Tweets von gestern
von Berit Glanz
18.4.2023

Meme-Diffusion in etablierten Zentrum-Peripherie-Verhältnissen

[erschienen in: Elias Kreuzmair/Magdalena Pflock/Eckhard Schumacher (Hg.): Feeds, Tweets und Timelines. Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien. Bielefeld 2022.]

 

Im Jahr 2018 entstand in den russischsprachigen Bereichen mehrerer Sozialer Medien ein erfolgreiches Meme,[1] bei dem Bilder sehr simpler sogenannter Life-Hacks – das heißt: um die Ecke gedachter Problemlösungen – mit der Überschrift »How do you like this Elon Musk« (»как тебе такое изобретение илон tмаск«) versehen wurden. Zahlreiche dieser Tweets verbreiteten sich viral, das Meme-Muster wurde bald in andere Sprachen übernommen und auch die internationale Presse begann mit Best-Of Artikeln über das Phänomen zu berichten.[2]

Der Humor des Memes speist sich aus der Absurdität des offensichtlichen Gegensatzes von Bild und Text: Die Bilder sehr simpler Erfindungen, deren Pragmatismus teilweise auch im Kontext ökonomisch eher benachteiligter Lebensbedingungen stand, werden auf Textebene mit dem Verweis auf den superreichen Silicon-Valley-Milliardär und Erfinder Elon Musk kombiniert, der mit diesen Memes verspottet wurde. Postsowjetischer Alltagspragmatismus wird dem mittlerweile selbst zu einer Art Meme gewordenen Musk augenzwinkernd gegenübergestellt.

Elon Musk steht in diesem Meme prototypisch für den parodierten Unternehmer- und Erfindergeist der wohlhabenden High-Tech-Elite der kalifonischen Westküste. Mit dem Meme wird eine alltagspraktische Variante von Nerdtum, Erfindungsgeist und Kreativität behauptet, die in klarem Gegensatz zur global wahrgenommenen Nerdkultur des Silicon Valley steht – eine Rückkehr in die Garage des handfesten Erfindertums im Gegensatz zur glitzernden High-Tech-Welt.[3]

Es gibt seit einigen Jahren online ein sehr interessiertes Publikum für die Übersetzungen russischer und osteuropäischer Memes, die im Einklang mit der gesteigerten Online-Aufmerksamkeit für das seit der Jahrtausendwende immer populärer gewordene Musikgenre Hardbass, einem Interesse für Gopnik-Kultur[4] und Postsowjet-Ästhetik im Allgemeinen und russische Dashcam-Videos entstanden ist. Russland und die ehemaligen Länder der UdSSR haben sich mit diesen Memes von der Internetperipherie in das Zentrum bewegt.[5] Inwieweit dabei auch negative Stereotype – Alkoholkonsum, Armut, Squatten – affirmativ aufgegriffen und ironisch angeeignet werden,[6] ist bis jetzt erst wenig wissenschaftlich untersucht worden. Es ist jedoch ohne Zweifel so, dass russische Memes seit einigen Jahren immer wieder Trends produzieren und einige sehr einflussreiche visuelle Memes, wie das Wojak-Meme, ihren Ursprung und ihre Popularisierung polnisch- und russischsprachigen Messageboards verdanken.[7]

Nostalgische Sovjetwave-Kultur,[8] die sich auf die technikoptimistischen sowjetischen Zukunftsentwürfe aus der Mitte des 20. Jahrhunderts bezieht, die einen visuellen und akustischen Gegensatz zur Ästhetik des US-amerikanischen Space Age bildet, trifft in diesem neuerwachten Interesse auf eine Faszination für postsowjetischen Verfall und den fatalistischen Pragmatismus in einigen Regionen Russlands. Die aus den russischsprachigen Teilen des Internets in englischsprachige und andere internationale Timelines ausstrahlenden Phänomene sind auf Übersetzung durch Individuen und Sammelaccounts wie @RussianMemesLtd angewiesen, die russischsprachige Internetkultur erst für ein internationales nicht-russischsprachiges Publikum zugänglich gemacht haben. Dabei kommt es – wie bei allen Übersetzungen – auch zu Phänomenen kaum übertragbarer Aspekte, deren Bedeutung oder Humor sich nicht verlustfrei aus der einen in eine andere Sprache übertragen lässt.

