Zu den Verfahren prä- und postdigitaler Listen
[erschienen in: Hanna Hamel/Eva Stubenrauch (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023]
1. Listen vor und nach der Digitalisierung
Listen sind als Medium der Ordnung und Organisation von Wissen so alt wie die Schrift.[1] Mit der Digitalisierung[2] erleben sie eine bemerkenswerte Konjunktur. Digitalisierung bedeutet neben anderem auch, Daten in Listen zu organisieren.[3] Im Umgang mit digitalen Medien und Formaten stößt man überall auf sie, als Suchergebnislisten oder Feeds,[4] beim Tagging, als Ratings oder Rankings. Digitale Medien bringen ständig Listen hervor. Listen haben aber auch eine lange literarische Tradition als poetische Form,[5] als nichtnarrative Struktur mit einem breiten literarischen Funktions- und Bedeutungsspektrum.[6]
Listen sind, wenn es um die digitalen Transformationen des Schreibens geht, aus drei Gründen relevant. Erstens weil sie eine unerlässliche Form digitaler und algorithmischer Datenverarbeitung und -organisation darstellen, zweitens weil ihre Vorläuferformen um Jahrhunderte ins Prädigitale zurückreichen und drittens weil sie an literarische Traditionen der letzten Jahrzehnte anknüpfen,[7] besonders prominent zu beobachten in der Popliteratur der 1960er und 1990er Jahre.[8]
Dieser Beitrag befasst sich damit, ob und wie sich die literarischen Verfahren des Auflistens unter postdigitalen Voraussetzungen verändern. Was bedeutet die digitale, algorithmische Dissemination von Listen für ihre literarischen Erscheinungsformen und Verfahren? Unterscheiden sich die postdigitalen literarischen Listen von den Listen aus prädigitaler Zeit? Zu den postdigitalen Bedingungen der Möglichkeit von Literatur gehören die digitalen Gegebenheiten des Schreibens und des KI-prozessierten »Schreibenlassens«.[9] Es ist davon auszugehen, dass digitale Medien und Tools als Bedingung der Produktion Niederschlag in der Präsentation eines Textes finden.[10] Aber wie merkt man das den Listen an, deren Form sich dadurch auszeichnet, dass sie »historisch konstant, […] transhistorisch« ist?[11] Im Hinblick auf die literarischen Verfahren stellt sich die Frage, ob nach der Digitalisierung, also unter postdigitalen Voraussetzungen, tatsächlich kein Schreiben mehr vorstellbar ist, das von den Veränderungen der medialen und technischen Gegebenheiten unberührt bliebe.[12]
2. Neue Verfahren: Es gibt sie nicht, es gibt sie
Zwei Standpunkte sind zu dieser Frage nach der Unterscheidung und den Verfahren prä- und postdigitaler Listen denkbar:
Standpunkt 1: Es gibt keine neuen Verfahren, und die Liste dekonstruiert die Differenz von prä- und postdigital. Listen sind nämlich immer Listen, und sie sind immer als solche erkennbar.[13] Das Medium der Liste besticht durch die zeitüberdauernde Beständigkeit seiner Form, durch die formale Konstanz.[14] Einzelne, dekontextualisierte Elemente werden aneinandergereiht und zumeist untereinander aufgeschrieben. Verknüpft sind diese items durch nichts anderes als das Prinzip der Äquivalenz.[15] Listen lassen sich demnach als ›Paradigmakonstrukte‹ definieren, wie Ann Cotten in ihrem Buch über die Listen der Konkreten Poesie vorschlägt.[16] Die auf einer Liste versammelten Elemente bilden gemeinsam ein Paradigma.[17] Auf einer Liste stehen so unterschiedliche Dinge wie Namen (Gästeliste), Telefonnummern (Telefonbuch), Produkte aus dem Supermarkt (Einkaufsliste), Ausflugsziele (Reiseführer), Hotels (tripadvisor), Bücher (Bestsellerlisten), Songs (Charts), Staatsfeinde und Terroristen (kill list) etc. Diese Elemente werden als Bestandteile einer Liste vereinheitlicht, ganz gleich, wie heterogen die einzelnen Elemente auf den ersten Blick sein mögen, welche Funktion sie konkret erfüllen oder ob das Paradigma selbstzerstörerisch durchbrochen wird.[18] Gewissermaßen sind Listen insofern immer schon digital gewesen, als sie einen nichtlinearen Zugriff auf einzelne Einheiten ermöglichen, die sich diskret modulieren lassen und zumeist quantitativ erfasst und numerisch repräsentiert werden.[19] Listen bilden daher so etwas wie prerequisites der Digitalisierung.
Standpunkt 2: Die Digitalisierung verändert alles, sie führt zu ganz neuen Verfahren des Auflistens und zu formalen Innovationen. Listen vervielfältigen sich unter den Bedingungen der Digitalisierung, weil sie es ermöglichen, eine Ordnung herzustellen, ohne ein Ordnungskriterium festzulegen und ohne etwas zu wissen über die Dinge, die geordnet werden. »They generate an order almost automatically«.[20] Umberto Eco nennt das Internet die »Große Mutter aller Listen, unendlich per definitionem, da in ständiger Entwicklung begriffen«.[21] Digitale Formate haben eine Affinität zur Form der Liste. »In the digital world lists are pervasive and seem to be the privileged form of organization of information«.[22] Internetsuchmaschinen produzieren Suchergebnislisten, um Informationen zu organisieren, sortieren und hierarchisieren.[23] Einträge in sozialen Medien sind meistens wie unendliche Listen strukturiert. Die Einträge stehen untereinander – entweder zeitlich oder nach Popularität geordnet. Und überall lassen sich Restaurants, Reiseziele, Filme, Bücher, Universitäten und anderes bewerten; das Ergebnis sind Rankings und Ratings in Form von Listen. Auch bei Wikipedia sind Listen ein großes Thema. Es gibt sowohl einen Eintrag zur Verwendung von Listen in Wikipedia-Einträgen[24] als auch eigens eine Liste mit Listen.[25] Die digital-algorithmische Automatisierung führt also, das wäre die Schlussfolgerung von Standpunkt 2, zu grundlegend neuen Verfahren, zu einer Veränderung der Konstruktionsgesetze und der Anordnungslogik, schließlich der Erscheinungsformen und der Handhabung von Listen.
