»We love you!«, »We need you!«, »Don’t stop!«
von Nicolas Pethes
17.10.2023

Bruce Springsteen als »Last Man Standing«

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 23, Herbst 2023, S. 132-145]

Tampa, Florida, 1. Februar 2023. Nach einer sechsjährigen Konzertpause betritt einer der erfolgreichsten Live-Acts der Rockgeschichte die Bühne der Amalie Arena, Bruce Springsteen und die E Street Band. Es ist der Auftakt der lange erwarteten und möglicherweise auch letzten Tour der mittlerweile meist gut siebzigjährigen Musikerinnen und Musiker, die zuletzt beim Ausklang der Neuauflage der »River«-Tour im Februar 2017 in Australien zusammengespielt hatten. Und es ist gänzlich ungewiss, in welche Richtung die Reise dieses Mal gehen wird – Springsteen hatte während der Corona-Pause nicht weniger als drei Alben veröffentlicht, deren Material noch nie live gespielt worden und das obendrein hochgradig unterschiedlich war: das an die Ästhetik der Filmmusik der 1960er Jahre angelehnte Country-Album »Western Stars« (2019), die Hommage an den klassischen E Street-Sound »Letter To You« (2020) sowie die Sammlung von Soul-Covers »Only The Strong Survive« (2022), das in der ansonsten fest geeinten Fan-Community eine hitzige Debatte ausgelöst hatte, weil die in steriler Werktreue eingespielten Nummern als eine für Springsteens musikalisches Vermächtnis irrelevante Karaoke-Produktion (oder ›elevator music‹), wenn nicht gar als kulturelle Aneignung und Verharmlosung einer eigentlich gesellschaftspolitisch engagierten schwarzen Musiktradition, kritisiert wurden. Zudem war die Fanbasis ins Wanken geraten, als der sehnlich erwartete Vorverkauf für die Tour zum »ticket fiasco« geriet, weil der Vermarkter Ticketmaster nur vorab durch ein Lotterieverfahren registrierte »verified fans« zuließ und zudem für den Online-Verkauf einen Algorithmus einsetzte, der »dynamic pricing« erlaubte, d.h. die Ticketpreise in Echtzeit von Angebot und Nachfrage beeinflussen ließ, sodass sie aufgrund des immensen Ansturms innerhalb weniger Minuten in vierstellige Bereiche anstiegen. Springsteens beinahe lebenslanger Manager Jon Landau versuchte, diese Methode als Vorbeugung der ansonsten üblichen Schwarzmarktmechanismen zu rechtfertigen, aber die letztlich achselzuckende Reaktion auch des Künstlers selbst auf die vehemente Kritik (»But if there’s any complaints on the way out, you can have your money back«) führte zu einem spürbaren Bruch, nachdem jahrzehntelang treue Fans entweder gar keinen Zugang zum Vorverkauf hatten oder sich den Eintritt nicht leisten konnten (oder wollten).

Das Ausmaß der Enttäuschung steht im Zusammenhang mit der beträchtlichen Fallhöhe und der zur Identifikation einladenden, weil im Vergleich zu den meisten anderen Acts so nahbar wirkenden, öffentlichen ›persona‹, die Springsteen durch seine intensive Interaktion mit dem Publikum, durch zahlreiche persönliche Begegnungen abseits der Bühne sowie ein langjähriges Bekenntnis zu niedrigen Ticketpreisen und abwechslungsreichen Setlists erzeugt und etabliert hat: Ausgerechnet Springsteen, der nach seinen Parteinahmen, Kampagnen und Spenden für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen seit den 1980er Jahren als Stimme eines gerechten und egalitären Amerikas galt, schien auf den letzten Metern seiner Karriere den Ausverkauf dieser Ideale zu praktizieren. Sogar das seit 1980 zunächst als Fanzine und dann als Internetseite betriebene und eigentlich unersetzliche Fanforum »Backstreets« verkündete am Tag nach Tourbeginn in einem offenen Brief demonstrativ, seine Dienste einzustellen.

Die Tour 2023 steht also im Fragezeichen eines Paradigmenwechsels, dem Springsteen allerdings umgehend ein Kontinuitäts- und Resilienz-Signal entgegensetzt, als er die Show in Tampa mit »No Surrender« vom 1984er Album »Born in the USA« eröffnet, begleitet von seinem Sidekick und »Sopranos«-Consigliere Steven van Zandt mit einer eigens in den ukrainischen Landesfarben lackierten Telecaster-Gitarre. Aber natürlich ist »No Surrender« nicht nur eine Solidaritätsadresse an den seit beinahe einem Jahr tobenden ukrainischen Verteidigungskrieg, sondern auch ein Schlachtruf bei der Rückkehr in das pandemiebedingt brachliegende Konzertleben – und womöglich auch einer gegen Kritikerïnnen der Altrocker sowie das Altern im Allgemeinen: »I’m ready to grow young again«, hatte der 1984 gerade einmal 35-jährige Springsteen gesungen, eine Zeile, die im Munde eines 73-Jährigen neue Plausibilität gewinnt und der Show diejenigen Themen vorgibt, die auch das Album »Letter To You« prägen: die Frage, was nach einem halben Jahrhundert im Musikgeschäft von dem Jugendlichkeitsversprechen des Rock’n’Roll übrigbleibt, der Umgang mit dem Tod früherer Bandmitglieder und die Reflexion der eigenen Sterblichkeit, der der zweite Song des Abends, »Ghosts«, noch emphatisch entgegenhält: »I’m alive, I can feel the blood shiver in my bones«, bevor die E Street Band mit der dritten Nummer das leitmotivhafte Bekenntnis der legendären »Darkness on the Edge of Town«-Tour von 1978 für die aktuelle aufgreift: »Prove It All Night« – und es sind ja tatsächlich noch einmal über neunzig Abende in Nordamerika und Europa geplant, bei denen der Beweis geführt werden soll, dass die Intensität eines Springsteen-Konzerts mehr als eine bloße Legende aus der Vergangenheit ist.