Ein gutes Beispiel für diese Übersetzungsproblematik auch in Bezug auf Meme-Kultur ist das »Mous Snekin«-Meme, welches eine Zeit lang in den russischsprachigen Sozialen Medien sehr beliebt war.[9] Bei diesem Meme ergeben sich zahlreiche Probleme für nicht-russischsprachige Internetuser*innen, denn die Begriffe spielen offensichtlich mit abgewandelter Orthografie, sowohl das »Mouse« (Mysch/мышь) als auch das »snekin« (Mysch/мышь) von »pirschen« sind falsch geschrieben, was mit der Übersetzung »Mous Snekin« anzudeuten versucht wird.

Das Meme erinnert optisch an die Advice Animals[10] der frühen Meme-Geschichte, in denen bereits ab 2006 das Bild eines Tieres in einem Image Macro mit einer Überschrift versehen wurde – beispielsweise der »Advice Dog« oder der »Courage Wolf«. Bereits in den 2010er Jahren sorgten Meme-Generator-Websites dafür, dass »Advice Animals« im großen Stil das Netz fluteten. Ein weiteres frühes Image Macro-Memeformat sind sogenannte »Archetype Image Macros«, in denen das prägnante Bild eines Menschen mit einer Beschriftung verbunden wird.

Zu diesen mittlerweile ausgesprochen altmodisch wirkenden Memes gehören das »Success Kid« oder auch »Nice Guy Steven«. Das russische »Mous Snekin«-Meme spielt mit diesem Intertext bereits veralteter superpopulärer Memeformate und auch im »Elon Musk«-Meme werden strukturelle Elemente des Archetype Image Macros aufgegriffen, denn Elon Musk ist mittlerweile selbst zum Archetyp des genial-verrückten ›Techbros‹ geworden und wird dadurch selbst immer wieder Quelle für Memes. Im russischen »Musk«-Meme wird ebendieser für Memes beliebte Verweis auf einen Archetyp mit postsowjetischer Ironie verbunden.

Anhand der beiden Beispiele aus der russischsprachigen Online-Kultur lässt sich erkennen, wie komplex der Intertext von Memes ist, die mittlerweile auf eine mehrjährige Tradition zurückgreifen können und immer wieder Übersetzungen von einer Sprache in die nächste unternehmen, während parallel auf global etablierte Muster verwiesen wird. Für eine gründliche Analyse dieser miteinander interagierenden Meme-Kulturen sind komparatistische Verfahrensweisen notwendig. Memes, als fortlaufendes und sich aufeinander immer wieder neu beziehendes kommunikatives Spiel, können kaum isoliert betrachtet werden, wenn man wirklich ihre allgemeinere Bedeutung nachvollziehen will.

Die Meme-Kulturen verschiedener Sprachen, die sich oft wieder in zahlreiche separate Untergruppen abgrenzen, sind grundsätzlich eng aufeinander bezogen. Diese Interdependenzen beziehen sich auf die Meme-Motive, die formalen Verfahren des Memes, aber auch auf die Entstehungsgeschichte und den Intertext der einzelnen Memes. Mit Bezug auf die Frage, was eine Meme-Komparatistik überhaupt leisten könnte, muss zunächst geklärt werden, ob es solcher komparatistischer Analysezugänge überhaupt bedarf oder ob Memes eine Art eigener globalisierter Code sind.

Die beiden Beispiele vom Anfang dieses Textes zeigen recht deutlich, dass es verschiedene Twitter-Kulturen gibt, die teilweise an unterschiedliche Sprachen, aber auch an Variationen unterschiedlicher Subkulturen gebunden sind. Es gibt jedoch zur möglichen Komparatistik der unterschiedlichen Zeichenverwendung in diesen verschiedenen Sphären noch kaum theoretische Überlegungen oder konkrete Analysen, wie und ob diese sich wirklich voneinander abgrenzen. Ganz pragmatisch lässt sich aber aus zahlreichen Tweets ablesen, dass die User*innen sehr wohl ein Bewusstsein für diese unterschiedlichen Twitter-Kulturen haben, wenn beispielsweise über »French-Twitter«,[11] »Italian Twitter«[12] oder »German-Twitter«[13] geschrieben wird. Schon in der Frühphase der Plattform finden sich Tweets wie: »Uhh guys Swedish Twitter is full of jokes about how Canada doesn’t have any successful global retail brands«, geschrieben von dem User @mikeykolberg im Februar 2014.[14] In diesen Tweets wird meistens eine Übersetzungsleistung vollzogen, die Spezifika, Trends oder Verhaltensweisen einer anderen Twittersphäre werden für die eigene Timeline beschrieben oder humorvoll zusammengefasst.