Wie verhalten sich diese beiden Standpunkte zueinander? Um das zu klären, wird zunächst eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Typen von Listen vorgenommen und sodann die Frage adressiert, was Digitalisierung für Listen bedeutet.
Zwei Typen von Listen lassen sich heuristisch unterscheiden:[26] Auf der einen Seite die auktorialen Listen, die sich einer oder einem individuellen Listen-Autor:in zurechnen lassen und zumeist nominal gestaltet sind. Dazu gehören alltägliche Formen wie Einkaufs- und To-do-Listen, aber auch viele literarische Listen als Teil von Romanen oder in Gedichtform. Auf der anderen Seite stehen anonyme Listen, die algorithmisch generiert werden und sich nicht auf eine Autorinstanz, die für die Liste Verantwortung trägt, zurückführen lassen, sondern unüberschaubar große Mengen von Daten berücksichtigen und insofern quantitativ operieren. Die Quantifizierungsprozesse führen dazu, dass es sich bei den anonymen Listen im Ergebnis zumeist um ordinale (d.h. hierarchisch sortierte) oder metrische (d.h. hierarchisch sortierte mit quantifizierten Abständen zwischen den Rängen) Listen handelt.
Die auktoriale, meist nominale Form der Liste ist ein beliebtes popliterarisches Verfahren und popkulturelles Phänomen. Dazu gehören Listen, wie man sie aus den Texten von Benjamin von Stuckrad-Barre oder Andreas Neumeister kennt. Anders die anonymen Listen. Sie spielen vor allem in der Populärkultur eine Rolle, in der es immer darum geht, zu vergleichen, was in Charts, Bestsellerlisten und Rankings ganz weit oben steht, was also bei vielen Beachtung findet und was nicht.[27] Solche Listen haben durch algorithmische Techniken, die eine Automatisierung und Individualisierung der Listenerstellung im Digitalen ermöglichen, erheblich an Bedeutung für die Darstellung von »quantifizierten Popularitätsrelationen« gewonnen.[28]
Was aber macht die Digitalisierung mit Listen? Dadurch, dass Listen zunehmend digital generiert und distribuiert werden, verändert sich offenbar nicht ihr Inhalt oder ihre Struktur. Bestsellerlisten, Charts oder Rankings gab es schon vor der Digitalisierung, auch alltägliche Gebrauchslisten und poetische Auflistungen sind keine digitale Innovation. Die gesuchte Unterscheidung von prä- und postdigitalen Listen hängt also (in erster Linie) nicht davon ab, was auf der Liste steht; der Inhalt ist für die formale Bestimmung von Listen irrelevant. Die Differenz basiert auch nicht darauf, wie die Liste angeordnet ist, weil die paradigmatische Grundstruktur bei allen Listen identisch ist – ohne sie wäre es keine Liste.
Um prä- von postdigitalen Listen zu unterscheiden, ist stattdessen maßgeblich, wie Listen erstens prozessiert bzw. produziert werden und wie sie zweitens beobachtet bzw. genutzt/betrachtet werden. Wenn es also trotz der hartnäckigen Formkonstanz der Liste eine Transformation hin zu neuen postdigitalen Verfahren und Schreibweisen gibt, dann beruht diese Veränderung auf zwei Bedingungen des Prozessierens und des Beobachtens von Listen: Die erste Bedingung besteht darin, dass die gelisteten items als Daten konzeptualisiert oder in Daten transformiert werden, die im Vorgang ihrer Erhebung, Verarbeitung und Speicherung entstehen und die miteinander kombiniert, korreliert und immer neu rekombiniert und rekorreliert werden können. Die mediale Differenz von Text und Daten ist konstitutiv dafür, wie Listen erstellt und beobachtet werden. Daten lassen sich im Sinne von Luhmanns Medienbegriff als eine »offene Mehrheit möglicher Verbindungen« begreifen.[29]
Die möglichen Verbindungen sind aber nicht unmittelbar wahrnehmbar oder sichtbar. Sie müssen erst in Form von Zahlen, Formeln, Kurven, Indizes oder eben Listen beobachtbar gemacht werden. Dahingegen liegen Texte immer schon in der stabilen, speicherbaren und reproduzierbaren Form eines Syntagmas vor.[30] Zwar erschließt sich die Bedeutung eines Textes erst durch das Verhältnis der syntagmatischen Achse der Kombination zur paradigmatischen Achse der Selektion. Aber entscheidend ist, dass in Texten die Kombination der Elemente, also das Syntagma, bereits festgeschrieben ist. Daten hingegen zeichnen sich durch ihre Rekombinierbarkeit aus, was Armin Nassehi als »die Verknüpfungsfähigkeit von Daten mit Daten« bezeichnet.[31] Der spezifischen Kohärenz literarischer Texte[32] auf der einen Seite steht die diskrete Formation von Daten auf der anderen Seite gegenüber. Die Datafizierung von Literatur ist folglich die Bedingung der Möglichkeit ihrer postdigitalen Rekonfiguration. Werden nämlich Texte in Daten überführt, sind sie nicht mehr auf die gleiche Weise lesbar, entweder weil die aus Texten erzeugten Daten nicht ›lesbar‹ sind oder weil ihre computerbasierte Organisation und Verarbeitung mittels Codes, Programmen und Algorithmen anders funktioniert als im Medium der Schrift.
