den technikeuphorischen Manifesten eines Jay D. Bolter oder Ray Kurzweil einsetzt. Buchtitel wie Kimberly Youngs »Caught in the Net« nutzten die negativen Konnotationen der Netzmetapher und verknüpften sie mit sozialpsychologischen Diagnosekriterien für Spiel- und Alkoholsucht. Hinzu kam die Verwendung medizinischer Begriffe wie »pandemic«, die nicht nur auf das Gefahrenpotenzial einer flächendeckenden Ausbreitung der Sucht sowie ihrer Ansteckungsgefahr hinwiesen, sondern eine wertende Dichotomisierung zwischen ›realem‹ Leben und ›online‹ verbrachter Zeit einführten und letztere als potenziell pathologisch brandmarkten: Technologiesucht gilt seither als nicht vereinbar mit einem funktionierenden ›analogen‹ Alltagsleben, da im Internet verbrachte Zeit verschwendet sei und mit der Vernachlässigung sozialer Kontakte und Verpflichtungen einhergehe.

Die Markteinführung des iPhone im Jahr 2007 stellte eine Zuspitzung und Zäsur dieses Mediensucht-Diskurses dar, und zwar durch die zwei Verschiebungen der Internetnutzung, die mit dem Handy als Smartphone einhergehen: Es koppelt nicht nur den Mobilfunk ans Internet und wird damit text- und bildbasiert, sondern löst dieses zudem von seiner Beschränkung auf das Medium Computer. Smartphones und die durch sie zugängliche Online-Welt werden zu einem immer und überall verfügbaren ›Alltagsbegleiter‹ und gerade deswegen auch zum Anknüpfungspunkt für die Diskursstrategie einer Zuschreibung von Suchtgefahren. Anders jedoch als im Fall der Online-Spielsucht, die 2019 von der WHO zum Krankheitsbild erklärt wurde, liegen im Fall der Smartphone-Sucht bis dato keine wissenschaftlich gesicherten diagnostischen Kriterien vor. Gerade weil diese fehlen, greifen medienkritische Diskurse aber umso mehr auf diejenigen Klassifikationen zurück, anhand derer die WHO Substanzabhängigkeit und Spielsucht beschreibt, und übertragen sie rhetorisch auf das Feld der Smartphone-Nutzung – so z.B., wenn Adam Alter in »Irresistible. The Rise of Addictive Technology and the Business of Keeping Us Hooked« von 2017 das Konzept der habituellen Abhängigkeit (demzufolge die Belohnung von Verhalten durch die Ausschüttung von Dopamin im Gehirn zu Feedback-Schleifen führt) auf die Smartphone-Nutzung überträgt.

Während die Rede von einer »smartphone addiction« oder »Handyabhängigkeit« auf diese Weise in der öffentlichen Debatte etabliert ist und wegen eines Films wie »The Social Dilemma« weiter an Plausibilität zu gewinnen scheint, wird sie in jüngeren sozialpsychologischen Studien aber zunehmend kritisch gesehen. Zwar gibt es immer mehr Studien zur Nutzung digitaler Medien und psychischen Erkrankungen, aber noch keinen Nachweis für einen direkten Zusammenhang – sodass Stimmen wie diejenigen der Psychologen Tayana Panova und Xavier Carbonell lauter werden, die in ihrem Artikel »Is Smartphone Addiction Really an Addiction?« von 2018 fordern, das Nutzungsverhalten eher als »problematic« denn als »addictive« zu codieren. Angesichts der zunehmenden Nutzung des Smartphones im Privat- und Berufsleben erscheinen diagnostische Kriterien für Substanz- und Verhaltensabhängigkeit wie die Erweiterung der Toleranzschwelle, Vordergründigkeit des Objekts oder Kontrollverlust als unzureichend für eine pathologische Diagnose – begründbar scheint lediglich das Kriterium »better explained by«, das dann zutrifft, wenn das fragliche Verhalten durch keine andere Erkrankung adäquater erklärt werden kann.

Das zeigt aber deutlich, dass nicht nur das Konzept der Sucht als Oberbegriff präzisiert werden müsste – die Sozialpsychologie würde zudem von einer Hinzunahme medienwissenschaftlicher Perspektiven profitieren. Über die inzwischen gängige Unterscheidung zwischen dem Smartphone als Technologie und dem Internet als transportiertem Inhalt hinaus könnte insbesondere die Berücksichtigung medienästhetischer Ansätze zu differenzierteren Beschreibungen der Funktion digitaler Medien führen. In Publikumsmedien bleibt die Suchtdiagnose aber omnipräsent, und ihre Verwendung scheint vor allem der Plausibilisierung von drei Aspekten zu dienen: erstens der Fokussierung besonders gefährdeter Gruppen, vor allem Kindern und Jugendlichen, die hinsichtlich eines möglicherweise gestörten Entwicklungspotenzials in den Blick genommen werden. Das betrifft die Verschiebung von sozialer Interaktion in anonymisierte digitale Räume und damit zusammenhängend die Sorge vor einer falschen Nutzung der als wertvoll und wichtig erachteten kindlichen Freizeit. Es kommt zu weiteren Differenzierungen sozialer Gruppen und sozialpsychologischen Nuancierungen. So führt die These, dass Frauen eher Affinitäten zur Nutzung Sozialer Medien zeigen, während Männer tendenziell lieber online spielen, zu dem Vorschlag, die Problematik der Mediennutzung nicht als einheitliches Phänomen zu behandeln, sondern in einzelne, an konkreten Onlineaktivitäten orientierten, Störungen aufzuteilen.

