Grimes und Elon Musk
von Adam Harper
19.9.2023

Interessante und/oder bedrohliche Paarungen

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 42-48]

Eine Verschwörungstheorie besagt: Wenn die Protonen im Teilchenbeschleuniger des CERN fast mit Lichtgeschwindigkeit ungefähr eine Milliarde Mal in der Sekunde zusammenstoßen, wird aus der unendlichen Anzahl möglicher zukünftiger Universen eines zerstört. Seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 2008 brenne sich der Ringbeschleuniger durch eine Unzahl statistisch möglicher Universen. Das Universum, in dem wir existieren, gerate im Laufe der Jahre darum auf eine immer zerstörerische, absurdere und lächerlichere Zeitachse.

Leser aus einer fernen Zukunft sollten jetzt aufmerken: Nimmt man sie nicht allzu wörtlich, beschreibt diese Theorie auf brillante Weise die Erfahrungen der letzten Jahre. Bizarre politische Umwälzungen, kulturelle Zusammenflüsse, die in einer fiktionalen Geschichte merkwürdig anmuten würden, unzählige blitzhafte Einschläge großer, kleiner und riesiger Katastrophen – eine zunehmende, bedrohliche Atmosphäre der Eskalation. Kein Anzeichen von Fortschritt, sondern ein unausweichliches, exponentiell wachsendes Momentum in Richtung einer Zukunft, die im besten Fall surreal, im schlimmsten Fall apokalyptisch aussieht.

Es sind solche Ideen, die Elon Musk glauben könnte. Insbesondere denkt Musk, der Multimilliardär und CEO des Palo-Alto-Elektroautoherstellers Tesla und der privaten Raumfahrtgesellschaft SpaceX (die ab Juni 2020 Menschen zur Internationalen Raumstation bringt), dass dieses Universum aller Wahrscheinlichkeit nach eine Simulation ist – wenn man an die Möglichkeit denkt, die einem die kosmische Dauer seit dem Urknall gewährt hat, um solch machtvolle Simulationen zu erschaffen und ineinander zu verschachteln.

Nur wenige Figuren verkörpern das Zeitalter so sehr wie Elon Musk, und ich meine das nicht so, wie Musks Legionen von Fans ihn sehen: als einen heroischen, vorwärtsdrängenden Baumeister der Zukunft in der Tradition von James Watt und der industriellen Revolution, von Isambard Kingdom Brunel und dem Massentransport, von Thomas Edisons Medien und der Elektrizität oder, wie mit peinlicher Regelmäßigkeit angefügt wird, in der Tradition der fiktionalen Figur Tony Stark, der seinen eigenen Hi-Tech-Anzug baute und zum Superhelden Iron Man wurde.

Nein, Elon Musk verkörpert das Zeitalter, weil er so prägnant die chaotische Vielfältigkeit veranschaulicht, mit der Träume und Wirklichkeit, das Erhabene und Lächerliche, große Macht und große Verantwortungslosigkeit immer wieder aufeinanderprallen, Milliarden von Malen in der Sekunde. Zu Beginn des Jahrzehnts schien Musk die aufregende Personifikation eines besseren Morgen zu sein. Milliarden und Abermilliarden von Sekunden später enthüllte er im November 2019 den Tesla-Cybertruck, ein eckiges Monster, von dem man annehmen musste, dass es erschaffen wurde, um einen 1980er-Videospiel-Avatar in die Welt der heutigen fantastischen Erwachsenen zu befördern. Als der Cybertruck sich auf der großen Bühne vor internationalen Medienvertretern und einem riesigen Netz-Publikum befand, befahl Musk dem Chefdesigner des Trucks, einen faustgroßen Metallball gegen die angeblich unzerstörbaren Glasfenster zu werfen. »Oh my fucking God«, schrie Musk, als die Kugel einen riesigen kreisförmigen Riss in die Frontscheibe schlug.

Es war nur der letzte von zahllosen clownesken Momenten bei der PR des Unternehmers. Er war wegen Verleumdung verklagt worden, nachdem er einen Taucher, der sich kritisch über Musks Hi-Tech-Pläne zur Rettung der in einer Höhle in Thailand gefangenen Fußballmannschaft geäußert hatte, auf Twitter als »Pädo-Kerl« beschimpfte. Ebenfalls erging Klage, nachdem er getwittert hatte, er überlege, Tesla zum Kurs von 420 Dollar von der Börse nehmen, eine Zahl, die er nach eigener Aussage gewählt hatte, weil 420 ein gängiger Code für Marihuana ist und er dachte, seine Freundin »würde es lustig finden«.