[Foto: Nicolas Pethes]

Americana

Entgegen dem in Deutschland vorherrschenden Bild eines hypervirilen Stadionrockers hat Bruce Springsteen in seiner Karriere ein breites Spektrum von Einflüssen und Stilrichtungen verarbeitet und viele unterschiedliche Rollen verkörpert. Das Rambo-Image basiert auf dem vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan als patriotische Hymne instrumentalisierten Titelsong des Albums »Born In The USA« – ein gezieltes Missverständnis, dem auf der zugehörigen Tour ein den ganzen Bühnenhintergrund bedeckendes »Stars and Stripes«-Banner sowie die Kostümierung des Künstlers mit Muskelshirt und Bandana weiter Vorschub leisteten. Dabei erzählt der Song »Born In The USA« von der Heimkehr eines Vietnamkriegsveteranen, dessen Geburt in den Vereinigten Staaten weniger Anlass zum Stolz als zur Hoffnungslosigkeit ist: »Born down in a dead man’s town / The first kick I took was when I hit the ground / You end up like a dog that’s been beat too much / Till you spend half your life to cover up.« Der das erzählt, wird wegen eines kleinen Verbrechens eingezogen, verliert in Vietnam seinen Bruder und irrt nach seiner Rückkehr orientierungslos durch sein Heimatland: »I’m ten years burning down the road / Nowhere to run, ain’t got nowhere to go«.

Um diese eigentliche Bedeutungsschicht offenzulegen, haben zum dreißigjährigen Jubiläum von Springsteens kommerziell erfolgreichstem Album zwölf Country-Musikerïnnen (unter ihnen Jason Isbell & Amanda Shires, Holly Willams und Justin Townes Earle) je einen der Tracks von »Born In The USA« eingespielt und das (überaus hörenswerte) musikalische Ergebnis unter dem mit einem patriotischen Weltbild kaum kompatiblen Titel »Dead Man’s Town« veröffentlicht. Aber es bedarf gar nicht des Umwegs über ein solches Coveralbum, war »Born In The USA« doch ursprünglich selbst Teil derjenigen Demo-Aufnahmen, die Springsteen im Januar 1982 auf einem vierspurigen Kassettenrekorder gemacht und nach vergeblichen Versuchen, die Songs mit der Band einzuspielen, in ihrer Rohfassung unter dem Albumtitel »Nebraska« veröffentlicht hatte – in einem auf leise Gitarren- und Mundharmonikaklänge und wenige Backgroundvocals beschränkten Arrangement sowie zu den düsteren Geschichten über Serienmörder, Kleinkriminelle und andere vom amerikanischen Traum Zurückgelassene passenden Erzählton, dessen Intimität die in den Songtexten angedeuteten Schicksale nahezu körperlich spürbar werden ließ. »Nebraska« ist ein Album, in dem Springsteen musikalisch an die frühe, politisch engagierte Folk- und Country-Musik eines Woody Guthrie oder Hank Williams anschließt, und in deren Ton hatte er zunächst auch den Song »Born In The USA« aufgenommen: als eine gespenstisch nachhallende Anklage gegen das Vergessen derjenigen, die in den sinnlosen Krieg im fernen Osten geschickt worden und entweder tot oder traumatisiert zurückgekehrt waren – ein Thema, auf das Springsteen durch die Lektüre der Autobiografie »Born on the Fourth of July« des kriegsversehrten Ron Kovic aus dem Jahr 1976 gekommen war und für das er sich, angeregt durch den Vorsitzenden des Veteranenverbands Bobby Muller, seither engagierte, beginnend mit dem Benefiz-Konzert »A Night for the Vietnam Vets« am 20. August 1981, aber auch in einer Reihe weiterer Songs von »Shut Out The Light« (1984) über »Brothers Under The Bridge« (1995) bis zu »The Wall« (2014). Zum Aufschrei wurde diese Anklage erst, als sie im Jahr nach der Veröffentlichung von »Nebraska« für das nächste Studioalbum der E Street Band arrangiert und von dem mächtigen Schlagzeugeinsatz Max Weinbergs und dem schrillen, asiatische Harmonien andeutenden Keyboard-Riff Roy Bittans eröffnet wurde, bevor Springsteen seine auf wenige Strophen verdichtete Version des Niedergangs des amerikanischen Traums auf die nachmals zum Markenzeichen gewordene Weise mit angeschwollenen Halsschlagadern mehr brüllte als sang. Dass aber auch eine solche Präsentationweise kritisches Potenzial besitzen kann, betont die Kulturwissenschaftlerin Natalie Adler in ihrem Artikel »My Butch Lesbian Mom, Bruce Springsteen«, in dem sie ausführt, dass diese männliche Selbstinszenierung gerade in ihrer extremen Zugespitztheit stereotype Geschlechterrollen weniger affirmiert als in ihrer Konstruiertheit ausstellt – eine Lesart, die Springsteen in seiner Autobiografie »Born To Run« aus dem Jahr 2016 selbst andeutet, wenn er über seinen damaligen Look schreibt: »I probably would have fit right in down on Christopher Street in any one of the leather bars.«