Zweitens hat sich in Ermangelung eines medizinisch-diagnostischen Kriterienkatalogs in jüngeren sozialpsychologischen Publikationen eine Debatte über soziale, physische und psychische Wirkungen der Smartphone-Nutzung formiert, die auch zur Popularität von Selbsthilfebüchern und -artikeln wie »Sleeping with Your Smartphone. How to Break the 24/7 Habit and Change the Way You Work« oder »How to Break the Habit of Checking Your Phone All the Time« geführt hat. Angesichts der Ubiquität der Internetnutzung über das Smartphone werden hier z.B. die kontinuierliche Aufmerksamkeitsteilung, der zunehmende Zusammenfall von Arbeits- und Privatsphäre sowie die wachsende Ökonomisierung der Freizeit problematisiert. Physiologisch gelten Ermüdung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Erinnerungs- und Konzentrationsschwächen und Schwindel als schädigende Potenziale der Smartphone-Nutzung, die der Idealvorstellung eines durch Schlafoptimierung besonders produktiven Individuums im Wege stehen. Die Benennung psychischer Effekte verschwimmt diskursiv oftmals mit der Beschreibung sozialer Veränderungen. So werden mit Faktoren wie dem Verlust von Privatsphäre oder sozialer Isolation Krankheitsbilder wie depressive Verstimmungen oder Störungen der Selbstwahrnehmung assoziiert – auch hier fehlen aber belastbare Daten, die einen kausalen Zusammenhang belegten.

Drittens zielt die Rede eines suchtförmigen Umgangs mit Smartphones auf die Konsequenzen der Ubiquität und Mobilität der Geräte ab. Die Mobilität des Mediums und die damit einhergehende Verlockung zur übermäßigen Nutzung bietet oft den Anlass, die fehlende Möglichkeit zur Distanzierung oder Grenzziehung festzustellen. Diese negativen Zuschreibungen gehen interessanterweise mit einer Entproblematisierung des Computers einher, dessen vormals diagnostiziertes Gefahrenpotenzial inzwischen gewissermaßen von dem Schaden, den Soziale Medien anrichten, überholt wurde. Das betrifft insbesondere das Immersionspotenzial Sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram oder TikTok, die vor allem wegen der Kommerzialisierung des Soziallebens kritisiert werden – auch mit Blick auf den Druck, den sie bezüglich der Akquirierung sozialen Kapitals ausüben. Der Vorwurf lautet, dass diese Plattformen nicht nur normative Sozialitätsmodelle bestärken, die auf Ausschluss und Zugang basieren, sondern auf diese Weise auch der zunehmenden politischen Polarisierung im Streit um die Evidenz oder Konstruktion unterschiedlicher Wahrnehmungen von ›Wahrheit‹ oder ›Fakten‹ Vorschub leisten. Hinzu kommt der »Bedeutungszuwachs der digitalen ›Projektion‹ des Selbst« (Voirol 2012: 164), der einhergeht mit Veränderungen der Identitätsausbildung, der Selbstwahrnehmung und der Ausbildung von Verhältnissen zu Dritten: Die immer wiederkehrende Rede über die »digitale Persona«, in den 1990er- und Nuller-Jahren angelehnt an popkulturelle Entwürfe von Avataren und entsprechend idealisierten und fiktiven Selbstentwürfen, wandelt sich demnach zur Vorstellung eines digitalen Spiegelbilds – Tristan Harris spricht sogar von einer Voodoo-Puppe, die auf Seiten der Provider aus den Daten unseres Nutzungsverhaltens erstellt wird –, das durch optimierte Trackingverfahren einer KI geformt und manipuliert wird.

Filterblasen

Als Ergebnis der maßgeschneiderten Bereitstellung von Informationen, Nachrichten und Produktangeboten wird ein Prozess der Individualisierung im Rahmen themen- und gesinnungsbezogener Gruppen oder »Filterblasen« befürchtet, innerhalb derer Wahrheit durch die Produktion von Vertrauen und der Glaube an Fakten durch gezielte Manipulation ersetzt werde. Einmal mehr scheint zu gelten: »If you are not paying for the product, then you are the product«. Das oberste Ziel der Konzerne sei die Erhöhung der Verweildauer ihrer Nutzer*innen (und nicht etwa deren Irritation durch tatsächliche – nämlich vom bereits Bekannten abweichende – Informationen). Ein einfaches Experiment, das Harris vorschlägt, um diesen Zusammenhang zu belegen, sei der Vergleich der Endgeräte zweier Nutzer*innen, die dieselben Freundschaftskontakte bei Facebook haben – und dennoch unterschiedliche, nämlich jeweils individuell selegierte, Posts angezeigt bekommen.

Oft wird in diesem Zuge auch Kritik an der Liberalisierung von Informationspolitiken und der Deregulierung Sozialer Medien laut; auch die alte medientheoretische Idee des »Gatekeeping« erfährt im zeitgenössischen Zusammenfall von Rezipient*innen- und Produzent*innenrolle ein individualistisches Makeover: Die Filterung von Geschehnissen nach Relevanz und Nachrichtenwert für eine breite Öffentlichkeit sowie ihre Aufbereitung in Form einer medialen »Nachricht«, ursprünglich vor allem der journalistischen Expertise unterworfen, scheint ganz im Sinne von Paul Virilios Idee der »Dromologie« durch ihre eigene Schnelllebigkeit überholt worden zu sein. Digitale Medien binden demnach nicht nur Nutzer*innen an Geräte, sondern befördern durch diese Bindung die Eindimensionalität von Weltbildern, das Misstrauen gegenüber abweichenden Versionen und das zunehmende Unvermögen, zwischen ›real world‹ und ›fake news‹ zu unterscheiden. In einer Studie zu Tendenzen politischer Polarisierung von 2018 weisen Garimella et al. darauf hin, welchen Preis »Gatekeeper« bezahlen, wenn sie versuchen politisch ausgewogen zu bleiben: »We also find that users who try to bridge the echo chambers, by sharing content with diverse learning, have to pay a ›price of bipartisanship‹ in terms of their network centrality and content appreciation« (Garimella et al. 2018: 1). Diese Logik konnte man vor kurzem am Beispiel der YouTuberin Lisa Licentia beobachten, die durch tendenziöse Berichterstattung und rechtspopulistische Thesen auf ihrem Kanal 2019 in politisch gleichgesinnten Kreisen populär geworden war. Ihr Auftritt im Kontext der ProSieben Reportage »Rechts. Deutsch. Radikal.« und ihre dortige politische Kehrtwende zogen nicht nur Morddrohungen und die Abkehr ihrer vormaligen ›Followerschaft‹ nach sich, sondern machten sie auch für ein politisch moderates Spektrum unglaubwürdig.

