Masken
von Viola Hofmann
20.9.2023

Corona-Design

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 90-96]

Einige Museen haben bereits zu Beginn der Corona Krise begonnen, Exponate zu sammeln, die als Zeugen jener einschneidenden Phase dienen sollen. Von Interesse sind Piktogramme, die richtige und falsche Verhaltens- und Abstandsregeln vorführen, Fotodokumente von Hamsterkäufen und Aufnahmen außergewöhnlicher Maskenexemplare, kurzum alle materiellen Sedimente des derzeitigen Alltagslebens, die uns informieren und schützen, lenken, reglementieren und umtreiben.

Viele dieser Dinge wie Nitril- oder Latexhandschuhe, PVC-Umhänge, Desinfektionsspender, Vlieskleidung und -masken, die heute unsere alltägliche Aufmerksamkeit fordern, sind ebenso bekannt wie banal. Nun aber finden sich diese Gegenstände in neuen Sinnzusammenhängen wieder, in denen sie eine bislang nicht gekannte Bedeutung erhalten. Durch Verknappung werden sie gar teure Objekte der Begierde. Fritz Backhaus, der Sammlungsdirektor des Deutschen Historischen Museums (Berlin), bekräftigte in einem Interview, dass sich durch die Pandemie ein neues Sammlungsfeld auftue. Man möchte gerne einen Mund-Nasen-Schutz der Bundeskanzlerin und des Virologen Christian Drosten in den Bestand aufnehmen; Masken nicht prominenter Menschen sollten zumindest mit einer besonderen Geschichte verbunden sein, erst das mache die Objekte nahbar.

Es scheint tatsächlich weniger attraktiv, willkürlich Einwegprodukte zu sammeln, deren Produktion, Design und Wertigkeit einer schnellen Müllwerdung untergeordnet sind.  Nachdem ihre Verfügbarkeit und ihr niedriger Preis wieder sichergestellt sind, sieht man vermehrt achtlos weggeworfene Masken und Handschuhe auf Straßen, Plätzen, in Parks, an Freizeit- und Wanderwegen. Ohne eine besondere Story mag man diesen geringwertigen Dingen offensichtlich nichts zutrauen.

Grundsätzlich besitzt aber die Maske bzw. der Mund-Nasen-Schutz – der eine Begriff betont die Verdeckung des Gesichtes, der andere nachdrücklich sein medizinisches Potenzial – große Chancen, zum Ding des Jahres 2020 gekürt zu werden. Denn dieser verordnete und lästige Faltenbalg vor Nase und Mund polarisiert(e) wie kein anderer Gegenstand, nicht nur auf diskursiver Ebene. Auch in seinem Objekt-Sein prallen Leidenschaft und Leidenschaftslosigkeit hart aufeinander. Darum lohnt der Blick auf sein Design und auf die DIY-Techniken, die es befördern. Leidenschaftslos wirkt der fabrikgefertigte Mund-Nasen-Schutz aufgrund seiner Materialität und Verarbeitung. Industriell produziertes Chemiefaservlies dient der Maskenherstellung auf besonders sparsame und schnelle Weise. Kürzeste und feinste Chemiefasern werden durch Verkleben oder Verschweißen zu einer Fläche verbunden. Die Garnherstellung durch Verdrehen und Verzwirnen und die Flächenkonstruktion durch Verweben, Vermaschen oder Verflechten entfallen.

Vlies ist eine Art moderner, unauffälliger Allrounder, der, ganz Surrogat, viele andere Materialien ersetzt. Es ähnelt in Herstellung, Verwendung und Position in der Materialhierarchie durchaus der in Gernot Böhmes Buch »Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik« beschriebenen Spanplatte. Diese sei, schreibt Böhme, von einer doppelten Rationalität bestimmt, der Rationalität der Funktion und der Rationalität der Ästhetik. Ebenso wie die Spanplatte wird das Vlies zumeist von anderen Oberflächen kaschiert, die die gepresste und verklebte Materialarchitektur verdecken. So steckt Vlies in unseren Kleidungen als verstärkendes und formendes Hilfsmittel, es wohnt in unserem Zuhause als Hygiene-, Pflege- oder Reinigungsartikel, als Filter in Staubsaugern und Abzugshauben, es federt als Trittschalldämmung unsere Gehbewegungen ab, es klebt an der Wand als Kaschierung und bedruckte Tapezierung oder unter Möbeln als Schonung für den Fußboden, es wartet im Keller als meterweise Renovierungsunterlage. In allen Industriezweigen spielt es als Filter, Inlay, Träger, Form und Schutz eine zentrale Rolle, kaum ein Auto, Zug, Flungzeug, die ohne es auskämen, genauso wie der Anlagenbau, die Medizin, die Architektur, die Geoarchitektur, die Sport- und Freizeitindustrie und so weiter und so weiter.