All diese unterschiedlichen Präsentations- und Deutungsebenen weisen bereits darauf hin, dass Springsteens Musik vielschichtiger und stilistisch variabler ist, als sie beim ersten Hinhören und -sehen erscheinen mag: Neben seiner prägenden Rolle für den Heartland Rock durch die Alben »Darkness On The Edge Of Town« (1978), »The River« (1980) und eben »Born In the USA« (1984) hat er sich mit den zum größten Teil solo und akustisch eingespielten Veröffentlichungen »Nebraska« (1982), »Tunnel Of Love« (1987), »Ghost Of Tom Joad« (1995), »Devils And Dust« (2005) sowie »Western Stars« (2019) als Singer-Songwriter und Geschichtenerzähler in der Americana-Tradition etabliert, dessen Lieder – beginnend mit dem Titelsong »The River« von 1980 – von Abgründen enttäuschter gesellschaftlicher Utopien, erkaltenden Liebesbeziehungen, durch Flucht und ökonomischer Ausbeutung geprägten Lebensläufen, rassistischer Gewalt und dem Trauma des Kriegs erzählen. Vor seinem Durchbruch mit dem ikonischen Rock-Album »Born To Run« (1975), das die aus Gitarren, Orgel, Klavier und Saxofon zusammengesetzte ›Wall of Sound‹ der E Street Band etablierte, hatte Springsteen 1973 auf seinem Debut-Album »Greetings From Asbury Park« noch den dylanesken Wortakrobaten gegeben und auf »The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle« unter dem Einfluss seines damaligen Pianisten David Sancious Jazz- und Soulelemente in seine Kompositionen einfließen und sie zu episch ausladenden Balladen wie »Incident On 57th Street« oder »New York City Serenade« ausufern lassen, zu denen sich auf »Born To Run« das monumentale »Jungleland« gesellte. Anfang der 1990er Jahre versuchte er nach der Auflösung der E Street Band mit einer Gruppe neuer Musikerïnnen eine Neuorientierung zu eher pop-orientierten Sounds, die aber bei Erscheinen der beiden Parallelalben »Human Touch« und »Lucky Town« (1992) durch die zeitgleich die Gitarrenmusik rehabilitierende Grunge-Welle umgehend überholt wirkten. Im Anschluss nahm Springsteen ein bis heute unveröffentlichtes Hip-Hop-Album auf, und seine Experimente mit Drum Loops bescherten ihm mit dem Titelsong zum Film »Philadelphia« von 1994 sogar einen Oscar. Nach der Wiedervereinigung mit der E Street Band am Ende des Jahrzehnts kehrte er mit den neuen Produzenten Brendan O’Brien (»The Rising«, 2002; »Magic«, 2007) und Ron Aniello (»Wrecking Ball«, 2012 und »Letter To You«, 2020) zum Classic Rock zurück, bekannte sich aber mit den beiden Cover-Alben »The Seeger Sessions« (2006) und »Only The Strong Survive« (2022) zugleich zu seinen musikalischen Wurzeln im Irish Folk und Motown Soul, deren Elemente Springsteens Musik im 21. Jahrhundert durchgehend prägen und sie zugleich als hybride Stilmischung sowie Verbeugung vor den unterschiedlichen Traditionen amerikanischer Musik kenntlich machen.

Gespenster

Sechs Wochen nach dem Tourneestart, Philadelphia. In der Woche zuvor waren »due to illness« drei Auftritte abgesagt worden, sodass sich das Konzert wie eine kleine Neuauflage des Auftakts in Florida nach der ›großen‹ Covid-Pause anfühlt. Åsa, eine Schwedin, die der Band kreuz und quer durch die USA hinterherfährt, findet sich schon am Nachmittag vor dem Auftritt am Wells Fargo Center im Süden der Stadt ein, um nach dem Prinzip des ›roll call‹ eine Schlange für die begehrten Stehplätze im ›pit‹ unmittelbar vor der Bühne zu organisieren: Alle an der Halle Eintreffenden werden der Reihe nach in eine Liste eingetragen und bekommen ihren Platz in der Schlange auf dem Handrücken notiert, müssen sich aber alle drei Stunden wieder vor der Halle einfinden, um ihn aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise bildet sich bis zum Abend ein Grüppchen von gut einem Dutzend Fans, das am folgenden Konzerttag auf rund achtzig Personen anwächst. Als diese sich allerdings um 12 Uhr gemäß der verbrieften Reihenfolge an der Halle anstellen wollen, treffen sie auf mehrere Leute, die das Verfahren des von Fans organisierten Zählappells als europäische Unart ablehnen und auf dem amerikanischen Prinzip des ›first come, first serve‹ bestehen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden jeweils aus gut situierten Vertreterïnnen im besten Midlife-Crisis-Alter bestehenden Fangruppen wird von der Security genervt, aber auch amüsiert in Schranken gehalten und bietet Anschauungsmaterial für eine dichte Beschreibung kultureller Unterschiede – hier der (nord-)europäische Versuch einer transparenten, aber bürokratischen Regelung, dort das Bestehen auf dem Recht des Einzelgängers auf seinen Claim.