Die zweite Bedingung der Möglichkeit für eine Transformation von Listen hin zu neuen Verfahren ist der Einsatz von Suchmaschinen, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption von Listen. Das Schreiben und Lesen literarischer Texte findet heutzutage im ständigen Austausch mit Suchmaschinen statt. Was die Suchmaschine an Informationen bereitstellt, wie sie diese Informationen strukturiert und welche Verbindungen sie dadurch schafft, dient zum einen als Material für literarische Projekte insbesondere im Bereich der Lyrik, vor allem konzeptueller Art, zu der häufig Gedichte in Form von Listen zählen. Daniel Falb bezeichnet solche Schreibweisen mit Kenneth Goldsmith als »Post-Internet Poetry«.[33] »Strömungen wie Flarf- und Alt-Lit« zeichnen sich, so erläutert Falb, dadurch aus, dass sie »das Netz als Produktionsmittel, Habitat und Distributionsmechanismus von Dichtung verwenden«, indem sie »Ergebnisse von Google-searches oder die Textästhetik und -materialien von Blogs, Chats, SMS und sozialen Netzwerken insgesamt zur Lyrikproduktion« einsetzen.[34]
Zum anderen gehören Suchmaschinen zu den gebräuchlichen digitalen Tools im Umgang mit literarischen Texten, insbesondere neuer Lyrik. Lyriklektüre und Suchmaschinennutzung gehören bei Gedichten von Falb, Cotten, Monika Rinck und anderen so eng zusammen, weil bei diesen Autor:innen häufig Wortkuriosa oder Fremdwörter auftauchen, die man mittels Suchauftrag zunächst entschlüsseln und kontextualisieren muss. Dadurch öffnet und schließt sich zugleich ein Raum digitaler Selbstreferenz, der nicht nur den (lyrischen) Text, sondern auch das Internet miteinschließt.[35] Die Suchaufträge und die Lektüre, die sich wechselseitig steuern, funktionieren als »Prozeduren im [selben, M. S.] geschlossenen Datenraum«.[36] Diese Erweiterung des literarischen Raumes ins Digitale hinein eröffnet ein Spektrum medientechnischer Affordanzen der Produktion und Rezeption.[37] Suchmaschinen dienen daher nicht lediglich als Instrument der Recherche, sondern sie werden selbst zu Akteuren, die die Art und Weise des Schreibens und Lesens transformieren. Solche Akteure können »ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort«.[38] Folglich verändern sich auch die Verfahren der Texte selbst, also ihre Konstruktionsgesetze und ihre Erscheinungsformen, denen abzulesen ist, dass digitale Medien an ihrer Konstruktion mitarbeiten.
Schreiben unter postdigitalen Voraussetzungen bedeutet mit diesen Bedingungen, d.h. der Datafizierung von Texten und dem Einsatz von Suchmaschinen, umzugehen. Welche Konsequenzen hat das für die Verfahren und Formen literarischer Texte? Welche Resonanz findet das in der literarischen Listenästhetik?
3. Satzspiele und big data lit
Zunächst einmal sieht man Listen ihre digitalen Konstitutionsbedingungen nicht unmittelbar an. Man vergleiche probeweise die beiden folgenden Listen:
»Ich bin schließlich kein Hampelmann
Ich bin schließlich kein Irrenwärter
Ich bin schließlich kein Müllabladeplatz
Ich bin schließlich kein Wohltätigkeitsverein
Ich bin schließlich kein Seelentröster«
»Ich hoffe es
Ich hoffe es 🙂 ….
Ich hoffe es !
Ich hoffe es ….
Ich hoffe es!
Ich HOFFE ES!!!!!
Ich hoffe es.
Ich Hoffe es Ändert sich bald was…. Es ist nicht mehr auszuhalten!!!!!!!!!!!
Ich hoffe es auch!!!!!«
Die zitierten Listen sind sich sehr ähnlich, wenn man ihre Strukturen miteinander vergleicht. Beide Texte sind durch syntaktische und semantische Äquivalenzen gekennzeichnet. Die durchgängige ›Ich‹-Anapher, die repetitiven Elemente, der Reihungsstil, die rhythmische Oberfläche und die Abwesenheit narrativer Elemente machen die Listen vergleichbar. Sie verfügen über die gleiche paradigmatische Struktur. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Texte.
Die erste Liste ist ein Auszug aus Peter Handkes Gedicht Was ich nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin.[39] Dieser Text stammt aus Handkes Gedichtband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt aus dem Jahr 1969. In diesem Band finden sich viele »Satzspiele«,[40] wie Handke das nennt, in denen syntaktische Variationen grammatischer Modelle durchgeführt werden. Das Ergebnis dieser Satzspiele ist häufig eine Liste. Der Gedichtband enthält daneben zwei sehr berühmte Handke-Texte, Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 und Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968, die sich ebenfalls plausibel als Listen einordnen und interpretieren lassen.[41]
Die zweite zitierte Liste ist ein Auszug aus dem Buch Glaube Liebe Hoffnung. Nachrichten aus dem christlichen Abendland von Gregor Weichbrodt und Hannes Bajohr, das sie als Textkollektiv 0x0a 2015 veröffentlichten.[42] Das Buch besteht aus drei Listen, die sechs, 25 und 33 Seiten umfassen. Die drei Abschnitte sind nach den von Paulus in 1. Kor 13 formulierten christlichen Tugenden »Glaube, Hoffnung, Liebe« sortiert. Alle Einträge auf den Listen beginnen jeweils mit »Ich glaube«, »Ich liebe« oder »Ich hoffe«.[43]
Man sieht es den Listen in Glaube Liebe Hoffnung nicht an, aber sie sind ein Beispiel für digitale Literatur, die mit der Erhebung und Verarbeitung von Daten arbeitet. Zur Datenerhebung wurden Facebook-Einträge von Pegida-Anhänger:innen mittels eines Scraping-Scripts gesammelt. Daraus entstand ein Textkorpus von 282.596 anonymisierten Kommentaren, das die Facebook-Einträge als Daten verfügbar macht.[44] Dieses Korpus wurde nicht nur für das Listen-Buch genutzt, sondern auch als Datenbasis soziolinguistischer Analysen ausgewertet.[45]
Die Kommentare wurden von Weichbrodt und Bajohr nach der paulinischen Tugendtrias geordnet, um die Sprache von Pegida, wie es im Nachwort heißt, zu »denormalisieren und daran zu erinnern, was in ihr gefordert und welche Weltsicht mit ihr artikuliert wird«.[46] Das sind Hass, Gewaltfantasien, Rechtsextremismus und Demokratie- und Menschenfeindlichkeit. Um einige Beispiele davon zu geben: »Ich hoffe dann das die alle als Sklaven gehalten werden mit Kopftuch und ohne Rechte und in Angst dahin vegetierend.«;[47] »Ich hoffe darin wird mal später zu lesen sein, dass ihr was losgetreten habt was schon lange überfällig war und dadurch diese verlogene volksfeindliche bundesregierung zur fall gebracht wurde.«;[48] »Ich hoffe das die ›Facharbeiter‹ Dir und Deiner Familie richtig was antun …und dann will ich Dein Gutmenschen Geschwafel aber bitte IMMER noch genauso wie jetzt hören …!!!«[49] In den nach Glaube, Liebe und Hoffnung sortierten Beiträgen kommen, so ließe sich zusammenfassen, Verschwörungs-Glaube, Vaterlands-Liebe und Umsturz-Hoffnung in radikaler, hasserfüllter und gewaltverherrlichender Form zum Ausdruck.[50] Mit dem Ziel, die Sprache des Ressentiments zu »denormalisieren«, entspricht das Konstruktionsprinzip des Buches formalistischen Verfahren der Entautomatisierung, die auch in Handkes Listen zu beobachten sind – bei ihm freilich anders semantisiert.[51]
Grundsätzlich gleichen sich die Listen von Handke und 0x0a auch vom Aufbau her, da sie beide ›Paradigmakonstrukte‹ im Sinne Cottens darstellen. Zwischen den einzelnen Einträgen bestehen Äquivalenzbeziehungen. Erst durch den erläuternden Peritext am Ende von Glaube Liebe Hoffnung erschließen sich die digitalen Entstehungsbedingungen des Textes, seine technischen Voraussetzungen und der Kontext der Sozialen Medien: Scraping-Script zur Erstellung der Datenbasis, das Auslesen von Facebook-Kommentaren und deren Sortierung nach den Kategorien Glaube, Liebe und Hoffnung.