Es gibt aber auch Studien, die der Vorstellung von Filterblasen und ihren unmittelbaren Auswirkungen auf Tendenzen politischer Polarisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung widersprechen. So argumentieren etwa Rau und Stier (2019) oder auch Moeller et al. (2018), dass die Quellenvielfalt von Nachrichten durch das Filtern über Soziale Medien eher bereichert werde. Dieser Debattenkontext zeigt: Wenn in der wissenschaftlichen Diskussion noch kein Konsens über die Existenz und Wirkung von Filterblasen existiert, muss das die Alltagesevidenz eigener Beobachtungen und Erfahrungen von und mit Sozialen Medien nicht schmälern. Aber es zeigt eben auch, dass diese Alltagsevidenz nicht identisch mit derjenigen wissenschaftlichen Evidenz ist, auf die sich eine Dokumentation wie »The Social Dilemma« zu stützen vorgibt und aus der sie nichts weniger als einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit herleiten zu können beansprucht.

Das Hamsterrad der Technologiepanik

An dieser Unterscheidung wissenschaftlicher und populärer Diskursebenen wäre aber auch dann festzuhalten, wenn die Sozialpsychologie tatsächlich empirisch belastbare Belege für die pathologischen Folgen der Nutzung Sozialer Medien präsentierte. Denn die öffentliche Diskussion über die Evidenz dieses Zusammenhangs, und mit ihr auch Orlowskis Warnung an uns alle als Mediennutzer*innen der Gegenwart, orientiert sich an einem traditionellen Ensemble der Muster von Suchtdiskursen – die Gefährdung der Jugend, die Beeinträchtigung des Alltags und die Modifikation von Selbst- und Gesellschaftsbildern. Deswegen ist neben den systematischen Einwänden gegen die Übertragbarkeit medizinischer und psychologischer Diagnosen auf medienkritische Diskurse eine historisch begründete Perspektive auf den fraglichen Zusammenhang zu berücksichtigen: Die Psychologin Amy Orben hat jüngst in ihrem Aufsatz »The Sisyphean Cycle of Technology Panics« Strukturmerkmale identifiziert, durch die die aktuelle Debatte mit medienkritischen Argumentationen früherer Zeiten verknüpft ist, in denen neuen Technologien Suchtgefahren zugeschrieben wurden – so im Fall von Film, Radio und Fernsehen. Die wachsende Bedeutung sog. »technology panics« im 20. Jahrhundert hängt Orben zufolge eng mit dem zunehmenden Interesse an einer wissenschaftlichen Grundlegung für soziale Fragen (und also womöglich mit der Etablierung der Sozialwissenschaften generell) zusammen. Gerade kulturkritische Diskurse ziehen wissenschaftliche Erkenntnisse allerdings nur sehr selektiv und mitunter auch bloß rhetorisch heran, während sie umgekehrt den Druck auf die empirischen Wissenschaften, Erkenntnisse zur Lösung gesellschaftlicher Problemfelder bereitzustellen, erhöhen.

In diesem Zusammenhang benennt Orben als eigentliche Grundlage für die wiederkehrenden Argumentationsmuster medienkritischer Diskurse die Vorstellung eines »technological determinism«, also die zweischneidige Annahme, Technologien seien der wichtigste gesellschaftliche Antriebsfaktor, deswegen in ihrer Entwicklung aber zugleich immer schwerer zu kontrollieren. Das damit einhergehende Gefühl der Hilflosigkeit mache sich in Form einer »moral panic« Luft, also einer mehr oder weniger unspezifischen, darum aber um so tieferen öffentlichen Sorge, die sich dem Schutz sozial prekärer oder schützenswerter Gruppen verschreibt, hier meist Kindern und Jugendlichen. Allerdings fehlt für den tatsächlichen Beleg einer gesellschaftlichen Gefahr neuer Medien für solche verletzlichen Gruppen ein theoretischer und methodischer Rahmen, der eine vergleichende Medienwirkungsforschung ermöglichen würde – und eben weil dieser Vergleichsrahmen fehlt, können Medienkritiker*innen jedes neue Medium als etwas singulär Neues behandeln, von dem aus folglich auch eine bislang unbekannte Gefahr ausgehe.

Orbens Historisierung lässt sich unschwer historisch weiter verlängern – bekanntlich wurde im 18. Jahrhundert vor dem Besuch von Theatervorstellungen gewarnt, weil die auf der Bühne gezeigten Leidenschaften das Publikum zu überwältigen drohten, und die Kritik an der sogenannten Lesesucht angesichts des neuen Erfolgsgenres des Romans war ebenfalls als pädagogische Warnung vor nervlicher Überreizung, sozialer Isolation und Realitätsverlust der Zöglinge angelegt. Ein Jahrhundert darauf ging es um den Film, dessen suggestive Bilder in dunklen und ungelüfteten Räumen nicht nur als Gefahr für die Volksgesundheit, sondern auch als Anregung zur Nachahmung der gezeigten Gewalttaten gebrandmarkt wurden – was nicht nur Folgen für Zensurmaßnahmen, sondern auch für die Strafgesetzgebung hatte, etwa in Gestalt der notorischen Schmutz- und Schund-Paragraphen gegen Pornographie. Das Fernsehen schließlich war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gegenstand zahlloser sozialpsychologischer Untersuchungen, die ebenfalls nachweisen sollten, dass der intensive Konsum dieses Mediums die Jugend zu sozialschädlichem Verhalten motiviere, letztlich aber aufgrund der diesbezüglich wenig aussagekräftigen Untersuchungsergebnisse nie zu einem empirischen Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen Medieninhalten und Nutzungsverhalten führten, sondern – motiviert von dem politischen Interesse an einem solchen Nachweis – lediglich zu immer neuen Studien und Versuchsanordnungen.