Anhand der Pragmatik zahlreicher Tweets lässt sich also recht deutlich erkennen, dass es auf Twitter ein Gefühl für voneinander abgegrenzten »Twitter-Kulturen« gibt, die in spezifischen Sprachen und spezifischen Kontexten schreiben. Es gibt neben Swedish-Twitter, Italian-Twitter oder anderen durch die jeweilige Sprache markierten Twittersphären auch abgegrenzte Bereiche wie Elterntwitter,[15] Commietwitter[16] oder Schmunzeltwitter,[17] in denen nach eigenen Regeln und eigenen Konventionen kommuniziert wird.

Noch offen ist, wie sich solche Twittergemeinschaften, die über jeweils eigene Codes und Kontexte verfügen, welche sie einerseits gruppenimmanent stabilisieren und parallel zu einer Abgrenzung nach außen führen, am besten bezeichnen lassen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird für dieses Phänomen oft der mittlerweile eher vage Begriff der Filterblase verwendet, der von Eli Pariser nach einem ausgesprochen erfolgreichen Ted-Talk in dem Buch The Filter Bubble: What The Internet Is Hiding From You[18] von 2011 etabliert wurde. Parisers eher pessimistische These lautete, dass Menschen nicht mehr mit gegenläufigen Meinungen konfrontiert würden, weil ihre aus einem ausschließlich von ihren eigenen Präferenzen geprägten Algorithmus resultierenden Suchergebnisse das eigene Interneterleben in eine Echokammer verwandeln. Begriff und Konzept sind mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen[19] und werden auch in Überlegungen zur Online-Streitkultur aufgegriffen.[20]

Diskussionen um Filterbubbles, um die sich selbst bestätigenden Online-Stilgemeinschaften und die angebliche Homogenisierung der Feeds konzentrieren sich stark auf die Rezeptionsebene und arbeiten mit einer Metaphorik der Abgeschlossenheit. Möchte man jedoch die Zirkulation von Memes durch die jeweils unterschiedlichen Sphären betrachten, den Blick statt auf vermeintliche Abgeschlossenheit auf den kommunikativen Austausch in den Sozialen Medien im Gegensatz zu einer mehr oder weniger eindeutig abgegrenzten Filterblase richten, dann lohnt es sich, auf etablierte semiotisch informierte Kulturtheorie zurückzugreifen, die sich besonders der Zirkulation von Zeichen und Codes widmet.

Vielleicht eignet sich der Semiosphärenbegriff des russischen Literaturwissenschaftler Jurij Lotman, der mit Kultur und Explosion (1992) und Die Innenwelt des Denkens: Eine semiotische Theorie der Kultur (1990) eine semiotisch fundierte Kulturtheorie entwickelte, für die theoretische Erfassung der Dynamiken in den Sozialen Medien mit ihren lose voneinander abgegrenzten Gemeinschaften. Das in Lotmans Spätwerk formulierte Konzept der Semiosphäre ist gut geeignet, um die Wandlungen kultureller Codes zu analysieren.

Der Begriff wurde von Lotman in Anlehnung an den aus den Naturwissenschaften stammenden Begriff der Biosphäre gewählt. Dieser bezieht sich auf eine Betrachtungsweise globaler Lebenszusammenhänge, in der die gesamte Erde als ein lebender Organismus wahrgenommen wird, in dem jedes Lebewesen als Teilfunktion enthalten ist. In Anlehnung daran ist die Semiosphäre im Sinne Lotmans ein Kulturmodell, in dem alle Äußerungen als Teil eines übergeordneten bedeutungsbildenden Zeichensystems verstanden werden können. Kein Zeichensystem funktioniert separat, sondern alle Zeichensysteme stehen – wie die Organismen der Biosphäre – miteinander in einem funktionellen Zusammenhang und bilden gemeinsam die Semiosphäre.