Alle Turbulenzen und Differenzen sind aber bei Einlass in die Halle vergessen, denn wer einen Platz in vorderster Reihe des für 500 Personen ausgelegten Pit innerhalb der 18.000 Zuschauer fassenden Arena ergattert, hat kaum noch Gelegenheit, über Revierstreitigkeiten nachzudenken: Die ungefilterte Nähe der Musikerinnen und Musiker, die alles übertönende Lautstärke, das gleißende Licht und die nahezu pausenlose Abfolge der 25 Songs machen die gut zweieinhalb Stunden Konzertdauer zu einer physisch und emotional herausfordernden, wenn nicht gar meditativen Erfahrung unter umgekehrten, das Verharren im Augenblick nicht durch Stille und Einkehr, sondern deren äußerstem Gegenteil erzeugenden, Vorzeichen. Die Band, unterstützt von einer Bläsergruppe, einem Perkussionisten und vier Backgroundsängerïnnen, spielt so ›tight‹ wie eh und je, und Springsteen ist stimmlich voll auf der Höhe und als Bandleader und Publikumsanimateur immer noch mitreißend. Jake Clemons, der Neffe des 2011 verstorbenen Saxophonisten Clarence Clemons, lässt sein Instrument mittlerweile fast ebenso mächtig röhren wie sein überlebensgroßer Onkel, Garry Tallent legt mit dem Bass gewohnt ›understated‹ das Fundament für die energetischen Spannungsbögen der Songs, und Springsteen, van Zandt und der als Begleitmusiker reichlich unterforderte Nils Lofgren wechseln sich bei den Gitarrensoli ab. Ungewohnt ist einzig, dass Springsteen seine sonst üblichen Publikumsansprachen auf ein Minimum reduziert, keine Songwünsche mehr aus dem Publikum aufgreift und auch insgesamt wenig Raum für spontane Improvisationen lässt: Die Setlist entspricht, von wenigen Änderungen abgesehen, derjenigen, die die Band in den vierzehn Shows seit der Premiere spielt, und in Fanforen war bereits nach wenigen Tourneetagen der Mangel an Abwechslung und Überraschungen beklagt worden. Dem steht allerdings in Philadelphia der Eindruck von Kompaktheit und Konsistenz des Dargebotenen entgegen: Zwar bestreitet Springsteen mit nicht weniger als fünf Stücken von seinem Durchbruch-Album »Born To Run« sowie dreien der Vorgängerplatte »The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle« bzw. vieren des Nachfolgealbums »Darkness On The Edge Of Town« knapp die Hälfte der Show mit Klassikern aus den 1970er Jahren, ihr thematisches Zentrum besteht aber in den vier Stücken des neuen Albums »Letter To You«, dem neben dem Titelsong die Hymne an die verstorbenen Weggefährten »Ghosts« sowie die beiden solo und akustisch vorgetragenen Stücke »Last Man Standing« in der Mitte und »I See You In My Dreams« am Ende des Sets entstammen.

[Foto eines Videoausschnitts: Jim Powers]

Schon das Album »Wrecking Ball« von 2012 war unter dem Eindruck der 2008 bzw. 2011 verstorbenen Mitglieder der E Street Band, Organist Danny Federici und Saxophonist Clarence Clemons, entstanden, wenn Springsteen dort im Titelsong und in »We Are Alive« die Anwesenheit der Toten beschwor und auf der nachfolgenden Tour davon sprach, wie die kindliche Angst vor Gespenstern mit zunehmendem Alter der Dankbarkeit über das Weiterleben der Toten in der geteilten Erinnerung der Band und ihrer Fans weiche: »If you’re here and we’re here, than they’re here.« In diesem Sinne fügen sich auf der aktuellen Tour auch die aus der späteren Werkphase ausgewählten Lieder – die Titelstücke der Alben »The Rising« und »Wrecking Ball« sowie das dem Andenken Marvin Gayes und Jackie Wilsons gewidmete Commodores-Cover »Nightshift« von »Only The Strong Survive« – in das zentrale Narrativ, das Springsteen in seiner einzigen Publikumsansprache vor »Last Man Standing« genau in der Mitte der Show entfaltet: Die Songs auf »Letter To You« seien entstanden, nachdem er am Sterbebett des Gründungsmitglieds seiner ersten Band The Castiles, George Theiss, gestanden und sich angesichts der Wucht dieser Vergänglichkeitserfahrung gefühlt habe, als blicke er in die Scheinwerfer eines auf ihn zurasenden Zugs. »At 15, everything is tomorrow and tomorrow and hello and hello. And later on, there’s a lot more goodbyes«, resümiert Springsteen im fahlen Bühnenlicht und lässt auf die elegische Reminiszenz an die Band seiner Jugend, deren »Last Man Standing« er seit Theiss’ Tod ist, »Backstreets«, die wuchtige Ode an die Vergänglichkeit der Freundschaft von »Born To Run«, folgen, während derer er auf eine nicht wenige im Publikum anrührende Weise an die Gitarren- und Plattensammlung seines Freundes erinnert und mit der Hand auf dem Herzen mehrfach gedämpft wiederholt: »All the rest that you left, I’m going to carry it right here«. Und vielleicht reißt er sich am Ende des Konzerts auch deswegen das Hemd über diesem Herzen auf und verharrt sekundenlang schwer atmend am Bühnenrand – in einer Geste, die nicht nur ein theatrales Zitat der Rock’n’Roll-Ikonografie ist, sondern die eigene Verletzlichkeit ins Rampenlicht rückt, und damit auch die Dialektik der kraftstrotzenden Männlichkeits-›persona‹ der 1980er Jahre, deren hypertrophe Konstruktion immer auch schon die eigene Brüchigkeit impliziert hatte.