Aufgrund dieser frappierenden Parallelen zwischen Diskursen über unterschiedliche Medien in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten spricht die Kommunikationswissenschaftlerin Susanne Keuneke von einem konstanten kollektivpsychologischen Phänomen der »Medienangst«, das auf die möglichen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen durch neue Technologien mit der Warnung vor deren trivialen Inhalten, pädagogisch unliebsamen Botschaften, moralischen Tabubrüchen, Verfälschungen der Wirklichkeit, Verstärkung asozialen Handelns sowie eben pathologischen Wirkungen reagiert. Ob diese Reaktionen dabei tatsächlich für alle Stationen des Mediensuchtdiskurses identisch sind, oder ob die je unterschiedlichen Wirkungsästhetiken von Medien nicht auch zu verschiedenen Gewichtungen geführt haben, wäre im Einzelnen zu untersuchen. Was die von Orben und Keuneke angeregte historische Kontextualisierung kritischer Mediendiskurse in jedem Fall nahelegt, ist eine Relativierung der vermeintlichen diagnostischen Evidenz der Zuschreibung pathologischer Medienwirkungen: Diese Zuschreibungen scheinen zumindest auch an einen seit Jahrhunderten geführten Diskurs anzuschließen und nicht ausschließlich an empirischen Beobachtungen zur Nutzung des jeweils aktuellen Mediums orientiert. Darüber hinaus verdeutlichen sie die prekäre Zeitlichkeit medienkritischer Diskurse – die öffentliche Entrüstung folgt dem Wechsel von Ebbe und Flut, und die Wellen, die sie anfänglich schlägt, ziehen sich ebenso bald wieder zurück. Daher wird die Herausforderung an eine Medienkritik zukünftig darin bestehen, sich von diesem Gezeitenmodell zu lösen und Mediennutzungsverhalten und seine sozialen und politischen Konsequenzen innerhalb eines übergeordneten theoretischen Rahmens komparativ (und nicht nur mit Blick auf das jeweils aktuelle Medienangebot) zu beschreiben. Das wird auch die Möglichkeit eröffnen, dem repetitiven Gestus medieninduzierter Dystopien Modelle einer wünschenswerten Medienrealität entgegenzusetzen – oder zumindest an die Seite zu stellen.

Strategien der Evidenzerzeugung

Man sollte mit anderen Worten nicht nur aufgrund der kontroversen medizinischen bzw. psychologischen Debatten behutsam mit der Diagnose einer Smartphone-Sucht umgehen, sondern auch aus diskurshistorischen Gründen. Eine solche Vorsicht gegenüber Diskursen, die einer solchen Sucht Evidenz zu verleihen versuchen, z.B. in Gestalt einer Dokumentation des Dilemmas der Sozialen Medien, ermöglicht zudem einen Perspektivwechsel: An die Stelle der Frage nach dem empirischen Gehalt von Suchtdiagnosen kann dann eine Analyse und Kritik der rhetorischen und ästhetischen Verfahren treten, durch die derartige Verknüpfungen zwischen wissenschaftlichen Suchttheorien und der Beobachtung von Mediennutzungsverhalten hergestellt werden können.

Nimmt man aus einer solchen Perspektive die Strategien der Evidenzerzeugung (anstelle der vermeintlichen Evidenzen selbst) in Orlowskis »The Social Dilemma« in den Blick, dann fallen insbesondere zwei Elemente ins Auge: zum einen der dokumentarische Gestus des Films, der die Faktizität seiner Aussagen gewissermaßen qua Genre nahelegt, zum anderen die narrative Konstruktion von Kausalzusammenhängen zwischen Mediennutzung und individueller Entwicklung, die den Mediensuchtdiskurs durch ein fiktionales Emplotment plausibilisiert.

Was die dokumentarische Form der Netflix-Produktion angeht, so schließt sie – vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Debatte zwischen einem abbildrealistischen und einem ideologisch-konstruktivistischen Verständnis des Genres – deutlich an die dokumentarischen Experimente von John Grierson und die in den Vereinigten Staaten der 1930er Jahre populäre Bewegung der »social documentary« an, die neben Jeff Orlowski auch zeitgenössische Filmemacher wie Joshua Oppenheimer oder Errol Morris beeinflusst hat. Grundlegend ist dabei vor allem die politische und pädagogische Motivation des Dokumentierens. Grierson glaubte an die schöpferische und erzieherische Kraft von Bildern, den Anstoß für Reflexion liefern und so die Änderung gesellschaftlich inakzeptabler Verhältnisse bewerkstelligen zu können. Dabei ergäbe sich die Handlung des Films aus den politischen Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart, in der die Komplexität des Sozialen in Reduktion auf ein filmisches Narrativ vereinfacht werden könne. So wollte Grierson, stark beeinflusst von den Schriften Walter Lippmanns, Mängel im Erziehungswesen schließen, in denen eine möglichst allumfassende Erziehung eine der Grundvoraussetzungen für demokratisch mündige Bürger*innen darstellt. Die Übertragung dieses Wissens war vor allem emotional intendiert – ein Faktum, das sich in der an Grierson angelehnten Zweiteilung des Begriffs »document« manifestiert. Während die erste Bedeutungsform vor allem den Objektstatus des Dokuments betrachtet, fokussiert die zweite Bedeutung die emotionale Ebene und wird als »human document« bezeichnet: »A document, when human, is the opposite of the official kind: it is not objective but thoroughly personal. […] [A] human document carries and communicates feeling, the raw material of drama […].« (Stott 1973: 7). Mit dieser Emotionalisierung versuchte Grierson dem Pessimismus, der den Liberalismus seiner Zeit durchzog, mit einer alternativen Informationspolitik entgegenzuwirken, die nicht nur auf strikte und rationale Informationsübermittlung abzielte und Themen ansprach, die Relevanz besaßen. So entstand die Tradition der »social documentary«, die die Form des »human document« nutzte, um durch die Darstellung von Individuen in ihrer Auseinandersetzung mit sozialen Situationen zu vermitteln, dass diese Situationen weder zwangsläufig noch unveränderbar waren. Die grundlegende Aufgabe des Dokumentarischen wurde mit anderen Worten darin gesehen, zur Verbesserung von Ungerechtigkeiten durch die Adressierung von Emotionen beizutragen.