So ist es auch in Bajohrs Sammlung digitaler Literatur unter dem Titel Halbzeug. Textverarbeitung aus dem Jahr 2018. Bajohr gebraucht Texte als Daten, indem er große Textkorpora mit Verfahren der Computerlinguistik umarbeitet oder Texte mithilfe von Datenverarbeitungsprogrammen verfremdet, neu arrangiert oder collagiert. Diese Konstruktionstechniken sieht man den Texten meistens nicht an, sondern sie erschließen sich erst aus dem erklärendem Paratext. Im ersten Zyklus »in corpore« finden sich listenartige Texte, die nach dem gleichen Prinzip konstruiert wurden wie die Listen in Glaube Liebe Hoffnung. Unter der Überschrift »Hinweise« erläutert Bajohr im Kommentarteil: »als big data lit erlaubt erst die Masse das Suchen und Konstruieren von (visuell-auditiv-semantischen) Mustern. Dabei wird auf Verfahren der Computerlinguistik zurückgegriffen«.[52]
Nicht nur die paradigmatische Struktur und die formalistischen Verfahren, sondern auch die Hinzufügung von peritextuellen Erläuterungen sind Handkes Gedichtband und den Arbeiten von Bajohr und Weichbrodt gemeinsam. Handke stellt seinem Band eine Erläuterung voraus, in der es heißt, dass die einzelnen Texte »als Beispiel einer vorgefaßten sprachlichen Struktur« dienen.[53] Das »Ergebnis ist, daß die satzweise Beschreibung der Außenwelt sich zugleich als Beschreibung der Innenwelt, des Bewusstseins des Autors erweist, und umgekehrt und wieder umgekehrt«.[54]
Damit kommen die Differenzen zwischen der konzeptuell-sprachkritischen Literatur Handkes und der sogenannten big data lit ins Spiel. Die Unterschiede liegen einerseits bei der Sprechinstanz, dem ›Ich‹, und andererseits bei der Autorschaft der Texte. Bei Glaube Liebe Hoffnung wurde das ›Ich‹ der einzelnen Kommentar-Autor:innen anonymisiert, wodurch sich eine kollektive Sprechinstanz von Pegida-Anhänger:innen konstituiert. Dadurch wurde die individuelle Autor:innenschaft der Facebook-Kommentare getilgt. Zugleich verlagert sich die Auktorialität durch das Arrangement und die Kommentierung auf Weichbrodt und Bajohr.
In Handkes Text versichert sich ein singuläres Ich seiner Identität. Der Text endet tautologisch und typografisch auffällig:
»Was ich BIN:
Ich bin’s!«[55]
Die Digitalität der digitalen Literatur liegt im Vergleich zu Handkes Liste also auf der Seite der Produktion, genauer gesagt markiert die Datafizierung des Textmaterials den Text als digital. Die Wiederholungsstrukturen und Häufungen der Texte, also ihre Texturen, unterscheiden sich nicht voneinander. Der Unterschied liegt darin, dass Weichbrodt und Bajohr die Kommentare als Daten behandeln, verarbeiten und sie schließlich jenseits semantischer Kohärenzen nach grammatischen Mustern sortieren. Literarische Auktorialität beanspruchen das Textkollektiv 0x0a und Handke letztlich gleichermaßen.
4. »Veränderung der Weltwahrnehmung durch das Digitale überhaupt«
In seinem Nachwort zu Halbzeug formuliert Bajohr einen wahrnehmungsverändernden Anspruch an digitale Literatur: »Digitale Literatur wäre […] etwas, in dem die Veränderung der Weltwahrnehmung durch das Digitale überhaupt Darstellung findet.«[56] Das bedeutet, dass digitale Literatur sich nicht so sehr durch die datenverarbeitende Produktionsweise eines Textes auszeichnet, sondern dass digitale Literatur darstellen soll, wie sich die Weltwahrnehmung durch das Digitale verändert. Dafür sind Listen wegen ihrer Verbreitung im Digitalen ein besonders geeignetes Verfahren.
Benjamin von Stuckrad-Barres Buch Was.Wir.Wissen. ist ein Buch voller Listen. Einen Bezug zum Internet stellt es schon mit der Alliteration ›www‹ im Titel her. Das Buch stammt aus dem Jahr 2005, ist also im Jahr zwischen dem Launch von Facebook 2004 und dem von Twitter 2006 erschienen. Für Stuckrad-Barre ist das, wie er später in Panikherz schreibt, die Zeit der »komplett geisteskranken PROJEKTE«.[57] Zu diesen manischen Projekten gehörte unter anderem der Plan, »das Internet auszudrucken«[58] – was wohl als ein Irrweg prädigitaler Printmentalität gelten darf. Was.Wir.Wissen lässt sich aber als Ergebnis genau dieser Idee verstehen. Stuckrad-Barres überschäumende Begeisterung für die unendlichen Möglichkeiten des Internets spricht jedenfalls für das enge Verhältnis zwischen archivierender Popliteratur[59] und der digitalen Entgrenzung des Archivs. Allerdings geschieht Stuckrad-Barres Bestandaufnahme all dessen, ›was wir wissen‹, nicht mittels einer rein positivistischen Registrierung der vorhandenen Daten, sondern im Modus popliterarischer Paradigmenbildung.