Der Begriff der Semiosphäre bleibt bei Lotman insofern unpräzise, als er sich sowohl auf die Gesamtheit aller semiotischen Systeme – analog zur weltumspannenden Biosphäre – beziehen kann als auch auf einzelne voneinander abgetrennte semiotische Systeme, die nicht unbedingt nationalstaatlich begrenzt bleiben müssen.[21] Bezieht man Lotmans Konzept auf die verschiedenen Gemeinschaften in den Sozialen Medien, betrachtet diese also als jeweils separate Semiosphären, dann bilden diese den Raum, in dem Gemeinschaft als semiotisches System entsteht, während die kollektiven Codes der Zeichenverwendung ständigen Veränderungen unterworfen sind. Die relative Homogenität des in der Semiosphäre verwendeten Codes sichert dabei eine gegenseitige Vertrautheit ihrer Mitglieder und eine Abgrenzung zu anderen Semiosphären, die entsprechend wieder über eigene relativ homogene Codes verfügen. Die in einer Semiosphäre konstant auftretenden Transformationen des Codes resultieren aus dem permanenten Einfluss »fremder« Texte.

Jede Kultur ist ständig einem Bombardement durch zufällige einzelne Texte ausgesetzt, die wie ein Meteoritenregen über ihr niedergehen. Wir sprechen nicht von Texten aus einer bestimmten zusammenhängenden Tradition, die einen Einfluss auf diese oder jene Kultur ausübt, sondern von einzelnen irritierenden Einbrüchen. Das können Bruchstücke anderer Zivilisationen sein, die zufällig aus der Erde gegraben werden, zufällig eingeschleppte Texte aus zeitlich oder räumlich fernen Kulturen. Wenn die Texte nicht ihr eigenes Gedächtnis hätten und um sich herum nicht eine bestimmte semantische Aura schaffen könnten, dann blieben all diese Einbrüche auch nur seltene Museumsstücke, die außerhalb des eigentlichen kulturellen Prozesses stehen. Tatsächlich sind sie aber wichtige Faktoren für die kulturelle Dynamik. Das hat damit zu tun, dass ein Text, wie ein Korn, das in sich das gesamte Programm seiner künftigen Entwicklung enthält, nichts Starres und unveränderlich mit sich Identisches ist. Die partielle innere Unbestimmtheit seiner Struktur fungiert, wenn sie mit neuen Kontexten in Berührung kommt, als Quelle seiner Dynamik.[22]

Wesentliche Veränderungsimpulse kommen nach Lotman aus der Peripherie der Semiosphäre, von der aus neue Texte in die jeweilige Semiosphäre übersetzt werden. Die Dynamik der Semiosphäre basiert also ganz grundsätzlich auf dem Austausch mit anderen Semiosphären. Im Gegensatz zu Konzepten wie dem der Filterblase geht es also bei Lotman genau nicht um Abgeschlossenheit, sondern um Zirkulation. In Bezug auf die Sozialen Medien kann man mit dem Konzept der Semiosphäre die Zirkulation von Memes durch verschiedene Twitter-Kulturen analysieren:

Die Brennpunkte der semiotisierenden Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. […] Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ›unserer eigenen‹ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ›Äußere‹ zum ›Inneren‹ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren.[23]

Auf den ersten Blick ist es naheliegend zu vermuten, dass bei der Verbreitung eines Memes von der Ausgangssemiosphäre – ob es sich dabei um ein englischsprachiges Messageboard, TikTok oder kleinere Twitter-Semiosphären handelt – eine gewisse Zeit vergeht, dass die Memes nicht instantan durch verschiedene Semiosphären zirkulieren, sondern erst zeitverzögert aufgegriffen werden. Für eine Untersuchung der Bewegung einzelner Memes durch verschiedene Social-Media-Semiosphären ist es nicht unbedingt notwendig, zuvor Zentrum und Peripherie verschiedener Plattformen zu definieren, was man beispielsweise mit Blick auf die Sprache der Nutzer*innen machen könnte. Stattdessen kann man einfach den Ausgangspunkt eines Memes herausfinden und von dort schauen, wie es sich verbreitet. Wichtig ist, dass das Eindringen neuer Memes in eine andere Semiosphäre immer auch eine Übersetzungsleistung darstellt, umso mehr, wenn dabei tatsächlich ein Übergang von einer in die andere Sprache stattfindet.