Vlies lässt sich ebenso schnell und einfach verarbeiten, wie es hergestellt wird. Die mehrlagigen Lammellenmasken kommen ohne besonderen Zuschnitt oder eine Naht aus. Die hohe Kunst der schnitt- und nahttechnischen Formgebung braucht das Produkt nicht. Kein Mensch muss das Material mit einem Cutter zuschneiden, es wird maschinell ausgestanzt. Niemand muss es unter einer Nadel führen, um es zu versäubern und Nähte und Abnäher zu setzen, das Material franst nicht aus, die Formgebung erfolgt denkbar simpel. Die gefalteten Lagen werden schlichtweg miteinander mechanisch rundum punktverschweißt und die Gummibänder gleich mit angeschweißt. Fertig! Durch Auseinanderziehen der Faltungen wird die zweidimensionale Fläche zu einem dreidimensionalen Gebilde und passt sich jedem Gesicht an. Auch den letzten Anpassungsgriff tätigen die Träger*innen selbst, durch Biegen des eingearbeiteten Drahtes über den Nasenrücken. Alle Teile der Maske sind weiß, so sie keine blassblaue oder blassgrüne Außenbeschichtung besitzen. Diese äußere, farbige Kaschierung ist ebenfalls funktional, sie verhindert ein allzu rasches Durchfeuchten der Maske. Die Pufferung durch die unbeschichteten Lagen unmittelbar vor Mund und Nase soll die Atmung möglichst uneingeschränkt garantieren.

Die Masken sind ästhetisch uniform, wobei ein anderes Dessin durch Farben und Muster durchaus möglich wäre. Aber zusätzliches Design würde den Einwegartikel verteuern und – was folgenschwerer wäre – seine Legitimation als medizinisches Produkt unterlaufen. Die bekannten Farbcodes aus Weiß, Blau oder Grün dienen in der Medizin als Farbampeln für Abteilungen und Wäschepflege, für tradierte Sauberkeits- und Statuskonzepte, sie signalisieren und symbolisieren Sicherheit und Hygiene.

Einwegartikel gehören zu jenen »evocative objects« (Sherry Turkle), die ganz Funktion zu sein scheinen. Nichts an ihnen will schön sein, nichts an ihnen will uns emotional anrühren. Die Produktnarration verspricht ›schnell, sauber, sicher‹. Verächter von Küchenrollen, Liebhaber*innen von Stoffservietten, Fans gewebter Taschentücher, Eltern, die ihre Kleinkinder in gewebte Windeln wickeln, kennen sicher den leicht skeptischen und Igitt-behafteten-Blick, wenn sie sich offenbaren.  Auch die Einwegartikel sind emotional aufgeladen, sie sind mit unserem Sicherheitsempfinden stark verwoben. Im Falle der Vliesmasken musste die Bevölkerung deshalb durch gezielte Kampagnen erst aufgeklärt werden, dass sie keinen Selbstschutz gegenüber Viren bieten.

Längst bevor bekannt war, dass sich die meisten textilen Flächen gegenüber mikroskopisch kleinsten Partikeln wie ein Tennisschläger verhalten, gegen den man eine Handvoll Reis wirft, entstand eine Behelfsbewegung. Die Verknappung der medizinischen Gesichtsmasken und die nahende Maskenpflicht haben einen neuen Maskentypus, die sog. Community-Maske, hervorgebracht. Sie besteht aus handelsüblichen, textilen Flächen und wird mit elastischen oder verschnürbaren Bändern fixiert. Dieser Mund-Nasen-Schutz hat außer der bedeckenden Funktion nichts gemein mit den medizinischen oder filtrierenden Gesichtsmasken. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zertifiziert darum die Community-Maske nicht als nachweislich wirksames Produkt gegen den Tröpfchenauswurf des Trägers. Die Community-Maske verhält sich im Herstellungsaufwand zur medizinischen Einwegmaske ähnlich wie die Haute Couture zur Fast Fashion.