Maskenspiele

Dass Bruce Springsteen auch im 21. Jahrhundert noch ein so öffentlichkeitswirksamer Künstler ist, hat nicht nur musikalische Gründe. Nach dem Schritt vom Geheimtipp zum Megastar Mitte der 1970er Jahre ist ihm im Anschluss auch derjenige vom Megastar zu einem weithin respektierten ›public artist‹ gelungen, dessen Stimme im öffentlichen Diskurs der USA Gewicht hat. Das hat fraglos mit dem Image eines Künstlers zu tun, der seine Herkunft aus der Arbeiterklasse nicht vergessen und seit »Factory« auf »Darkness On The Edge Of Town« auch immer wieder explizit besungen hat. Hinzu kommen das Engagement für die Vietnam- Veteranen, die Zusammenarbeit mit den ›food banks‹ der Orte, an denen die E Street Band auftritt, seine Beteiligung an der Tournee zur Unterstützung von Amnesty International »Human Rights Now« 1988 sowie Songs wie »Philadelphia« (1994) und »American Skin (41 Shots)« (2001), die die tödlichen Konsequenzen gesellschaftlicher Diskriminierung zum Gegenstand haben. Für alle diese Themen fand Springsteen in seiner Musik, aber auch in seinen ausführlichen Bühnenansprachen, eine Erzählstimme, die mit seinem Publikum auf besondere Weise resonierte. Diedrich Diederichsen hat darauf hingewiesen, dass Pop-Musik als multimediales und performatives Ensemble ein Phänomen ist, das erst anhand der identifikatorischen und einer mitunter im existentiellen Sinn ernsthaften Rezeption durch Fans entsteht, die aus diesem Gefühl des Angesprochenwerdens auch das spezifische Bild des Künstlers erzeugen. Man muss sich nur Baillie Walshs Fan-Dokumentation »Springsteen and I« (2013) oder die Verfilmung des autobiografischen Romans »Greetings from Bury Park« von Safran Manzoor unter dem Titel »Blinded by the Light« (2016) ansehen bzw. einen der zahlreichen Fan-Podcasts wie Jesse Jacksons »Set Lusting Bruce« (seit 2015) oder Ted Canovas »That One Lyric« (seit 2021) anhören, um Beispiele für diese identifikatorische Intensität der Rezeption zur Hand zu haben, durch die Springsteens Musik ganze Lebensläufe geprägt hat.

Springsteen selbst hat in diesem Sinne wiederholt von einer »ongoing conversation with my audience« gesprochen, und tatsächlich kann man den Modus seiner Interaktion und Rezeption als Beispiel für das spezifische Kommunikationsmodell von Popmusik verstehen: Es geht dabei offensichtlich nicht um eine tatsächliche Konversation, sondern darum, dass sich ein Publikum von den Angeboten, die Künstlerïnnen in Gestalt von Songtexten und Darbietungsweisen sowie Geschichten und den Charakteren in ihnen machen, angesprochen fühlt und deshalb an diese Angebote (inklusive der Bühnen-›persona‹) anschließen kann – unbeschadet des erheblichen Anteils an Projektion und Imagination, der dazu erforderlich ist, und den Springsteen auch beim Namen nennt, wenn er während eines Solokonzerts in Los Angeles 1990 auf den Zuruf »We love you, Bruce!« antwortet: »But you don’t really know me.« Der Eindruck der Authentizität einer künstlerischen Darbietung verdankt sich, wiederum mit Diederichsen, ihrem expressiven Anteil, der bei Springsteen in besonderem Maße ausgebildet (bzw. wahrgenommen) wird und Grundlage der eingangs erwähnten Fallhöhe ist – eine Fallhöhe, die allein dadurch spürbar wird, dass diese Expressivität auch im Fall von Springsteen nicht frei vom ihr gleichzeitig entgegengesetzten und zugrundeliegenden Anteil der Performativität (und also immer auch: Künstlichkeit) zu haben ist. Der Song »Brilliant Disguise« von »Tunnel Of Love« handelt mithin womöglich gar nicht nur vom Maskenspiel eines Liebespaars, sondern auch demjenigen des Künstlers gegenüber seinem Publikum.

Es war aber wohl auch das Setting seines ersten Auftritts nach Auflösung der E Street Band, das Springsteens ironische Abwehr des Liebesbekenntnisses seines Publikums provoziert hatte. Denn ein gutes Jahrzehnt darauf reagierte er auf einen ähnlich phrasierten Appell in einem ganz anderen Kontext durchaus affirmativ – und diese Reaktion ist es gewesen, die ihn zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu demjenigen ›public artist‹ machte, der die Stimme eines besseren und gerechteren Amerika verkörpert: Wie die Legende es will, erkannte am Tag nach dem Anschlag vom 11. September 2001 ein Fan den Star, als dieser von einem Parkplatz im Norden New Jerseys aus auf die brennende Türme des World Trade Centers blickte, und rief ihm zu: »Bruce, we need you!« Zusätzlich angeregt durch die zahlreichen Hinweise in Todesanzeigen von New Yorker Feuerwehrmännern auf deren Liebe für seine Musik, nahm Springsteen diesen Appell beim Wort: Zehn Tage nach den Anschlägen eröffnete er die Benefizsendung »America: A Tribute to Heroes« mit dem Song »My City In Ruins«, der ursprünglich vom Niedergang der Küstenstadt Asbury Park handelte, in der Springsteens Karriere begonnen hatte, nun aber auf geradezu unheimliche Weise zu dem gegebenen Anlass passte. Vor allem aber schrieb Springsteen in den folgenden Monaten eine Reihe von Songs, die das Trauma der Angriffe und des Verlusts direkt thematisierten und 2002 auf dem Album »The Rising« versammelt wurden: Das Titelstück fungierte dabei, zusammen mit dem Refrain von »My City Of Ruins«, »Come on, rise up!«, als Leitmetapher für den Versuch, sich nach der Katastrophe wieder aufzurichten und dem Idealismus der Feuerwehrleute zu folgen, die »Upstairs into the Fire« gegangen seien, wie es im zweiten Track heißt. Mehrere Lieder wie »Lonesome Day«, »Empty Sky« oder »You’re Missing« beklagen die Lücke, die Verstorbene in ihren Familien hinterlassen haben, »Worlds Apart« und »Paradise« bringen die Perspektive der arabischen Welt ins Spiel, und »Waitin’ On A Sunny Day«, »Countin’ On A Miracle« sowie »Mary’s Place« fragen nach der Möglichkeit, einen optimistischen Blick wiederzugewinnen – Springsteen war damit ein Konzeptalbum gelungen, das tatsächlich als therapeutisch und gemeinschaftsbildend aufgenommen wurde und dem damals 53-jährigen Musiker zu einem Zeitpunkt musikalische wie politische Anerkennung einbrachte, zu dem sich Karrieren sonst meist dem Altenteil zuneigen. Die Titelmetapher des »Erhebens« konnte also durchaus auch selbstbezüglich gelesen werden, und in der Folge entstand nicht nur eine Reihe weiterer Alben, die mit dem Niveau der ›classic era‹ der E Street Band konkurrieren konnten – allen voran das mit den Folgen der Bush-Administration abrechnende »Magic« (2007) –, es häuften sich auch Auftritte auf der politischen Bühne: 2004 unterstützte Springsteen den Wahlkampf des demokratischen Präsidentschafts-Kandidaten John Kerry, indem er am Vorabend der Wahl in Cleveland »No Surrender« sang, vier Jahre später wiederholte er sein Engagement am selben Ort (und erfolgreicher) für die Wahl von Barack Obama mit »The Rising«, und 2012 trug er für Obamas Wiederwahl »Land Of Hope And Dreams« sowie für die Inauguration zusammen mit Pete Seeger Woody Guthries »This Land Is Your Land« vor. Auch für Hillary Clinton setzte er sich im November 2016 ein, unter anderem mit dem auf die Aufgabe des Wiederaufbaus einer demokratischen Gesellschaft nach den Bush-Jahren gemünzten Song »Long Walk Home« – dass dieser Weg nachmals zu einem noch längeren werden sollte, ist Geschichte. »The criminal clown has stolen the thrown / He steals what he can never own«, heißt es dazu in »House Of A Thousand Guitars« auf »Letter To You«. Aber als 2021 dann Joe Biden ins Präsidentenamt eingeführt wurde, sang Springsteen auf den Treppen des Lincoln Memorials in Washington D.C. noch einmal seine Hymne auf ein Amerika, das alle unterschiedlichen gesellschaftlichen und ideologischen Gruppen zusammenführt, »Land Of Hope And Dreams«, eine Utopie, die er kurz darauf zusammen mit dem Altpräsidenten Obama in einem gemeinsamen Podcast namens »Renegades: Born in the USA« wieder aufgriff.