In den folgenden Abschnitten möchte ich diese Übersetzungsbewegung bei der Zirkulation eines sehr populären Memes im Sommer 2020 nachvollziehen, um anhand einer qualitativen Beobachtung zu zeigen, wie der Memetransfer zwischen Semiosphären funktioniert. Mit Semiosphären meine ich im Kontext dieses Beispiels verschiedene Sprachbereiche auf der Plattform, aber man könnte eine analoge Untersuchung auch mit Blick auf verschiedene Subkulturen machen, beispielsweise mit Blick auf den Transfer eines Musikmemes von einer Stilgemeinschaft in die andere.

Das im Sommer 2020 gestartete »I have a joke…«-Meme basiert auf einem simplen Snowclone. Ein Snowclone ist ein Klischee oder ein Satz, der zur formelhaften Vorlage geworden ist. Der Begriff wurde bereits 2004 als Ausdruck für solche formelhaften Sprachmuster formuliert und wird seit einigen Jahren besonders für Memes verwendet, die auf der Wiederholung eines bestimmten Satzmusters basieren.[24]

In diesem konkreten Fall besteht der Snowclone aus dem Satzmuster: »I have an X Joke, but Y.« Gestartet wurde das Meme am 23.7.2020, als der indische Account @thewittydoctor schrieb: »I have a joke on doctor, but aap pehle fees jama karao.«[25] Der Tweet spielt mit Mehrsprachigkeit, die zweite Satzhälfte lässt sich mit »but you pay the fee first« übersetzen. Der Account, von dem das Meme ausging, ist in globaler Perspektive kein sehr großer Account, aktuell hat er knapp über 15.000 Follower*innen. Er befindet sich an der mehrsprachigen Peripherie der englischsprachigen Semiosphäre, weswegen der Sprachmix entscheidendes Stilmittel wurde.[26]

Das Muster verbreitete sich zunächst unter indischen Wissenschaftler*innen, die auf Englisch mit dem Snowclone-Format quote-retweeteten.[27] Die auf Twitter international aufgestellte Wissenschafts-Community zeigte sich für die initiale Verbreitung verantwortlich,[28] das Meme-Muster ging von dort rasch in den US-amerikanischen Mainstream über und wurde zum Trend. Entscheidend für diesen raschen Erfolg war ein Quote-Retweet von Monica Lewinsky, die mit ihrem Tweet interessanterweise nur zwei Quote-Retweets von den indischen Wissenschaftler*innen entfernt ist, also sehr nahe am Ursprung des Tweets zu dem Meme beiträgt. Lewinskys Tweet »I have an intern joke and it … nevermind« vom 25.7.2020 wurde eine halbe Million mal gefavt und über 70.000-mal retweetet, sorgte also für eine massive internationale Sichtbarkeit des Memes.[29]

Bereits einen Tag zuvor war das Meme in der französischen Übersetzung »J’ai une blague…« angekommen, am Anfang waren die Bezüge zu dem englischsprachigen Ausgang noch in Quote-Retweets sichtbar,[30] aber die Übersetzungsleistung erfolgte sehr rasch. Auch in Schweden wird das Muster »Jag har ett skämt…« bereits am 24. Juli durch einen übersetzenden Quote-Retweet in die Semiosphäre übertragen.[31] In den Tagen darauf, als das Meme in den USA schon viral war, gab es zusätzlich viele schwedischsprachige Tweets. In beiden Sprachen sind die Bezüge auf das englische Meme und die englischsprachige Wissenschafts-Community noch in den ersten Tweets als Quote-Retweets klar markiert, aber dann entwickelt das Meme eine eigene, nicht mehr an die Ausgangssprache angeknüpfte Dynamik in den jeweiligen Sprachen.

Am 25.7.2020 werden auch die ersten Versuche mit der deutschsprachigen Version des Musters gemacht: »Ich habe einen Witz…«-Tweets tauchen auf, werden aber in den initialen Beiträgen noch klar in einen humorvollen Bezug zu der eigenen Übersetzungsleistung gestellt. Der Account @MarkGallagher71 tweetet am 25. Juli: »Ich habe einen Witz, aber ich warte immer noch auf die Übersetzung #IHaveaJoke but my friends are all at the #Donaudampfschiffahrtselektrizitätenhauptbetriebswerkbauunterbeamtengesellschaft« und bezieht sich damit recht eindeutig auf seine Position an der Grenze zwei verschiedener Sprachsemiosphären.[32] Ab dem 25. Juli gibt es dann kaum noch deutschsprachige Quote-Retweets von englischen Tweets, das Pattern ist offensichtlich bekannt und etabliert, weswegen keine Nähe und kein Bezug zum englischen Meme mehr hergestellt werden muss.