Stuckrad-Barres Buch besteht, vom Vorwort abgesehen, nur aus Listen des »tatsächlich Gewusste[n]«,[60] des common ground des allgemeinen Wissens.[61] Die zwölf Kapitel, deren Überschriften an die Titel von Zeitungsressorts erinnern – Gesellschaft, Politik, Sport, Kultur, Wirtschaft, Gesundheit etc. –, sind jeweils in ca. zehn Abschnitte unterteilt. Als Überschriften dieser Abschnitte dienen Phrasen, Sprichwörter, Redewendungen, die als Frage formuliert werden: »Was ist ein offenes Geheimnis?« (21) oder »Was ist leider kein Einzelfall?« (33) im Bereich »Gesellschaft«; »Was pfeifen die Spatzen von den Dächern?« (231) oder »Was treibt seltsame Blüten?« (235) aus dem Bereich »Flora & Fauna«; »Was ist die Gretchenfrage?« (191) oder »Woran scheiden sich die Geister?« (195) im Bereich »Glaube«; »Was sind Fässer ohne Boden?« (111) oder »Was geht auf wessen Konto?« (119) aus dem Bereich »Wirtschaft«.
In den Kapitelüberschriften lehnt sich Was.Wir.Wissen. an Zeitungsressorts an, konzeptionell aber erinnert das Buch an Phrasensammlungen in der Tradition von Gustave Flauberts Wörterbuch der gemeinen Phrasen (franz.: Dictionnaire des idées reçues, 1880) und Johann Michael Sailers Die Weisheit auf der Gasse oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter (1810). Die Verfahren der kanonischen Sprichwort- und Phrasensammlungen variiert Stuckrad-Barre auf kreative Weise, indem er die Phraseme als Fragen formuliert, die durch eine Auflistung von Antworten mit allgemeinen Wissensbeständen gefüllt werden. Damit betreibt er Gemeinplatzrhetorik im besten Sinne, nämlich als Amplifikation eines Paradigmas.[62]
Welche Rolle dabei das Internet spielt, erläutert Stuckrad-Barre in einem anderthalbseitigen, zwar etwas durchgedrehten, aber sehr interessanten Vorwort. Auch hier bedarf es zum besseren Verständnis wie bei Handke und wie bei 0x0a eines auktorialen Paratextes:
»Das ideale Medium, Wissen zu archivieren, zu verbreite(r)n, stetig, vertieft zu verknüpfen, ist mit dem Internet gefunden. Finden kann man dort alles, nur verliert man sich (tatsächlich und wortwörtlich alles Mögliche findend) bei der Suche gern einmal. Was es alles gibt, staunt man und ist so ratlos wie fasziniert. Es gibt nichts, was es nicht gibt, heißt es im so genannten Volksmund. Dieser wird gemeinhin als Urheber und Benutzer solcher Weisheiten, Bezeichnungen und Redewendungen identifiziert, deren Gebrauch zum Brauch geworden ist. In diesen Prozess von Sprach- und Wissensentwicklung ermöglicht das Internet frühzeitig Einblick und Teilnahme. […] Und die relative Gleichförmigkeit von Präsentation, Zugänglichkeit und Ausschilderung von Quellen sehr unterschiedlicher Qualität spiegelt und potenziert die Verwirrung.« (9)
Es geht also darum, Gegenwartswissen zu archivieren, zu distribuieren und zu kombinieren. Das Verhältnis von Suchen und Finden ist dafür konstitutiv. Zugleich besteht die Möglichkeit, sich in diesen Praktiken selbst zu verlieren. Das ›Ich‹, das in den vorausgegangenen Listen noch dominant war, verliert sich in der Suche nach Wissen. Von Daten ist hier gar nicht die Rede. Doch scheint weniger das Sich-Verlieren ein Problem darzustellen als die »relative Gleichförmigkeit« der Darstellungsweise zum Beispiel einer Suchergebnisliste. Darauf können nach dem Prinzip der relativen Äquivalenz, das jede Liste kennzeichnet, heterogene Einträge versammelt sein, ohne dass ihre historischen oder qualitativen Unterschiede markiert würden. Durch diese Unterschiedslosigkeit ›potenziert sich die Verwirrung‹. Das Zitat enthält eine treffende und hellsichtige Beschreibung nicht nur digitaler, sondern auch postdigitaler Erfahrungsräume, die eine Kombination aus Staunen, Ratlosigkeit und Faszination hervorrufen und in denen man etwas suchen, finden und sich schließlich verlieren kann.
Der Verweis auf den Volksmund, die Stimme des Volkes (vox populi), ist zwar etwas irritierend, aber Stuckrad-Barres Buch ist eben eine Art digitaler Volksmund, in dem populäres Wissen, das, was alle wissen, verarbeitet wird. »Um das Gewusste zu zeigen, kann man nicht alle fragen. Ein repräsentativer Anblick des Wissens ist aber zugänglich durch die Phrasen, in denen es auftritt.« (10)
Zu diesen Phrasen gehört bei Stuckrad-Barre zum Beispiel die Frage:
»Was ist eine Wissenschaft für sich?
Nordic Walking
Klinische Ernährungs- und Infusionstherapie
Korrekt zitieren
Organische Chemie
Der in den sechziger Jahren entstandene Boogaloo-Tanz
Steuern sparen
Fußball
Bier einschenken
Tee
[…]
Liebe
Pflanzabstände von Hecken
Die Entwicklung von Klimageräten
Zündkerzen
Drogen
Kaninchenernährung
Die richtige Ernährung für Kraftsportler und Bodybuilder
Digitale Fotografie
Farbkorrektur
Fechten
Bedienung und Lenkung der guten alten Planierraupe
Tennisplatzpflege
Die Bepflanzung des Gartenteichs
Antragstellung bei der EU
Billig kochen« (171f.)