Diese Freundin ist der Indie-Popstar Grimes, jetzt die Mutter ihres gemeinsamen Kindes. Auch Grimesʼ Reise durch die 2010er Jahre war von einer rasch wachsenden Zahl merkwürdiger Ereignisse geprägt. Ich sah ihr Gesicht zum ersten Mal 2011, als sie exzentrisch vom »Darkbloom«-Cover, ihrer Split-EP mit Sängerin und Synthesizer-Spielerin dʼEon, blickte. Es handelte sich mehr oder minder um ihr Debüt, denn die beiden vorherigen Alben hatten nicht viel Aufmerksamkeit über ihre heimische DIY-Szene in Kanada hinaus bekommen. Mit Grimes und dʼEon, die sich in Pelze und Laub wickelten und den Betrachter nervös, aber herausfordernd anstarrten, schien das Cover von »Darkbloom« die wilden Weirdos nördlich der amerikanischen Grenze zu repräsentieren, die uns aus der kalten Dunkelheit heimsuchen.

Der erste Titel »Vanessa« war ein sofortiger Hipster-Hit, ein ballettartig hüpfender Ohrwurm mitsamt Twee-Art-School-Video, ein wenig Lykke Li verpflichtet. Er passte perfekt in die damalige Indie-Ästhetik. Grimes’ unverwechselbarer Gesangsstil erinnerte mit seiner kinderartigen Süße an Li, CocoRosie und Joanna Newsom und übertraf sie sogar noch. Er ist Teil einer Tradition, die bis in die 1980er Jahre zurückreicht und in der die politische Haltung der Indie-Musik – ihre Kritik an der Moderne, am Rationalismus und am Kommerzialismus – ihren Ausdruck in Gesten der Unschuld, Spontaneität und Unvollkommenheit fand.

Fast ein Jahrzehnt später hat sich Grimes der Moderne zugewandt, ihre Berühmtheit ähnelt der von Björk in den 1990er Jahren. Im Sommer 2018 sah ich sie zur Gigantin aufgestiegen, wie sie auf einer Plakatwand über den Straßen von New York gebannt auf ihren Laptop-Bildschirm schaute, Teil von Apples »Behind the Mac«-Kampagne. Ihr mit Musk gezeugtes Kind kam im Mai 2020 auf die Welt und erhielt den Namen X Æ A-Xii. X, erklärte Grimes, sei die unbekannte Variable, Æ ihre »elfische Schreibweise« von AI (Artificial Intelligence) und A-Xii die Seriennummer eines Überschallflugzeuges, das sie und Musk bewunderten.

Einige Monate zuvor hatte Grimes ihr fünftes Album »Miss Anthropocene« veröffentlicht. Viele Stücke darauf bieten eine düster-ironische Beschwörung der posthumanen Dystopie; der Titel setzt sich aus ›Misanthropie‹ und ›Anthropozän‹ zusammen, letzteres die Bezeichnung für das von menschlicher Aktivität bestimmte geologische Zeitalter, ein Konzept, das in letzter Zeit in den Künsten und Geisteswissenschaften viel diskutiert wird. Stellenweise scheint das Album der Unterwerfung der Menschheit und des Planeten durch mächtige Technologien Applaus zu zollen oder sie zu bekräftigen. Auf diese Weise wird eine Ästhetik des Akzelerationismus befördert: die Tendenz, den destruktiven und entmenschlichenden Tendenzen des Kapitalismus und/oder des technologischen Fortschritts bejahend nachzugeben und sie sogar weiter vorantreiben zu wollen, entweder als Moment einer politischen Strategie oder rein aus Begeisterung am beängstigenden Thrill.