Zuschauer*innenadressierung

Man könnte Jeff Orlowski als Regisseur von »The Social Dilemma« genau dieses Selbstverständnis nachsagen. Anhand einer inszenatorischen Mischung aus Figurenorientierung, Insiderwissen, wissenschaftlicher Ästhetisierung von Thesen und fiktionalen Elementen verschreibt Orlowski sich im Kontext des Films dem Ziel, auf das vielschichtige Gefahrenpotenzial Sozialer Medien aufmerksam zu machen und unser Nutzungsverhalten so in einem interventionistischen Gestus zu verändern. Für dieses edukative Ziel ist insbesondere der Modus der Zuschauer*innenadressierung, oder genauer: der impliziten Positionierung der Zuschauer*innen, von zentraler Relevanz. In der Dokumentarfilmtheorie wurde dieser Modus u.a. von Bill Nichols theoretisch modelliert, indem er Kategorien unterschied, innerhalb derer Zuschauer*innen anhand verschiedener Materialen und Techniken adressiert werden: So schreibt Nichols einem Film »expositorische« Qualitäten zu, wenn er Fragmenten historischer Gegebenheiten eher eine rhetorisch kommentierende als eine ästhetische oder poetische Rahmung verleiht. Außerdem sind direkte Zuschauer*innenadressierungen für dieses Darstellungsverfahren charakteristisch, die häufig über Zwischentitel oder Texteinblendungen vermittelt werden, oder der verstärkte Einsatz von Kommentaren: »In a reversal of the traditional emphasis in film, images serve a supporting role« (Nichols 2010: 167/168).

Tatsächlich wendet sich »The Social Dilemma« von der traditionellen Nutzung ›eines‹ Kommentators ab, allerdings nur, um die zentrale Botschaft als nicht minder einhellige Stimme auf die insgesamt 13 Interviewpartner*innen zu verteilen. Hier werden die zentralen Aussagen des Films formuliert. Neben dem elitären Kreis von Expert*innen aus der Wirtschaftswissenschaft, Medizin, Sozialpsychologie, Data Science und politischem Aktivismus sind es dabei vor allem die ›Aussteiger‹ aus der Tech-Industrie, die dem Film und seinen Thesen durch ihr ostentatives Insiderwissen Brisanz verleihen. Und damit führen sie entgegen der bis hierhin beobachteten Wiederholungsstruktur medienkritischer Diskurse ein Novum ein: Die Medienkritik nutzt hier den Gestus des ›Whistleblowing‹ als eine Praxis medial vermittelten Märtyrer*innentums im Zeichen der Gerechtigkeit, wie sie seit der Watergate-Affäre und dann zuletzt vor allem gegenüber der CIA praktiziert wurde. Diese Übernahme trägt maßgeblich zum Gewicht der Argumente in »The Social Dilemma« bei: Das Decouvrierungsnarrativ des ›Whistleblowing‹ mit seinen Konnotationen des Aussteiger*innentums und Ausschlusses steht hier einerseits als rhetorisches Mittel gegen die Angst vor und als scheinbarer Beweis für ›technological determinism‹. Es sind die Genies aus dem Silicon Valley, die sich mit dem Opfergang eines öffentlichen Denunziantentums des ›Monsters‹ zu entledigen versuchen, das sie erschaffen haben. Gleichzeitig führt sich das ›Whistleblowing‹ so auch selbst ad absurdum, da der Mechanismus des Ausschlusses und das damit verbundene symbolische Opfer nicht vollzogen werden: ›Tech-Aussteiger*in‹ zu sein bedeutet hier vor allem, von einem millionendotierten Unternehmen zum Nächsten zu wechseln, oder im Zweifelsfall ein eigenes Start-up zu gründen. Trotz dieser Inszenierung und dieses Widerspruchs erhöhen die Interviewsequenzen aufgrund ihrer Anlehnung an dokumentarische Konventionen im filmischen Kontext die Autorität der Expert*innen bzw. die Glaubwürdigkeit ihrer Thesen und untermauern mittels einer Ästhetik dokumentarischer Authentizität, wie beispielsweise durch die Einblendung von Kameraklappen zu Beginn des Films, die Qualität der Recherche der Argumentation.

Gleichzeitig steuert die disziplinäre Vielfalt der Interviewten (wobei der Film oft für den fehlenden stärkeren Einbezug von People of Color kritisiert wurde) in »The Social Dilemma« dem Eindruck entgegen, bei den dargelegten Gefahren Sozialer Medien – Suchtpotenzial, Filterblasen, ›fake news‹, politische Einflussnahme oder auch Störungen der Selbstwahrnehmung bei Jugendlichen – handle es sich um bloß subjektive Einschätzungen. Dies allerdings nicht durchweg, denn der Pluralisierungsstrategie steht die Prominenz eines der ›Talking Heads‹ deutlich entgegen, namentlich Tristan Harris, dem Google-Aussteiger und heutigen Advokaten für ethisch nachhaltigeres Verhalten in der Tech-Industrie. Er entspricht damit auf den ersten Blick dem Bild des idealtypischen Gewährsmanns für die Zielsetzung des Films: ein Aussteiger mit Insiderwissen, der sich öffentlichkeitswirksam und aufklärerisch gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber wendet. Harris unterstützt damit gleichzeitig den Pitch und das decouvrierende Potenzial des Films, der mit dem Versprechen daherkommt, Zuschauer*innen einen Blick ›hinter die Kulissen‹ großer Tech-Firmen und auf ihre eigentlichen Intentionen zu gewähren, wenn sie ihre Nutzer*innen manipulieren. Unterstrichen werden Harris’ Bedeutung und sein Versprechen dadurch, dass seine Einbettung in die wiederkehrende Struktur der Interviewsituationen immer wieder durch Sequenzen unterbrochen wird, in denen wir dem IT-Whistleblower auf seiner Aufklärungs- und Interventions-Mission folgen: Die Darstellung von Reisen, Panel-Diskussionen und Vorträgen suggeriert Engagement und Mobilität. Vor allem die Sequenz, in der Harris seinen Vortrag in populärer TED-Talk-Manier einübt, unterstützt die Zuschauer*innenpositionierung ›hinter dem Vorhang‹. Die Darstellung des eigentlichen Vortrags selbst dient dagegen eher der Verdeutlichung der Relevanz sowohl von Harris als Person als auch seiner Thesen für eine aktuelle Debatte. All dies wird so unauffällig inszeniert, dass es beinahe an das im Film so häufig kritisierte »subliminal marketing« erinnert – so auch, wenn die beiläufige Einblendung des Apple-Mitbegründers Steve Wozniak im Publikum von Harrisʼ Vortrag die Relevanz und Autorität der Aussagen betont.