Die Community-Maske verhält sich zudem zur Einwegmaske wie handwerkliche Einzelfertigung zur Massenware aus der Fließfertigung. Das Produkt ist ein besonderes Beispiel dafür, wie sich ein heterogenes Feld von Selbermacher- und Handwerkerkulturen mobilisiert. Anleitungen zur Eigenherstellung sind darüber zum viralen Hit geworden. Über alle verfügbaren Kanäle der digitalen Medien konnten Interessierte und angehende Mit-Selbermacher*innen sich über Materialauswahl, Schnittkonstruktion und Nähausführung informieren und austauschen. Eifrig wurde diskutiert, welche Modelle einfacher anzufertigen, besser zu tragen und zu pflegen seien.

Das Burda-Fachblatt für Hobbyschneider*innen bot flugs mehrere Schnittvarianten auf dem eigenen Online-Portal an. Selbst die sog. Qualitätsmedien waren sich nicht zu schade, den ein oder anderen Schnitt mit Nähanleitung von Designer*innen zur Verfügung zu stellen oder einfach zu burdastyle.de zu verlinken. Die Community-Maske band offensichtlich in einer Phase, in der in den Massenmedien und im persönlichen Umfeld permanent und tagesaktuell neu über die Ursachen und Auswirkungen der Pandemie diskutiert wurde, Aufmerksamkeit. Auf den Straßen konnte man fortan Gespräche hören, in denen es um alternative Bezugsquellen für ausverkaufte Gummibänder ging, um Tricks für das Nähen oder die besten Preise und Bezugsorte für originelle Masken. Für viele kleine Einzelhandelsläden war der Maskenverkauf die einzige Möglichkeit wenn nicht viel Geld zu verdienen, so doch wenigstens im Gespräch zu bleiben und die Kunden nicht an den Online-Handel zu verlieren. Die Bezeichnung »Community-Maske« könnte darum nicht treffender sein.

Nicht wie gewohnt konsumieren oder sich fortbewegen zu können, hat viele Menschen zentraler Gestaltungsmöglichkeiten beraubt. In diesem Schwebezustand fingen Menschen plötzlich an, sich als Bastler*innen zu betätigen und neue Netzwerke auszubilden. Die Nähmaschinen wurden hervorgeholt, und wenn keine Meterware zu Hause unverarbeitet lagerte, wurde alles Ausrangierbare wie Bettbezüge, Geschirrtücher, T-Shirts oder Hemden sowie Wäsche-, Hut- oder Haargummis auseinandergenommen und neu zusammengefügt. Der legendäre französische Tennisspieler Yannick Noah etwa postete ein Tutorial, in dem er aus seinen Tennissocken mit vier Scherenschnitten eine Maske herstellt.

Krise und Verknappung scheinen zweierlei zu bewirken, die Suche nach Orientierung und praktische Lösungen, die Situation zu bewältigen. Auch knappes Gut produziert schließlich Konflikte. DIY-Lösungen wie die Community-Maske sind aber nicht nur praktischer Ersatz, selbst wenn man an ihre Schutzwirkung glauben mag. Die Maskenherstellung kann als praktische und kognitive Beschäftigung interpretiert werden, mit der der Welt etwas entgegengesetzt werden soll. Unsichere Bedingungen und Engpässe verlangen nachgerade eine Form der kreativen Bewältigung. Claude Lévi-Strauss zufolge stellt solche Bastelei bzw. Bricolage ein erkenntnistheoretisches Prinzip dar. Mit dem Machen und dem Überlegen werden Probleme angegangen. Dank ästhetisch überzeugender und teils sehr sorgfältiger Ausführung wirken nicht wenige Masken sogar sehr interessant. Viele Menschen besitzen mittlerweile ganze Sets, nicht nur um sie sukzessive waschen zu können. Die modische Gestaltung erlaubt das Spiel mit Möglichkeiten. Zudem wird durch die Integration der Dessins in die Garderobe die drastische Symbolsprache des medizinischen Pendants abgeschwächt.