Und doch war diese Utopie nach den Trump-Jahren und der zunehmenden Spaltung des Landes in zwei Lager ohne gemeinsamen Nenner zu diesem Zeitpunkt schon in die Kritik geraten: Das wurde deutlich, als Springsteen für die Werbepause der Übertragung des »Super Bowl« der NFL am 7. Februar 2021 zum ersten Mal in seiner Karriere einen Werbespot aufnahm, der unter dem Titel »The Middle« eigentlich für den Autohersteller Jeep warb – tatsächlich aber mit dem Bild einer Kirche im Bundestaat Kansas, die die geografische Mitte der Vereinigten Staaten markiert, für eine Überwindung der ideologischen Gräben und der Versöhnung der Parteien: »We just have to remember the very soil we stand on is common ground«, hieß es da, was Springsteen mindestens auf drei Ebenen vehementen Widerspruch einbrachte: Er habe mit der Unterschrift unter den Werbevertrag seine Ideale verraten und sei dem Ruf des Geldes gefolgt; er habe mit dem Verweis auf den gemeinsamen »soil« die Kolonialgeschichte Nordamerikas ignoriert; und er habe mit dem Aufruf zur Versöhnung die unverzeihlichen Verbrechen der Trump-Ära relativiert. So kurz der Clip mit seinen zwei Minuten auch gewesen sein mag, so sehr zog er damit Springsteens über zwei, wenn nicht gar vier Jahrzehnte erworbene moralische Autorität in Zweifel, und als er Ende des Jahres auch noch seine Songrechte für geschätzte 500 Millionen Dollar an Sony verkaufte, machte das Wort vom Ausverkauf die Runde, das mit dem »ticket fiasco« im Vorfeld der US-Tour im Sommer 2022 endgültig bestätigt schien: Bruce Springsteen hatte in den Augen vieler diejenige »audience« ausgeschlossen, mit der er eine »ongoing conversation« zu haben vorgegeben hatte, und sein Engagement für die amerikanische Zivilgesellschaft zugunsten seines ökonomischen Eigeninteresses aufgegeben –ein Schritt, der in Fanforen Reaktionen provozierte, die bis zum Boykottaufruf der langersehnten Tour reichten, obwohl die eingeklagte moralische Integrität der Figur Springsteen (die, wie Springsteen einmal ironisch beschied, im Unterschied zu ihrer wesentlich wankelmütigeren Version aus Fleisch und Blut, stets »at home doing good deeds« sei) Konstrukt derselben Fans gewesen war.