Das ist eine lange Liste recht heterogener Gegenstände. Als ästhetische Form eines typisch popliterarischen Verfahrens ist sie vor allem durch zwei Merkmale gekennzeichnet: durch die paradigmatische Äquivalenz ihrer Einträge und die Vermeidung beziehungsweise Auflösung narrativer Strukturen wie Kausalität, Finalität oder Chronologie. Die Elemente der popliterarischen Listen, bei denen es sich in der Regel um nominale Listen handelt, stehen gleichgültig nebeneinander. Das ist die »relative Gleichförmigkeit der Präsentation«, von der Stuckrad-Barre im Vorwort spricht.
Der Reiz der Liste entsteht vor allem aus dem unerwarteten, unwahrscheinlichen Nebeneinander heterogener Elemente, die sich semantisch nicht übereinbringen lassen – wie »Steuern sparen« und »Digitale Fotografie«. Und außerdem dadurch, dass die Liste komische Effekte hervorruft wie durch die semantische Kontiguität der Ernährung von »Kaninchen« und »Kraftsportlern«. Ihren Zusammenhalt aber gewinnen die einzelnen Elemente nur durch das in der Überschrift formulierte Sprichwortparadigma.
Als ein Beispiel postdigitaler Literatur ist das Buch bemerkenswert, weil es die epistemologischen Konsequenzen des Lebens mit Suchmaschinen zum Thema macht, zugleich aber eine postdigitale, algorithmisch-auktoriale Doppelcodierung zum Ausdruck bringt, die zwischen Stuckrad-Barre und der Suchmaschine changiert. Das kann zu Verwirrungen führen, wie zum Beispiel in Moritz Baßlers Beitrag über Katalog- und Montageverfahren im Handbuch Literatur & Pop. Baßler spricht hier beiläufig von den »Google-Trefferlisten, die Stuckrad-Barre in Was.Wir.Wissen (2005) druckt«.[63] Ich glaube, dass diese Beschreibung den auktorialen Anteil an der Konfiguration der Listen nicht richtig erfasst. Die Listen sind gerade nicht ausgedrucktes Internet, wie es Stuckrad-Barre ursprünglich vielleicht plante, sie sind nicht ready mades aus Suchergebnislisten, sondern sie parodieren und reflektieren die unendliche Praxis des Suchens und Findens mittels Suchmaschinen im Internet.
Zum Beispiel heißt es in der Liste »Wo es aussieht oder zugeht wie bei Hempels unterm Sofa«:
»Auf der Erde, bevor dort neues Leben entstanden ist
Im politischen Alltag
In Eminems Haus
Zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor
Bei der Kelly Family an Bord […]
Bei den Parteien, Aber das ist wenigstens bürgernah.
Im LKA Berlin« (29)
Durch die unerwarteten, kontraintuitiven Nachbarschaften in diesen Listen werden die Gleichförmigkeit und Absurdität der Suchergebnislisten vor Augen geführt. Die Listen lassen sich als postdigital definieren, weil sie den Umgang mit digitalen Medien reflektieren und literarisch kommentieren. Während durch die Nutzung digitaler Tools die Bedingungen der Möglichkeit von Literatur erläuterungsbedürftig werden, vermögen es Stuckrad-Barres Listen, die »Veränderung der Weltwahrnehmung durch das Digitale überhaupt«[64] darzustellen.
Im Vergleich zu alltäglichen Suchergebnislisten fällt erstens auf, dass bei Stuckrad-Barre die Hierarchisierung der Ergebnisse fehlt. Googles Algorithmus bewertet automatisch die Relevanz von Webseiten nach Verlinkung, Häufigkeit, Kontextinformationen, Aktualität. Wie diese Sortierung abläuft, ist der Suchergebnisliste nicht zu entnehmen. Listen geben grundsätzlich keine Auskunft darüber, warum welches Element an eben jener Stelle der Liste platziert ist, an der es steht. Sie begründen und rechtfertigen ihre Reihenfolge nicht, und sie kaschieren dadurch ihre Kontingenz. Die Listen in Stuckrad-Barres Buch rechtfertigen sich ebenso wenig für ihre Anordnung wie die Listen der Suchmaschinen, die hierarchische Ordnung aber durchbrechen sie.
Ein zweites Merkmal unterscheidet die digitalen Listen des Internets von Stuckrad-Barres postdigitalen Listen. Suchergebnislisten bringen nämlich keine Paradigmen hervor, sondern Identitäten. Die Suche nach einer Maus führt zu vielen weiteren Mäusen, die Suche nach Schuhen zu weiteren Schuhen usw. Das Paradigma anderer kleiner Nagetiere (Hamster, Meerschweinchen, Eichhörnchen etc.) oder Fußbekleidungen (Sandalen, Socken, Pantoffeln etc.) wäre hingegen überhaupt kein adäquates Suchergebnis. Solche Paradigmenbildung leisten aber Stuckrad-Barres Listen.
5. Ausblick
Die Datafizierung von Texten macht die unterschiedlichen Spielarten digitaler Literatur, wie Weichbrodt und Bajohr sie betreiben, ›interessant‹. ›Interessant‹ sind die digital generierten Listen im Sinne der ästhetischen Kategorie ›interesting‹, die vor allem auf konzeptuelle Kunst und Literatur zutrifft. Das Interesse leitet sich dabei vor allem aus der theoretischen, meist paratextuellen Erläuterung des Konzepts ab, weniger aus den am Objekt, Bild oder Text beobachtbaren Verfahren. Das führt im Fall ›interessanter‹ Literatur zu einer Nähe zwischen Kunst und Theorie, Literatur und Wissenschaft.[65] Insofern ist es bemerkenswert, dass auch für die digitale Literaturwissenschaft, die mit Daten anstatt mit Texten arbeitet, die Datafizierung von Texten die entscheidende methodische Verschiebung gegenüber anderen, textbasierten Methoden der Literaturwissenschaft darstellt.[66]
Stuckrad-Barres Listen funktionieren anders, nicht über die Datafizierung von Texten. Sie sind deshalb von Bedeutung, weil sie die formale Konstanz der Liste mit Verfahren anreichern, die sich aus dem Umgang mit digitalen Medien ergeben. Das bedeutet, dass die Form der Liste über die digitalen Transformationen hinweg konstant bleibt, sich die Verfahren aber durchaus ändern. Stuckrad-Barres Listen markieren diese Differenz von Form und Verfahren, und sie archivieren sowohl eine Reihe von Sprichwörtern und Redewendungen als auch kuriose Beispiele, die diese Redewendungen illustrieren. Darüber hinaus verleihen sie den Praktiken des Suchens und Findens eine ästhetische Form, die geeignet ist, die Praktiken selbst als historische zu fassen. Was.Wir.Wissen. dokumentiert medienarchäologisch die Zeit eines euphorischen Überschwangs angesichts all der Möglichkeiten digitaler Technologien und ihrer Verheißungen. Daraus ergibt sich ein anderes Bild von dem, was Digitalisierung für die kommunikative Konstitution des Sozialen bedeutet, als aus den ressentimentgeladenen Texten von Pegida, die Weichbrodt und Bajohr zehn Jahre später zusammentragen.