Es handelt sich um eine Tendenz, die in den philosophischen Schriften von Lyotard und Deleuze/Guattari festgehalten und in den 1990er Jahren mit der Cybernetic Culture Research Unit an der Universität Warwick in Großbritannien in Verbindung gebracht wurde. Benjamin Noysʼ ausgezeichnetes Buch »Malign Velocities« stellt ebenfalls Resonanzen zwischen Akzelerationismus und Cyberpunk-Literatur sowie der Techno-Musik und den sie umgebenden Bildern und Erzählungen fest. Grimes ist keineswegs die erste musikalische Akzelerationistin, auch nicht in der ungefähr zehn Jahre währenden Zeit, in dem das Konzept in den Künsten diskutiert wurde. Eine der wenigen zutreffenden Verallgemeinerungen über die Indie-Musik der 2010er Jahre lautet, dass diese Ära von einer begeisterten Aufnahme von Elektronik und Computerisierung sowohl bei der Produktion der Musik als auch innerhalb der Geschichten, die sie erzählt, geprägt war. Dass die Ergebnisse oft beunruhigend ausfielen, war wahrscheinlich unausweichlich. Künstler wie James Ferraro, Holly Herndon und Arca erkundeten diese neue Sensibilität mit unterschiedlichen Nuancen von Kritik und Ironie.

Vergleicht man »Vanessa« mit einer der Singles von »Miss Anthropocene«, »We Appreciate Power«, erschließt sich einem der Wandel hin zu jenen Klängen und Geschichten, in denen das herkömmliche Menschsein in einer High-Tech-Zukunft zermalmt wird, sofort. Akzentuiert von Schreien und schlagenden Dampfhämmern, legte der Song Vergleiche mit Industrial Music und Nu Metal nahe; seine klagenden, verzerrten Gitarren, die mit großer Lautstärke an röhrende Maschinen erinnern, sind Teil einer langen Tradition entmenschlichenden Lärms, die mindestens bis zu Lou Reeds »Metal Machine Music« zurück reicht. Laut Pressemitteilung ist das Stück »aus der Perspektive einer Pro-AI-Girl-Group-Propagandamaschine geschrieben, die Song, Tanz, Sex und Mode benutzt, um für die künstliche Intelligenz zu werben (die sich ohnehin durchsetzen wird, ob Sie es wollen oder nicht).« In der zweiten Strophe heißt es entsprechend: »People like to say that we’re insane / But AI will reward us when it reigns / Pledge allegiance to the world’s most powerful computer / Simulation: it’s the future.« Und im Refrain (gesungen vom US-amerikanischen Musiker HANA): »What will it take to make you capitulate? / We appreciate power / We appreciate power.«

Das Lied entwirft sich als Antwort auf ein berüchtigtes Gedankenexperiment, das als »Rokoʼs Basilisk« bekannt ist: Eine zukünftige allmächtige Künstliche Intelligenz könnte rückwirkend Rache an denjenigen von uns nehmen, die nicht daran mitgewirkt haben, die AI zur Existenz zu bringen. Hinzu tritt die Vorstellung, dass wir uns gegenwärtig möglicherweise in einer Simulation befinden, die von der AI erschaffen wird, um zu entscheiden, wen das Racheurteil treffen solle. »We Appreciate Power« stellt darum den Versuch von Grimes und HANA dar, sich präventiv mit der zukünftigen KI zu verbünden. Öffentlich haben sich Grimes und Musk bereits zur Bedeutung geäußert, die der Basilisk für ihre Beziehung besaß. Als Musk ein Wortspiel googelte, entdeckte er, dass Grimes die Figur des »Rococo Basilisk« bereits in dem Video zu ihrem Song »Flesh Without Blood« porträtiert hatte, worauf er Kontakt zu Grimes aufnahm. – Musk hat vor der Gefahr gewarnt, die er in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz sieht, und rangiert sie auf der Liste künftiger Bedrohungen für die Menschheit vor den Atomwaffen ein.

»We Appreciate Power« ist nicht die einzige Stelle auf »Miss Anthropocene«, auf der der Untergang der Menschheit offenbar beschleunigt wird. Beim Stück »Violence« unterwerfen sich Grimesʼ Lyrics willig dem Sadismus, von dem über einem tuckernden Synthwave-Trance-Hybrid erzählt wird, als handle es sich um den Soundtrack zu einem Werbevideo für eine Reihe von Luxus-Eigentumswohnungen mit einer glatten, aber beengten Lobby aus Flüssigkristall-Displays: »You wanna make me bad, make me bad, and I like it like that.« Grimes hat dem Lied eine zusätzliche Pointe verliehen, indem sie das lyrische Ich als den Planeten Erde zu erkennen gibt, der sich in einer Beziehung des Missbrauchs befindet – einer Beziehung mit den zerstörerischen Menschen. In gleicher Manier ist in einer weiteren Singleauskopplung, »My Name Is Dark«, zu hören: »imminent annihilation sounds so dope«. Folgerichtig und prägnant verkündete die Werbung für »Miss Anthropocene« auf Plakaten »GLOBAL WARMING IS GOOD«. Die – stumpfe – Ironie solcher Gesten wird zumindest an einer anderen Stelle des Albums deutlich. In »Before the Fever« heißt es aufschlussreich: »This is the sound of the end of the world / Dance me to the end of the night, be my girl / Madness, intellect, audacity / Truth and the lack thereof / They will kill us, oh have no doubt.«