Die isländische Twitter-Community ist sehr klein, es gibt nur knapp 400.000 Menschen, die der Sprache überhaupt mächtig sind, und von diesen befindet sich nur ein Bruchteil auf Twitter. Es ist deswegen vermutlich fair, die isländischsprachige Twitter-Semiosphäre als eine auf der Plattform eher periphere Semiosphäre zu betrachten. Doch obwohl diese Logik von Zentrum und Peripherie die isländische Kulturgeschichte geprägt hat, die sich über die vergangenen Jahrhunderte bis vor einigen Jahrzehnten vor allem durch Abgeschiedenheit und fehlende Anknüpfung an die Entwicklungen im Zentrum ausgezeichnet hat, zeigt die Meme-Etablierung in der isländischsprachigen Semiosphäre, dass Zeit bei Online-Phänomenen anders verläuft. Auf Isländisch gibt es den ersten »Ég er með brandara…«-Tweet bereits am 24.7.2020,[33] bevor das Muster in den USA viral durchstartet. Auch hier erfolgt der Übersetzungstransfer von einer Semiosphäre durch die mehrsprachige internationale Wissenschafts-Community. Das feste Pattern etabliert sich in der isländischsprachigen Semiosphäre dann ungefähr um den 27. Juli herum.[34]

Aus dem betrachteten Beispiel lässt sich erkennen, dass es offensichtlich drei Wege für Mitglieder nicht-englischsprachiger Twitter-Semiosphären gibt, an Memes zu partizipieren, und diese häufig simultan ablaufen: 1. Tweets werden auf Englisch von mehrsprachigen Accounts abgesetzt, 2. Tweets in anderer Sprache werden mit einem Quote-Retweet eines englischsprachigen Tweets kombiniert, womit explizit auf die Verbindung zum Ausgang des Memes verwiesen wird, 3. Tweets werden in die andere Sprache übersetzt, ohne dass via Quote-Retweet noch eine Verbindung mit der Meme-Ausganssprache sichtbar bleibt. Dies ist immer der finale Schritt bei der Übernahme von Meme-Patterns in eine andere Sprache.

Bei dieser Forensik der Ausbreitung und Diffusion eines ausgesprochen erfolgreichen Memes durch verschiedene Sprachsemiosphären wird deutlich, dass sich bei diesem Prozess kaum zeitliche Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie ausmachen lassen. Der Code-Transfer zwischen Semiosphären erfolgt binnen sehr kurzer Zeitfenster, wodurch mit unterschiedlicher Zeitlichkeit verknüpfte klassische Zentrum-Peripherie Relationen hinfällig werden.

Die Ausbreitung von Memes als Diskursereignisse, ihre Produktion und Rezeption erfolgt in verschiedenen Semiosphären nahezu simultan. Folgt man Lotmans initial zitierter These, dass in der Grenzregion einer Semiosphäre »fremde Texte so stark transformiert [werden], dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren«,[35] dann wäre die Ausbreitung des an dieser Stelle untersuchten Snowclone-Memes ein Beispiel für einen solchen integrierten fremden Text, der in immer wieder neue Semiosphären integriert wird.

Um zu analysieren, ob und wie sich die einzelnen Semiosphären durch diesen raschen Austausch von Memes und die permanente Integration neuer und initial fremder Muster systematisch verändern, müsste jenseits der Ereignishaftigkeit einzelner Memes untersucht werden. Dabei müsste über einen längeren Zeitraum untersucht werden, wie Meme-Formate aufgegriffen und neu codiert werden. Am Anfang dieses Aufsatzes wurde das »Mous snekin«-Meme und auch das russische »Elon Musk«-Meme als Beispiel angeführt, wie Memes aus nicht englischsprachiger Semiosphäre plötzlich auch zu einem neuen Interesse an den Ursprungsländern führen können. Diese Übersetzungen erfolgreicher Memes aus dem nicht-englischsprachigen Raum wirken dann – ganz im Sinne Lotmans – auch wieder auf die englischsprachige Twitter-Semiosphäre zurück.