Dokumentarismus zwischen Fakt und Fiktion

Neben der Kommentarfunktion beschreibt Nichols aber auch die Funktion des Schnitts im Dokumentarfilm und hier vor allem Techniken, die zur Unterstützung und Weiterführung eines Arguments bei gleichzeitigem Wechsel intradiegetischer Ebenen dienen. In »The Social Dilemma« wird diese Schnitttechnik insbesondere in den Sequenzen deutlich, in denen es zum Verschwimmen von Fiktionalität und Dokumentarismus kommt. Während nämlich die Interviewsequenzen dokumentarische Authentizität und faktenbasiertes Wissen vermitteln, ist die Abfolge dieser Sequenzen durchsetzt von den Abschnitten einer Spielfilmhandlung, die als fiktionalisiertes Reenactment des Medienkonsums in einer US-amerikanischen Durchschnitts-Familie die Thesen der Expert*innen und Wissenschaftler*innen in den dokumentarischen Passagen illustrieren oder genauer: anhand eines exemplarischen Einzelfalls anschaulich und konkret werden lassen.

Man könnte auch sagen: Durch die so produzierte Individualisierung und Emotionalisierung versucht »The Social Dilemma« den Brückenschlag von den abstrakten Algorithmen, mittels derer mobile digitale Geräte funktionieren und ihre Nutzer*innen programmieren, zu unmittelbaren lebensweltlichen Konsequenzen für diese Nutzer*innen. So zeigt gleich eine Eingangssequenz der fiktionalen Handlung den Sohn der Familie, Ben, beim Betrachten eines Videoausschnitts der US-amerikanischen Talkshow »The View«, während er sich auf dem Weg zur Schule befindet. Dann wechselt die Ebene filmischen Materials unvermittelt aus dem fiktionalen Raum des Reenactments heraus, wenn das Bild plötzlich vollkommen vom Archivmaterial der Talkshow eingenommen wird. Die fiktionale Rahmung wird entfernt, die Zuschauer*innen sehen mit einmal dieselben Inhalte wie Ben. Perfektioniert wird dieser Übergang dadurch, dass einer der ›Talking Heads‹ aus »The Social Dilemma«, der Netz-Kritiker Jaron Lanier, Gast in der Show ist. Während seiner Vorstellung in der Show wird auch diese Ebene unmittelbar wieder überholt, indem Lanier auditiv aus dem Off bereits aus einer anderen intradiegetischen Ebene zu hören ist, nämlich aus seiner visuell kurz darauffolgenden Interviewsituation in »The Social Dilemma« selbst. Der scheinbar makellose Übergang dreier filmischer Ebenen ereignet sich in ca. 15 Sekunden und lässt dreierlei erkennen: erstens, dass der Einsatz des Schnitts im Film tiefgreifend rhetorischer Natur ist; zweitens, dass es eine starke Tendenz zur Überdeckung dieser rhetorischen Natur gibt; und drittens, dass die jahrzehntelang geführte Debatte über Dichotomien zwischen Fakt und Fiktion und damit einhergehenden Fragen von Kredibilität im Dokumentarismus mit all ihren Implikationen hier mit spielerischer Leichtigkeit überwunden wird.

Ein weiteres Beispiel für eine solche Ebenenvermischung ist das Filmposter im Kinderzimmer des smartphoneabhängigen Sohns, das ebenfalls ›unterschwellig‹ auf einen anderen Film von Jeff Orlowski, die Klimawandel-Dokumentation »Chasing Ice« von 2013, verweist. Solche ›placements‹ bedienen sich offenkundig derselben Logik des »subliminal advertising« (auch wenn »Chasing Ice« vom Konkurrenten Amazon Prime angeboten wird), das im Film selbst Zielscheibe der Kritik ist.

Der Film nutzt derart selbst diejenigen Mittel, die er zugleich zu entlarven und anzuklagen vorgibt. Zu diesen Mitteln zählt auch das Ineinanderschalten von dokumentarischen und fiktionalen Darstellungsformen, mittels derer »The Social Dilemma« eine Welt repräsentiert, in der Nutzer*innen von Medien abhängig sind, die eigene Welten konstruieren. Und die Verknüpfung des edukatorisch-interventionistischen Dokumentargestus mit dem quasi-naturalistischen Kammerspiel einer Normalfamilie ist dabei zentrales Element dieses Weltentwurfs: Denn ebenso sehr, wie die Spielfilmhandlung die Thesen aus den Interviewsequenzen emotional und personalisiert illustriert, sichern diese Thesen umgekehrt der fiktionalen Erzählung ihren Wahrheitsbezug zu.

Diesen Wechselbezug verdeutlichen insbesondere zwei Aspekte der Spielfilmhandlung: Erstens die Art und Weise, auf die das behavioristische Lernschema, anhand dessen Smartphone-User habituell an ihr Gerät gefesselt werden, als Handlungselement der Erzählung konkretisiert wird. Der Behaviorismus versteht den Zusammenhang zwischen ›stimulus‹ und ›response‹ bekanntlich als ›black box‹ und beobachtet lediglich diese konkreten Reiz- und Reaktionshandlungen. Das hält auch »The Social Dilemma« so, wenn der Film zu veranschaulichen versucht, auf welche Weise der Sohn der Musterfamilie in die Abhängigkeit abrutscht. Der Mechanismus dieser Abhängigkeit selbst wird aber gewissermaßen hyperrealistisch dargestellt, insofern die Künstliche Intelligenz, die in Form von Algorithmen der Nutzer*innendatenauswertung die jeweils individuell zugeschnittenen Benachrichtigungen und Inhalte zusammenstellt, hier personalisiert wird, und zwar in Gestalt eines simultanen Mehrfach-Auftritts von Vincent Kartheiser, dem Pete Campbell aus der Erfolgsserie »Mad Men«, der die einzelnen Smartphone-User in einer Anordnung von Waben beobachtet, die wie eine Kreuzung aus Jeremy Benthams Panopticon und den Bio-Batterie-Zellen aus »The Matrix« aussehen, ihr Verhalten auswertet und sie mit kalkulierten Impulsen – oder Nudges – zur Anregung der weiteren Nutzung des Geräts versorgt. Auf diese Weise sind die subliminalen Strategien der Internetkonzerne und das Suchtverhalten ihrer Kund*innen Teil eines kybernetischen Systems, das sich durch Feedback-Schleifen selbst steuert, indem das Nutzer*innenverhalten nicht nur von dem medialen Angebot gelenkt wird, sondern auch die Daten bereitstellt, anhand derer dieses Angebot laufend aktualisiert wird – und also, wie angedeutet, selbst zum »product« wird.