Postdigital wäre demzufolge ein Begriff nicht für das, was mit den Errungenschaften der Digitalisierung arbeitet oder digitale Verfahren wie selbstverständlich durchführt. Sondern das Postdigitale verhält sich zum Digitalen wie Pop zum Populären. So wie Pop die Phänomene des Populären »gegen ihre Selbstverständlichkeit thematisch« werden lässt,[67] nehmen die postdigitalen Verfahren der Literatur dem Digitalen seine mittlerweile alltägliche Selbstverständlichkeit.
Literatur
[1] Vgl. Jack Goody: »Woraus besteht eine Liste?«, in: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 338-396.
[2] Zum Begriff der Digitalisierung vgl. Thomas Christian Bächle: Digitales Wissen, Daten und Überwachung zur Einführung, Hamburg 2016, S. 75f., 116; vgl. Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, S. 105; vgl. Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart, München 2021, S. 61.
[3] »Das Rohmaterial des Digitalen sind also Listen [Hvh. M. S.] von codierten Zahlenwerten, die Lösung sind Informationen über alles Mögliche auf der Grundlage der Daten.« Nassehi: Muster, S. 32.
[4] Vgl. Annekathrin Kohout: »Der Feed. Selbsttechniken aus Versehen«, in: Elias Kreuzmair/Magdalena Pflock/Eckhard Schumacher (Hg.): Feeds, Tweets & Timelines – Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien, Bielefeld 2022, S. 17-29.
[5] Vgl. Umberto Eco: Die unendliche Liste, übers. von Barbara Kleiner, München 2009, S. 113-118.
[6] Vgl. Eva von Contzen: »Die Affordanzen der Liste«, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 47 (2017): Liste, hg. von Matthias Schaffrick/Niels Werber, S. 317-326, hier S. 321.
[7] Vgl. Roman Alexander Barton et al. (Hg.): Forms of List-Making: Epistemic, Literary, and Visual Enumeration, Cham 2022.
[8] Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 22005; vgl. Matthias Schaffrick: »Listen als populäre Paradigmen. Zur Unterscheidung von Pop und Populärkultur«, in: KulturPoetik 16.1 (2016), S. 109-125; vgl. zudem das Kapitel zur Popliteratur in: Niels Penke/Matthias Schaffrick: Populäre Kulturen zur Einführung, Hamburg 2018, S. 150-160.
[9] Vgl. Hannes Bajohr: Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen, Berlin 2022.
[10] Vgl. Elias Kreuzmair/Eckhard Schumacher: »Literatur nach der Digitalisierung. Zeitkonzepte und Gegenwartsdiagnosen – Einleitung«, in: dies. (Hg.): Literatur nach der Digitalisierung. Zeitkonzepte und Gegenwartsdiagnosen, Berlin/Boston 2022, S. 1-6.
[11] Von Contzen: »Affordanzen«, S. 322.
[12] Vgl. Hanna Hamel/Eva Stubenrauch: »Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur«: dies. (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023, S. 7-21. Die Herausgeberinnen orientieren sich an den Überlegungen von Florian Cramer: »What Is ›Post-digital‹?«, in: David M. Berry/Michael Dieter (Hg.): Postdigital Aesthetics. Art, Computation and Design, Basingstoke 2015, S. 12-26.
[13] Vgl. Matthias Schaffrick/Niels Werber: »Die Liste, paradigmatisch«, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 47 (2017): Liste, hg. von dens., S. 303-316.
[14] Vgl. von Contzen: »Affordanzen«, S. 321f.
[15] Vgl. Urs Stäheli: »Das Soziale als Liste. Zur Epistemologie der ANT«, in: Friedrich Balke/Maria Muhle/Antonia von Schöning (Hg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2012, S. 83-101, hier S. 92.
[16] Vgl. Ann Cotten: Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen, mit einem Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler, Wien 2008, S. 23.
[17] Vgl. zum Folgenden Schaffrick/Werber: »Die Liste«, S. 307f.
[18] Vgl. Cotten: Nach der Welt, S. 24.
[19] Vgl. Bächle: Digitales Wissen, S. 69, 75. Cramer definiert ›digital‹ als »divided into discrete, countable units«, Cramer: »What Is ›Post-Digital‹?«, S. 17.
[20] Elena Esposito: »Organizing without Understanding. Lists in Ancient and in Digital Cultures«, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 47 (2017): Liste, hg. von Matthias Schaffrick/Niels Werber, S. 351-359, hier S. 356.
[21] Eco: Die unendliche Liste, S. 360.
[22] Esposito: »Organizing without Understanding«, S. 352.
[23] Information, nicht Wissen, denn »Information ist Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung«. Vogl: Kapital und Ressentiment, S. 59.
[24] Vgl. o.A.: »Wikipedia:Listen«, Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Listen (aufgerufen am 14.02.2023).
[25] Vgl. o.A.: »Kategorie:Liste (Listen)«, Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Liste_(Listen) (aufgerufen am 14.02.2023).
[26] Zur Unterscheidung von auktorialen und anonymen Listen vgl. Schaffrick: »Listen als populäre Paradigmen«, S. 109f.
[27] Vgl. Penke/Schaffrick: Populäre Kulturen, S. 10-15.
[28] Jörg Döring et al.: »Was bei vielen Beachtung findet: Zu den Transformationen des Populären«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 6.2 (2021), S. 1-24, hier S. 13.