Aber reicht es aus, bloß ironische Signale zu geben? Während das Augenzwinkern auf »We Appreciate Power« subtil genug sein mag, um Verbrennungen dritten Grades in dreißig Kilometern Entfernung zu verursachen, ist die Treue, die Grimes dem leistungsstärksten Computer der Welt in der wirklichen Welt geschworen hat, weniger leicht zu entkräften. Apple treibt den Neokolonialismus in Afrika, suizidverursachende Produktionsabläufe in China sowie das Verlangen nach geplantem modischen Verschleiß und Wegwerf-Waren in der gesamten entwickelten Welt voran. Mit Musk an ihrer Seite scheint Grimes das Wagnis einzugehen, das Publikum vor die Frage zu stellen, ob ihr wirkliches Leben wie bei so vielen Künstlern zuvor ein Echo ihrer Musik ist, in diesem Fall ihres ironischen Akzelerationismus. Natürlich würde die Cyberpunk-Prinzessin mit dem milliardenschweren Prinzen des Technokapitalismus ausgehen – Comic-Geschichten werden lebendig! Weniger magisch klang es, als sie ihren Twitter-Followern versicherte, dass Musk die Tesla-Arbeiter nie daran gehindert habe, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und entsprechende Befürchtungen »literally fake news« seien – oder als sie in ihren Tweets Musks Spenden an die Republikanische Partei als »den Preis dafür, in Amerika Geschäfte zu machen«, verteidigte.

Diese Reaktionen legen es nahe, dass Grimesʼ kunstvoll zweideutige Kapitulation vor der Maschine bei aller fantastischen Hyperrealität eher einer deprimierenden, deflationären Form des Realismus gleichkommt, wenn die Kostüme wieder im Fundus hängen. Und schlimmer, die Ironie liefert noch ein Alibi: Grimes könne nicht Teil des Problems sein, scheint sie zu suggerieren, indem sie das Problem überdeutlich in einem cartoonartig bösen Licht ausstellt. Doch anstatt uns vom Bösen wegzuleiten, bekräftigt der dünne Schleier die herannahende Dystopie nur auf erdrückendere Weise.

Es fällt schwer, den gefährlichen Thrill der akzelerationistischen Ästhetik zu schätzen (auch nicht als offene, angemessene Erfahrung der Turbulenzen, affektiven Versuchungen und moralischen Dilemmata der Moderne), wenn ein milliardenschwerer CEOs darauf drängt, seine Autofabrik mitten in einer tödlichen Pandemie wiederzueröffnen – als ob ein noch klarerer Beleg des Todestriebs, der den heutigen Arbeiter-Cyborgs aufgezwungen wird, nötig gewesen wäre. Oder wenn dieser Milliardär Alt-Right-Symbolik benutzt, indem er Twitter-Follower kryptisch dazu auffordert, »die rote Pille zu nehmen«, und so jenes Motiv aus dem Cyberpunk-Film »The Matrix« aufgreift, das von wütenden Trollen übernommen wurde, um ihrer neu gewonnenen Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass der Feminismus eine gegen sie gerichtete Verschwörung sei. Oder wenn Ivanka Trump antwortet, dass sie sie bereits genommen habe.

Als der große Teilchenbeschleuniger eingeschaltet wurde, setzte die Indie-Musik der Moderne eine Geste der Unschuld entgegen. Die Realität verbog sich aber bald derart, dass, um weiterhin die Wahrheit sagen zu können, der Kurs verkehrt und ein Pakt mit jenen Technologien und Vermittlungen geschlossen werden musste, welche die immer sublimeren heutigen Machtvektoren verkörpern. Die gegenwärtige Welt bringt seltsame Spektakel hervor – die Indie-Heldin steht auf dem roten Teppich neben dem Milliardär –, doch handelt es sich nicht um Simulationen, um fantastische Bilder aus der Zukunft. Es sind materielle Realitäten, die so immer möglich waren. Auch der morgige Tag wird wirklich sein.

 

Aus dem Englischen von Thomas Hecken. Englisches Original hier.

 

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