Dass der Ästhetik des Films zufolge Menschen innerhalb dieses Systems wie mechanisch reagierende Marionetten erscheinen, während die computergesteuerte KI personalisiert wird, unterstreicht in seiner chiastischen Logik die Warnung des Films auch auf der Ebene seiner Inszenierung. Die Strategie, die KI durch eine Vervielfältigung einer Person zu illustrieren und in diesem Zuge anhand der drei Köpfe, die symbolisch für »engagement«, »growth« und »advertising« stehen, strategische Überlegungen darzustellen, unterstreicht die These der Intentionalität und Subjektivität von Algorithmen, die am Ende selbst als programmierte Meinungen erscheinen.

Das zweite Verfahren, mittels dessen der Wechselbezug zwischen der fiktionalen Spielfilmhandlung und den wissenschaftlichen Thesen des Films etabliert wird, ist die narrative Struktur dieser Handlung, die ja nicht nur die schrittweise Auflösung des Familienlebens und aller Sozialkontakte der jüngsten Tochter und des Sohns im wirklichen Leben nachzeichnet, sondern durch die Rückbindung jedes einzelnen dieser Schritte an behavioristische Theorien auch einen nahezu ausweglosen Kausalzusammenhang behauptet. Dass Ben zu Beginn des Films ein gut integrierter und bei den Mädchen beliebter Teenager aus einer intakten Familie ist und am Ende sozial isoliert wegen der Beteiligung an einer gewalttätigen Demonstration von Verschwörungstheoretiker*innen im Schlamm liegt und von einem Polizisten zu Boden gedrückt wird, ist eine gradlinige Entwicklung vom Smartphone-Gebrauch in die Katastrophe, die in den einzelnen Sequenzen der Spielfilmhandlung Schritt für Schritt eskaliert. Zunächst vermag Ben sich beim heimischen Familien-Dinner nicht von seinem Telefon zu trennen, übertrumpft nur von seiner jüngeren Schwester Isla, die in einer psychologisch nicht weiter plausibilisierten Szene den Behälter, in dem ihre Mutter die konfiszierten Smartphones aufbewahrt, zerstört. Dann verliert Ben in der Schule zunehmend das Interesse an der Interaktion mit seinen Mitschüler*innen, bis er vor lauter Bildschirmstarren gar nicht mehr bemerkt, dass ihn eine Freundin anspricht, für die er vormals geschwärmt hatte; und schließlich überwirft er sich mit seiner Schwester und verliert sich in einer Filterblase, die ihm ein verzerrtes Weltbild vorgaukelt, gegen das er sich schließlich der besagten Demonstration anschließt. Jede einzelne Stufe dieser Eskalation wird dabei von der personalisierten KI gesteuert und befeuert. Sie versorgt Ben immer weiter mit den Inhalten, die ihn an sein Smartphone fesseln, und stupst ihn in Situationen, in denen Ereignisse der Außenwelt dazu führen könnten, seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden, gezielt an, um ihn an die Wonnen der Virtualität und an die vermeintliche Bedeutung der verschwörungstheoretisch offengelegten Wahrheit hinter den offiziellen ›fake news‹ zu erinnern.

Es geht hier nicht darum zu bestreiten, dass die exzessive Nutzung von Mobiltelefonen und Sozialen Medien als problematisch wahrgenommen werden kann und im Sinne einer Alltagsevidenz auch so wahrgenommen wird. Die Netflix-Dokumentation suggeriert diese Problematik aber als generalisierbares Ursache-Wirkungs-Verhältnis, innerhalb dessen Nutzer*innen zwangsläufig zu Marionetten ihrer Endgeräte und dabei gezielt und intentional in einen (a)sozialen Abgrund der Beziehungslosigkeit, des Realitätsverlusts und der politischen Verfehlung gesteuert werden. Und selbst die äußerst schematische Anlage der (hier reichlich unverdient so genannten) Spielfilmhandlung ist vor diesem Hintergrund weniger ästhetisch misslungen (das auch) als stimmiger Bestandteil des Narrativs: Denn Bens Geschichte steht als exemplarischer Einzelfall für uns alle, die wir in unseren Waben dahinvegetieren und auf die immer selben Neuigkeiten warten, mit denen die KI, die uns beständig beobachtet, unsere Augen an den Bildschirm fesselt und verhindert, dass wir jemals wieder aufblicken, die rote Pille wählen und die Wahrheit unserer Abhängigkeit von einer neuen Matrix erkennen. Um aber so generalisierbar zu bleiben, wie die These eines gesamtgesellschaftlichen Suchtverhaltens dies erfordert, darf eine solche Familiengeschichte ihre stereotype Durchschnittlichkeit nicht durch individuelle Abweichungen irritieren – sodass am Ende noch die ästhetische Minderwertigkeit der Spielfilmsequenzen in »The Social Dilemma« zum Bestandteil der Warnung wird, die die Dokumentation vermittelt.

Medienkritik und Medienästhetik

Selbst wenn diese Warnung im Kern gut gemeint ist: Dass sie sich selbst desjenigen Mediums bedient, das sie kritisiert, ist unübersehbar. Die Pille, die uns aus den Filterblasen unserer Feedback-Schleifen erlöst und die Wahrheit des Suchtpotenzials von Bildschirmen erkennen lässt, wird von Netflix selbst auf unsere Computer und Smartphones gestreamt. Dass wir den Blick vom Bildschirm lösen sollten, erfahren wir nur, wenn wir weiter auf ihn starren – was man wahlweise als perfide Paradoxie, performative Bestätigung der zentralen These des Films oder als das praxeologische Dilemma lesen kann, das »The Social Dilemma« selbst generiert. Denn dieses Dilemma wird von Netflix mit denselben Mitteln diagnostiziert, die Gegenstand dieser Diagnose sind. Die volksaufklärerische Sendung – anhand von Bens Schicksal sollen wir über die Gefahr des Geschäftsmodells digitaler Medien und über die subtile Logik des ›digital nudging‹, die unsere Aufmerksamkeit an unsere Endgeräte fesselt, informiert werden – erreicht uns durch dieselben Anzeigen, Push-Nachrichten und Anstupser, die im Film Teil der zu entlarvenden Mechanik sind.