Ein Zaubertrick

Paris, 13. Mai 2023. Inzwischen tourt die Band seit zwei Wochen durch Europa, beginnend mit zwei Konzerten in Barcelona und dreien in Dublin, in deren Vorfeld Springsteen das etwas westlich gelegene Städtchen Rathangan im County Kildare besucht, aus dem der irische Teil seiner Familie stammt. Auf Sozialen Medien tauchen Videoclips auf, die zeigen, wie er im Dorfpub mit den Anwohnern seinen Song »My Hometown« anstimmt, sowie – gegenüber dieser spontan wirkenden Szene eher gestellt erscheinende – Fotos eines Spaziergangs über den Dorffriedhof: hüben wie drüben ein »Local Hero«, wie der Song vom 1992er Album »Lucky Town« heißt, mit dem Springsteen die letzte Show in den USA in seinem Heimatstaat New Jersey eröffnet hatte. Die Unterschiede zwischen den Konzertkulturen diesseits und jenseits des Atlantiks sind aber dennoch unübersehbar: In Europa ist der ›roll call‹ ein fest etabliertes Instrument, das auch von den Sicherheitskräften an den Hallen und Stadien unterstützt wird, indem sie gesonderte Schlangen für Wartende mit und ohne Nummer auf dem Handrücken einrichten. In Paris beginnt das organisierte Anstehen bereits am Mittwochabend, also ganze drei Tage vor der Show – wieder organisiert von Åsa, die während der Tour nicht nur ihr Osloer Modegeschäft, sondern auch ihren Ticketnachschub von ihren Mitarbeiterinnen managen lässt. Und auch die Stimmung ist gelöster – während in den USA, wo Auftritte namhafter Performer keine Seltenheit sind, Begeisterung und Aufmerksamkeit mitunter eher denjenigen bei einem Baseball-Spiel gleichen, reist in Europa der Berg zum Propheten: Das Publikum ist international und der wesentlich größere Pit merklich belebter. Springsteen selbst wirkt ebenfalls entspannter – breit grinsend und hier nun doch, trotz aller Covid-Regeln, nach den Händen greifend, die sich ihm entgegenstrecken und in die er großzügig Mundharmonikas und Gitarren-Picks als Souvenirs verteilt. Die auffälligste Änderung ist aber die riesige Videoleinwand hinter der Bühne, auf die nicht nur die Bilder des Auftritts projiziert werden, sondern bei den drei neuen Songs »Letter To You«, »Last Man Standing« (inklusive Anmoderation) und »I See You In My Dreams« auch die Liedtexte in französischer (bzw. zuvor katalanischer) Sprache – Springsteen ist es offensichtlich wichtig, seinem Publikum den Fokus der Show auf die Reflexion über Tod und Vergänglichkeit zu vermitteln.

Diese Absicht könnte auch der Grund für die gleichbleibende Abfolge der Songs von Abend zu Abend sein – denn wer erwartet hatte, dass die Band in Europa bei mehreren Auftritten in einer Stadt beginnen würde, die Setlist zu variieren, wurde enttäuscht, und das umso mehr, als beim Soundcheck vor dem dritten Konzert in Dublin noch eine Reihe bislang ungespielter Stücke zu hören war. Tatsächlich ersetzt aber lediglich »Born In The USA« – das Springsteen aufgrund seiner Rezeption als nationalistische Hymne dortselbst kaum noch spielt – den Zugabenstandard »Rosalita«, und auch wenn die Hallen und Stadien durchweg ausverkauft sind und das Publikum jedes einzelnen Konzerts durchweg begeistert scheint, nimmt in den einschlägigen Fanforen die Kritik an der »static setlist« zu: Auf der »Wrecking Ball«-Tour 2013/14 hatte die Band noch insgesamt 260 Songs zum Vortrag gebracht, zehn Jahre darauf steht sie erst bei gut 50 – sind die Musikerïnnen nicht mehr in der Lage, Stücke auf Zuruf zu spielen? Hat Springsteen über die lange Pandemie-Pause den Kontakt zu seinem Publikum verloren, das ihm von Stadt zu Stadt hinterherreist und auf Abwechslung hofft? Kompensiert er gar, wie ein New Yorker Psychologe auf backstreets.com/btx/ vorschlägt, seinen eigenen Schmerz über das absehbare Ende der Interaktion mit seinen Fans mit einem präemptiven Schlag in deren Gesicht? Oder ist die aktuelle Tour die Band-Version von Springsteens – auf Netflix dokumentierter – Broadway-Show, bei der er 2017/18 (bzw. im Sommer 2021) solo und akustisch an insgesamt 267 Abenden im New Yorker Walter Kerr (bzw. St. James) Theatre eine karriereüberspannende Songauswahl mit autobiografischen Erinnerungen und Reflexionen eingeleitet hatte – nicht selten zu Tränen gerührt und rührend, obwohl sowohl die Abfolge der Songs als auch die gesprochenen Texte Abend für Abend dieselben waren.

Es gibt auf der gegenwärtigen Tour nur einen Moment, der dieser Anlage von »Springsteen on Broadway« entspricht – das ist die erwähnte Anmoderation von »Last Man Standing« mit ihrer Erinnerung an George Theiss. So wie die Bühnenansprachen in Springsteens Broadway-Show seiner Autobiografie »Born To Run« entnommen waren, ist auch dieser Text vorformuliert (sowie auf Springsteens Teleprompter ablesbar) und resultiert mithin keineswegs aus einer spontanen Emotion. Die Tatsache aber, dass so viele Songs ohne die erwarteten und erhofften Variationen um das thematische Zentrum von »Last Man Standing« gruppiert sind, legt dennoch nahe, dass die gesamte Setlist dem damit etablierten basalen ›Skript‹ folgt. Die Tour 2023 bestünde dann weniger aus ›Konzerten‹, wenn man darunter von spontanen Publikumsinteraktionen und Bandimprovisationen geprägte Auftritte versteht, sondern aus ›Shows‹, die (nicht nur, aber zumindest auch im Sinne des zugehörigen ›Business‹) einem festen Ablauf folgen, um eine vorgefertigte Botschaft zu vermitteln. Dass man eine solche Konzeption sowohl als Beleg für Kommerzialisierung und saturierte Bequemlichkeit als auch als ästhetisches Konzept und künstlerisches Vermächtnis ansehen kann, zeigt einmal mehr, wie sehr der Status populärer Musik von den Perspektiven und Projektionen ihrer Rezeption abhängt. Die Besonderheit der Kontroverse besteht im Fall von Bruce Springsteen darin, dass sie um denjenigen Performer kreist, der als Inbegriff eines ›Konzert‹-Musikers im oben genannten Sinne gilt, weil es ihm seit einem halben Jahrhundert gelingt, sein Publikum mit dem Gefühl nach Hause zu entlassen, tatsächlich in Kontakt mit ihm getreten zu sein. Das ist als Erfahrung so eindrücklich wie es im Vergleich einzigartig ist – auch 2023 gibt es wieder Debutantïnnen, die das Erlebte auf Twitter als »life-changing experience« beschreiben, und selbst wiederkehrende Konzertbesucherïnnen kommen auf ihre Kosten, als es im Laufe des Juni in Birmingham, Düsseldorf und Göteborg doch noch zu den lang ersehnten Tourpremieren von Songs wie »The River«, »The Ties That Bind« oder »Racing In The Street« kommt. Dennoch bedeutet all das womöglich nicht mehr, als dass der Versuch, ›authentische‹ Konzerte von ›geskripteten‹ Shows zu unterscheiden, demjenigen »magic trick« aufsitzt, zu dem sich Springsteen zu Beginn seiner Autobiografie wie seiner Broadway-Show bekennt:

»I come from a boardwalk town, where almost everything is tinged with a bit of fraud. So am I. By twenty, no race-car-driving rebel, I was a guitar player on the streets of Asbury Park and already a member in good standing amongst those who ›lie‹ in service of the truth … artists, with a small ›a.‹ […] I had youth, almost a decade of hard-core bar band experience, a good group of homegrown musicians who were attuned to my performance style and story to tell. […] These are some of the elements that come in handy should you come face-to-face with eighty thousand (or eighty) screaming rock’n’roll fans who are waiting for you to do your magic trick.«

Dass dieses Zitat selbst Teil des Tricks ist, den es zu enthüllen scheint, gehört zu seinem Zauber, der auch jeden Versuch irritiert, ›Rock‹ als authentische Präsenzerfahrung von der inszenierten Illusion des ›Pop‹ zu unterscheiden – eine Differenz, die, woran Thomas Hecken erinnert hat, von Springsteens Manager Jon Landau in den 1970er Jahre vehement propagiert wurde. Wenn im Zuge der diesjährigen Tour just dieses Management mit dem Eingeständnis enden sollte, dass auch Rock’n’Roll-Konzerte nur als Pop-Shows möglich sind, wäre das also nicht frei von Ironie. Und vielleicht besteht hierin der eigentliche »Brief«, den Springsteen seinem Publikum am Ende zustellen will – in einer finalen Geste der Ehrlichkeit, die die unumgängliche und so unvergleichlich erfolgreiche und wirkungsvolle Unehrlichkeit des bisherigen Springsteen-Bilds auf musikalisch und performativ nach wie vor überwältigende, aber dadurch nicht minder schmerzhaftere Weise offenlegt.

In Paris hält eine beträchtliche Anzahl von Fans während der letzten Zugaben Schilder in unterschiedlichen Neonfarben mit der Aufschrift »Bruce! Please don’t stop tonight!« hoch, und tatsächlich erhält Springsteen auch an diesem Abend während des viertletzten Songs »Glory Days« auf seine in gespielter Erschöpfung vorgebrachte Frage noch einmal von allen Bandmitgliedern die Zusicherung, dass sie keinesfalls schon nach Hause gehen wollen. Sie hören aber am Ende – nach der Hommage an den Entstehungsmythos der Band »Tenth Avenue Freeze-Out« und Springsteens beinahe zart im Rund der Arena verhallendem »And I see you in my dreams« – unweigerlich doch auf zu spielen und gehen, wenn schon nicht nach Hause, so doch zurück in ihre Hotelsuiten. Und so sind die Shows der E Street Band in diesem Jahr gerade in ihrer Inszenierung des Widerstreits von Weitermachenwollen und Aufhörenmüssen, Präsenz und Wiederholung, Kommunikation und Kommerz sowie Intensität und ›scriptedness‹ nicht nur eine Reflexion der großen Menschheitsfragen nach Freundschaft und Vergänglichkeit, sondern auch Ausdruck der Einsicht, wie sehr die Zukunft des Rock’n’Roll auf seiner eigenen Endlichkeit beruht.

 

Literatur

Adler, Natalie (2018): »My Butch Lesbian Mom, Bruce Springsteen. Why Should Dads Get to Lay Sole Claim to the Boss?« In: Electric Literature (https://electricliterature.com/my-butch-lesbian-mom-bruce-springsteen).

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Cohen, Jonathan C./Sawyers, June Skinner (Hg.) (2019): Long Walk Home. Reflections on Bruce Springsteen. New Brunswick u.a.

Diederichsen, Diedrich (2014): Über Pop-Musik. Köln.

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Hiatt, Brian (2019): Bruce Springsteen. The Stories Behind the Songs. London.

Kleiner, Marcus S. (2022): Bruce Springsteen. 100 Seiten. Stuttgart.

Kovic, Ron (1976): Born on the Fourth of July. New York.

Obama, Barack/Springsteen, Bruce (2021): Renegades. Born in the USA. Dreams – Myths – Music. New York.

Pethes, Nicolas (2016): »Trading Wings for Wheels. Utopie des Wegfahrens und Realität des Verkehrsstaus in Bruce Springsteens Born to Run«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 46, Heft 2, S. 271-284.

Phillips, Christopher/Masur, Louis P. (Hg.) (2013): Talk About a Dream. The Essential Interviews of Bruce Springsteen. New York u.a.

Rolling Stone (Hg.) (1996): Bruce Springsteen: The Rolling Stone Files. New York.

Springsteen, Bruce (2016): Born to Run. London u.a.

van Zandt, Stevie (2021): Unrequited Infatuations. Odyssee of a Rock’n’Roll Consigliere (A Cautionary Tale). New York.

Zanes, Warren (2023): Deliver me from Nowhere. The Making of Bruce Springsteen’s Nebraska. New York.

 

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