Es ist wünschenswert, dass Memes jenseits ihrer nur sehr kurzen Ereignishaftigkeit in den Blick genommen werden, denn Memes wie »I have a joke« sind globale Phänomene mit ungeheurer Breitenwirkung, an der sich viele Individuen schreibend beteiligen. Betrachtet man Memes als eine der global paradigmatischen Schreibweisen der Gegenwart, die etablierte Relationen von Zentrum und Peripherie, globaler und lokaler Kultur, aufhebt und unterläuft, dann wäre eine langfristige komparatistische Dokumentation und Untersuchung dieser Prozesse sinnvoll.

 

Anmerkungen

[1] Courtney @ defund the police [@andromedamn] (21.08.2021): »Apparently russia has this meme«. [Tweet]. https://twitter.com/andromedamn/status/1031692871177576453?s=20&t=N4hvrlknZ5GEclPl72zg_A.

[2] Morgan Sung: »Russians mock Elon Musk’s inventions with lifehack memes. And how do you like this, Elon Musk?« In: Mashable. https://mashable.com/article/russian-elon-musk-memes-how-do-you-like-this, 22.8.2018 , Eric Loveday: »Russian ›How Do You Like This, Elon Musk?‹ Memes Are Hilarious«. In: insideevs. https://insideevs.com/news/339195/russian-how-do-you-like-this-elon-musk-memes-are-hilarious/, 27.8.2018, Jasper Hamil: »Russians are trolling Elon Musk by barraging him with hilarious memes«. In: metro. https://metro.co.uk/2018/08/23/russians-are-trolling-elon-musk-by-barraging-him-with-hilarious-memes-7876616/, 23.8.2018 .

[3] Den popkulturellen Wandel der Sozialfigur des Nerds von der Anfangsphase begeisterter Garagentüftelei zur High-Tech-Elite des Silicon-Valley-Nerds zeigt Annekathrin Kohout: Nerds. Eine Popkulturgeschichte. München 2022.

[4] Michelle A. Berdy: »Thugs, Rednecks, Nationalists: Understanding Russia’s Gopnik Culture«. In: The Moscow Times. https://www.themoscowtimes.com/2014/04/10/thugs-rednecks-nationalists-understanding-russias-gopnik-culture-a33852, 10.4.2014.

[5] Samantha Berkhead: »In 2020, Russia’s Memes went worldwide«. In: The Moscow Times. https://www.themoscowtimes.com/2020/12/24/in-2020-russias-memes-went-worldwide-a72377, 04.12.2020.

[6] Sasha Raspopina: »Opinion: Can Slav and gopnik memes do real damage?« In: The Calvert Journal, https://www.calvertjournal.com/articles/show/7350/gopniks-slavs-squatting-memes, 13.12.2016.

[7] Z.: »Wojak«. In: knowyourmeme. https://knowyourmeme.com/memes/wojak, 2016.

[8] Alec Luhn: »Russia’s musical new wave embraces Soviet chic.« In: The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2015/jul/29/russias-musical-new-wave-embraces-soviet-chic, 29.7.2015.

[9] пупуся [@_clar_] (21.8.2018): »❤️«. [Tweet]. https://twitter.com/__clar__/status/1031839011336273920, 29.07.2015.

[10] Don: »Advice Animals«. In: knowyourmeme. https://knowyourmeme.com/memes/advice-animals, 2012.

[11] Div [@divineyala] (31.03.2022): »French Twitter is always so chaotic … 😵‍💫 every day new drama, new thief, new story time«. [Tweet]. https://twitter.com/divineyala/status/1509499867374129163.

[12] Vittoria [@cthvittxria] (4.6.2018): »Italian twitter culture is fare una frase mischiando italiano e inglese feat storici meme«. [Tweet]. https://twitter.com/cthvittxria/status/1003670702904561664.

[13] Dan Arrows [@Dan_Arrows] (3.3.2021): »Why is half of German twitter just people wishing each other a good morning«. [Tweet]. https://twitter.com/Dan_Arrows/status/1367163917336772614.

[14] Michael Kolberg [@mikeykolberg]: »Uhh guys Swedish Twitter is full of jokes about how Canada doesn’t have any successful global retail brands«. [Tweet]. https://twitter.com/mikeykolberg/status/437577713444855810.

[15] Mama Maus [@MamaMausBlog] (14.7.2019): »Morgens vor 8 Uhr am Sonntag. Elterntwitter ist bereits munter und trifft sich zum gemütlichen Beisammensein. An der Stelle ein großes Dankeschön an unsere Kinder, die uns das so selbstverständlich ermöglichen. 😭«. [Tweet]. https://twitter.com/MamaMausBlog/status/1150275783757377536.