Gut möglich, dass die Kritik an mobilen und Sozialen Medien sich dieser Plattformen und Methoden bedienen muss, um das am meisten betroffene Publikum erreichen zu können. Und möglicherweise waren die Macher*innen von »The Social Dilemma« auch der Meinung, die Kritik an Mediennutzung und Medienwirkungen müsse dieselben medialen Strategien nutzen, die sie kritisiert, damit die von den Feedback-Schleifen ihrer kleinen KI-Avatare längst betäubten Zuschauer*innen sich überhaupt noch angesprochen fühlen. Und dennoch sind die Machart des Films und seine Kuration nicht lediglich Beiwerk einer ansonsten gehaltvollen und transparent kommunizierten Botschaft. Die eingangs erwähnte Erfolgsgeschichte der Netflix-Dokumentarsektion im vergangenen Jahr spielt hier nämlich durchaus eine Rolle. Abgesehen von der generellen Popularität der Plattform und ihrer Inhalte avancierte sie unter den Umständen der Corona-Pandemie und dem Gebot des Social Distancing noch stärker zu einem primären Referenten in der medialen Angebotspalette. »The Social Dilemma« oder auch »Tiger King« sind in diesem Kontext zwei der prägnantesten Beispiele dafür, dass Netflix es in diesem Zuge geschafft hat, das (außerhalb der True-Crime-Fangemeinde) im populären Diskurs doch eher marginalisierte Genre von seinem angestaubten Image zu befreien und wieder sexy zu machen – oder zumindest sehr populär. 64 Millionen Zugriffe für »Tiger King« und 38 Millionen Zugriffe für »The Social Dilemma« im jeweils ersten Monat nach der Veröffentlichung zeigen, in welchen Dimensionen Netflix die dokumentarische Form popularisiert; manche würden jedoch auch sagen: verwässert.

Unterhalb der Oberfläche einer bloßen Dokumentation wissenschaftlicher Befunde bzw. einer edukativ-interventionistischen Warnung vor schädlichen Medienwirkungen bietet »The Social Dilemma« aber gerade keine umfassende Reflexion der sozialen und ästhetischen Strukturen medialer Kommunikation im digitalen Zeitalter. Ebenso wenig, wie der Verweis auf die Vorgeschichte von Mediensuchtdiskursen allein ausreicht, Beobachtungen unerwünschter Konsequenzen einer ubiquitären und mobilen Nutzung Sozialer Medien zu entkräften, vermag die Utopie eines Lebens jenseits der digitalen Netzwerke zu überzeugen, wenn sie keine Szenarien für konkrete mediale Praktiken, Interaktionsformen und ästhetische Formate zu entwerfen vermag. Die Frage, auf welche Weise Kommunikation denn ästhetisch anspruchsvoll und sozial wünschenswert zu erfolgen hätte, bleibt unbeantwortet. Stattdessen setzt »The Social Dilemma« ganz und gar auf die Evidenz wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Eignung zur Behebung fehlgeleiteter gesellschaftlicher Tendenzen. Das entspricht aber gerade nicht dem Stand der Diskussion über die Verschränkungen zwischen Medienwissenschaft und Sozialpsychologie, innerhalb derer noch gar kein theoretisches Modell zur Wirkung digitaler Medien ausgearbeitet wurde. Das wirkungsästhetische Paradigma eines passiven Ausgeliefertseins von Rezipient*innen an ein zentral gesteuertes Medienangebot jedenfalls wird der interaktiven Realität digitaler Netzwerkpraktiken und -partizipant*innen in ihrer Komplexität kaum gerecht.

Anstatt also den Rückgriff auf die Wissenschaft als Lösung problematischer kollektiver Affektlagen zu präsentieren, wäre auf die deutliche Diskrepanz zwischen dem sozialpsychologischen Forschungsstand und einer zunehmend emotionalisierten Perspektive auf Soziale Medien in Form einer gelebten Alltagsevidenz hinzuweisen, die den Konsequenzen der Auflösung aller Einzelmedien im Glasfasernetz, wie Kittler sie einst polemisch voraussagte, immer noch hinterherhinkt. So ist die Geschwindigkeit, mit der Netflix zunächst gegenüber dem Kino und dann gegenüber dem Fernsehen als destruktive Kraft betrachtet wurde, schwindelerregend. Wenn der Anbieter dann, wie kürzlich vollzogen, mit der Ankündigung eines fernsehähnlichen linearen Programmangebots auch noch eine medientechnische Rolle rückwärts vollzieht und nun einfach die Medienspezifik des Fernsehens zu kopieren versucht, erreichen die monopolisierenden, wenn nicht gar kannibalistischen Tendenzen der gegenwärtigen Medienlandschaft, aber auch die selbstreferentielle Struktur ihrer Kritik, ein Tempo, mit dem kaum noch Schritt zu halten ist.

Umso wichtiger ist es dann aber, dieses Ineinanderfallen von Medienprodukten und Mediendiskursen als eigentlich problematische Tendenz zu registrieren: Wenn »The Social Dilemma« sich als Vermittler zwischen spezialdiskursiven Wissenschaftsdebatten, die sich dem prekären Status ihrer Ergebnisse bewusst sind, und einer Öffentlichkeit, der ein Wunsch nach klaren Evidenzen zugeschrieben wird, positioniert, folgt daraus nicht, dass diese Vermittlerposition durch ihr edukatives Ethos und den Idealismus ihres Gesellschaftsbilds allein gerechtfertigt wäre. Denn beide sind wie gesehen selbst Produkt einer spezifischen Ästhetik und Rhetorik des Dokumentarischen, die auf die Emotionalisierung des Publikums setzt – und sei diese Emotion nur eine weitere in der Geschichte der Medienängste. Gerade wenn es darum geht, die mediale Erzeugung von Affekten zu beobachten und die aktuelle Tendenz Sozialer Medien in den Blick zu nehmen, online wie offline Affektpotenzial zu entladen, begibt Netflix sich durch die Produktion und Intensivierung von Affekten im Gewand einer Dokumentation unweigerlich in ein Dilemma eigener Art: Der Versuch, Tendenzen der Populärkultur durch ein populärkulturelles Produkt zu begegnen, das den Gestus spektakulärer Entlarvung mit dem Anspruch ontologischer Wahrheiten verbindet, verfehlt das Evidenzpotential beider.

 

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