Man kommt aber nicht umhin, mit der Community-Maske, die schließlich ein Notprodukt ist, auch andere Assoziationen zu verbinden. In Krisen- und vor allem Kriegs- und Nachkriegszeiten entstehen permanent solche Konversionsobjekte. Vorgefundene Dinge werden in diesen extremen Situationen »umverwendet«. Das Werkbundarchiv – Museum der Dinge (Berlin) besitzt eine umfangreiche Sammlung, die dokumentiert, wie aus Kriegsgütern und Armee-Equipment Dinge für den alltäglichen, zivilen Gebrauch und Bedarf hergestellt wurden. Die Ausstellung »Flick-Werk – Reparieren und Umnutzen in der Alltagskultur« (Landesmuseum Stuttgart) konzentrierte sich ebenfalls auf den Umgang mit Dingen in Knappheitsgesellschaften. Die »economy of makeshift« sollte jedoch keineswegs nur als positives Zeugnis »popularer Leistungen« präsentiert werden, wie Gottfried Korff im Katalog zur Ausstellung unterstreicht. Das Prinzip des Notbehelfs ist nicht nur eine Reaktion auf eine Umwelt mit Engpässen, sondern traditionell von einem sozialmoralischen Impetus durchdrungen.

Mit der »practical affordance« in sozialen Problemlagen lässt sich offensichtlich leicht eine moralische, politische, ideologische Selbstverpflichtung verknüpfen. In der Corona-Krise schlossen sich vornehmlich Frauengruppen zusammen, die Community-Masken herstellten und unentgeltlich abgaben, umgekehrt riefen sehr unterschiedliche Organisationen und Verbände Hobbyschneiderinnen auf, selbstgenähte Masken zu spenden. Unwillkürlich lässt sich dabei an die Fahnen stickenden Frauen im Zeitalter der Nationalstaaten und die Kriegsstrickerinnen für die Fronten der beiden großen Weltkriege denken. Zudem sind nicht nur Privatpersonen, sondern auch privatwirtschaftliche Unternehmen des Modesektors in die Notfall-Corona-Wirtschaft eingebunden. Von einigen Kritikern wurden die Kooperationen bzw. staatlichen Eingriffe bereits mit der Kriegswirtschaft verglichen.

Die Produktion von Community-Masken mag proaktiv wirken, sie mag beweisen, dass soziale Gemeinschaften ihre Vernetzungen zu stärken wissen und selbst Lösungen finden können, wenn es darauf ankommt. Allerdings verbleiben diese Aktivitäten im Feld des als selbstverständlich angesehenen, weiblichen Handarbeitens. Folglich soll die Arbeit ohne Bezahlung verrichtet und eigene Materialressourcen verwendet werden. Mit den letzten Wellen der seit den 1970er Jahren aufbrechenden Dekonstruktion von Geschlechterdichotomien, dem subversiven Spiel von Rollenzuweisungen, die u.a. vom »critical crafting circle« in einer Herausgeberinnenschrift in ihren historischen Wurzeln und modernen Ausprägungen beleuchtet wurde, hat die aktuelle Notproduktion deshalb wenig gemein.

Die Konkurrenz durch die Unentgeltlichen war für kleine Schneidereien, oft geführt von solo-selbständigen Frauen, eine Herausforderung. Nicht selten wurden ihre Verkaufspreise durch die Endverbraucher*innen als zu hoch eingestuft – das Maß der Wertschätzung und Investitionsbereitschaft richtete sich schließlich an den nur wenige Cent kostenden Vliesmasken aus. Dass mit dem ›Ding des Jahres 2020‹ die Logik der Globalisierung sowie die sehr unterschiedliche Bewertung und Entlohnung von Arbeit und Arbeitskräften im Kontext von Teilhabe und Massenkonsum dringend auf den politischen Prüfstand gehört, stand noch kaum zur Diskussion. Falls die Transformationsforscherin Maja Göpel recht hätte, die Corona als »Virus der Wahrheit« bezeichnete, müsste solch eine Debatte rasch folgen.

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