[29] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 168.
[30] Vgl. Moritz Baßler: »Texte und Kontexte«, in: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2007, S. 355-370.
[31] Nassehi: Muster, S. 31.
[32] »Voraussetzung für die Kohärenz von Texten ist, daß sie dominant-rekurrente Seme enthalten.« Jochen Schulte-Sasse/Renate Werner: Einführung in die Literaturwissenschaft, München 92001, S. 68.
[33] Daniel Falb: Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie, Berlin 2015, S. 42.
[34] Ebd. Vgl. zur Internetlyrik und ihren Genealogien und Genres Evi Zemanek: »Gegenwart (seit 1989)«, in: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 22016, S. 472-482, hier S. 480f.
[35] Vgl. zur »Selbstreferenz der Datenwelt« Nassehi: Muster, S. 106f.
[36] Falb: Anthropozän, S. 43.
[37] Zum Begriff der Affordanz vgl. von Contzen: »Affordanzen«; vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2010, S. 123f.
[38] Latour: Eine neue Soziologie, S. 124.
[39] Peter Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt a.M. 1969, S. 23-26, der zitierte Auszug findet sich auf S. 24.
[40] Ebd., S. 2 (unpaginiert).
[41] Vgl. Schaffrick: »Listen als populäre Paradigmen«, S. 113f. Zur ›Hitparade‹ vgl. Elias Kreuzmair: »Peter Handke: Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968 (1968)«, in: Moritz Baßler/Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop, Berlin/Boston 2019, S. 384-397. Sowohl Kreuzmairs als auch mein Beitrag greifen zurück auf die Überlegungen von Thomas Wegmann: »So oder so. Die Liste als ästhetische Kippfigur«, in: ders./Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »Low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 217-231.
[42] Hier zitiert nach der Ausgabe 0x0a (Gregor Weichbrodt/Hannes Bajohr): Glaube Liebe Hoffnung. Nachrichten aus dem christlichen Abendland, Berlin 2017. Die Ausgabe von 2015 ist hier als PDF verfügbar: https://0x0a.li/wp-content/uploads/2015/01/Glaube-Liebe-Hoffnung.pdf (aufgerufen am 14.02.2023).
[43] Vgl. 0x0a: Glaube Liebe Hoffnung, S. 9-41, 43-48, 51-75.
[44] Zum ›Pegida-Korpus‹ vgl. Hannes Bajohr: »Die Sprache Pegidas«, 0x0a, 29.01.2015, https://0x0a.li/de/die-sprache-pegidas/ (aufgerufen am 14.02.2023).
[45] Vgl. Annette Gilbert: »›Möglichkeiten von Text im Digitalen‹. Ästhetische Urbarmachung von korpuslinguistischen Analysetools und Bots der generativen Literatur der Gegenwart am Beispiel des Textkollektivs 0x0a«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91 (2017), S. 203-221, hier S. 214.
[46] 0x0a: Glaube Liebe Hoffnung, S. 78.
[47] Ebd., S. 52.
[48] Ebd., S. 53.
[49] Ebd.
[50] Joseph Vogl liefert in seinem Buch Kapital und Ressentiment einen Erklärungsansatz dafür, dass Plattformen bzw. Soziale Medien wie Facebook durch Techniken der algorithmischen »Relevanzbewertung« ressentimentgeladene Affektkommunikation und »autoritäre Formen des empowerment« begünstigen und fördern. Vgl. Vogl: Kapital und Ressentiment, S. 171-177, die Zitate ebd., S. 176f. Vogl erläutert in diesem Abschnitt die »Strukturelemente« der Plattformen, die zur »Förderung der Ressentimentbereitschaft« beitragen, ebd., S. 172.
[51] Vgl. Viktor Schklowski: »Kunst als Verfahren«, in: Fritz Mierau (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, S. 11-32.
[52] Hannes Bajohr: Halbzeug. Textverarbeitung, Berlin 2018, S. 105.
[53] Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 2 (unpaginiert).
[54] Ebd.
[55] Ebd., S. 26.
[56] Bajohr: Halbzeug, S. 102.
[57] Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz, Köln 22016, S. 404.
[58] Ebd., S. 419.
[59] Vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman.
[60] Benjamin von Stuckrad-Barre: Was.Wir.Wissen., Reinbek bei Hamburg 2005, S. 10. Nachweise hieraus im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.
[61] Vgl. zur phraseologischen Funktionalisierung von Was.Wir.Wissen Matthias Schaffrick: »›Das wird man ja wohl noch sagen dürfen‹: Rhetorik und Poetik der populistischen Phrase«, in: Stefan Neuhaus/Immanuel Nover (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart, Berlin/Boston 2019, S. 79-108, zu Stuckrad-Barre insb. S. 101-105.
[62] Zur Rhetorik der Gemeinplätze (loci communes) mit Bezug auf Cicero vgl. Karl-Heinz Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, München 31998, S. 113.
[63] Moritz Baßler: »Katalog- und Montageverfahren: Sammeln und Generieren«, in: ders./Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop, Berlin/Boston 2019, S. 184-198, hier S. 196.
[64] Bajohr: Halbzeug, S. 102.
[65] Vgl. Sianne Ngai: Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge, Mass./London 2012, S. 110-173, hier S. 139. Vgl. zur Nähe von Literatur und Wissenschaft im Fall digitaler Literatur auch Hanna Engelmeier: »Was ist die Literatur in ›Digitale Literatur‹?«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 823 (Dez. 2017), S. 31-45, insb. S. 45.
[66] »Für die Geisteswissenschaften insgesamt und auch für die Literaturwissenschaft hat sich durch die Verfügbarkeit von großen bis sehr großen Text- und anderen Datensammlungen eine interessante Erweiterung des Methodenspektrums ergeben.« Fotis Jannidis: »Quantitative Analyse literarischer Texte am Beispiel des Topic Modelling«, in: Der Deutschunterricht 68.5 (2016), S. 24-35. Der Unterschied, der zwischen der Analyse von Literatur entweder als Text oder als Daten besteht, wird meist jedoch nur unzureichend berücksichtigt.
[67] Nach einer Formulierung von Max Imdahl: »Probleme der Pop Art«, in: Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart 2013, S. 64-75, hier S. 64.