[16] Cheri [@chericherizade] (25.11.2021): »Ich hab das Gefühl das ZDF Magazin Royale klaut mittlerweile Witze bei Commietwitter hier«. [Tweet]. https://twitter.com/chericherizade/status/1463712603914575873. [Tweet inzwischen gelöscht]

[17] Judith Liere [@judithliere] (13.10.2021): »Ich mach jetzt nur noch Schmunzeltwitter, vielleicht fang ich sogar mit diesem K1-Quatsch an; wenn ich mich den ganzen Tag beleidigen und beschimpfen lassen will, kann ich mir auch aufm Spielplatz eine Kippe anzünden.« [Tweet]. https://twitter.com/judithliere/status/1448197930440138755 [Tweet mittlerweile gelöscht].

[18] Eli Pariser: The Filter Bubble. What The Internet Is Hiding From You. London 2011.

[19] Diese Vorstellung von sich online herausbildenden relativ abgeschlossen operierenden Sphären ist mittlerweile so erfolgreich, dass sie beispielsweise von Moritz Baßler mit Bezug auf den von Jochen Venus etablierten Begriff der Stilgemeinschaften auch für das literarische Feld diagnostiziert wird: »Die Mitglieder dieser Stilgemeinschaften dürfen, wie Kunden von Markenware, ihre Normen vom Angebot erwarten, und dieses wird auf ihre Erwartungen zugeschnitten – eine Schließungsfigur, die tendenziell zu voneinander abgegrenzten literarischen Stilgemeinschaften (Sparten, Bubbles) führt. Der Fan hat und ist in dieser Struktur immer schon verstanden.« In: Moritz Baßler: »Verstandenhaben«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51 (2021), 855-860, hier S. 857.

[20] Vgl. auch Chris Bail: Breaking the Social Media Prism: How to Make Our Platforms Less Polarizing. Princeton 2021.

[21] Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz schreiben im Nachwort der von ihnen herausgegebenen Innenwelt des Denkens: »Lotmans Beschreibung der Semiosphäre bleibt gewollt unscharf. Ist sie einerseits der konkrete, auch geographische kulturelle Raum, so ist sie andererseits der mit den Mitteln der Topologie schwerer dingfest zu machende ›gesamte semiotische Raum einer Kultur‹.« In: Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur [1990]. Hg. v. Susi K. Frank u.a. Berlin 2010. S. 381-416, hier S. 391f.

[22] Lotman: Die Innenwelt des Denkens, S. 29.

[23] Ebd., S. 182.

[24] Geoffrey K. Pullum: »Snowclones: Lexicographical Dating To The Second«. In: Languagelog. http://itre.cis.upenn.edu/~myl/languagelog/archives/000350.html, 16.1.2004.

[25] STFU witty [@thewittydoctor] (23.7.2020): »I have a joke on doctor, but aap pehle fees jama karao.« [Tweet] https://twitter.com/thewittydoctor/status/1286176948608106497.

[26] Sopie: »I Have a Joke«. In: knowyourmeme. https://knowyourmeme.com/memes/i-have-a-joke, 2020.

[27] o.V.: »›I have a joke‹: From jobs to people, this latest meme template has witty punchlines for everything«. In: The Indian Express. https://indianexpress.com/article/trending/trending-in-india/i-have-a-joke-on-meme-template-6521871/, 24.7.2020.

[28] Dr Clara Nellist [@claranellist] (24.7.2020): »I have a joke about being a woman in physics, but you probably won’t think it’s funny until my male colleague repeats it 10 minutes later.« https://twitter.com/claranellist/status/1286754424451485697.

[29] Monica Lewinsky (she/her) [@MonicaLewinsky] (25.7.2020): »i have an intern joke and it… nevermind.« [Tweet]. https://twitter.com/MonicaLewinsky/status/1286787059026292736?s=20&t=8NUnOMqrps7sydCHs3sI2w.

[30] Romain [@Apraxique] (24.7.2020): » J’ai une blague sur les neurones mais je ne suis pas sûr de son potentiel d’action.« [Tweet]. https://twitter.com/Apraxique/status/128670100525467648 [Tweet mittlerweile gelöscht].

[31] Elektrifierad köttklump [@adolvsson] (24.7.2020): »Jag har ett skämt men det är ruttet.« [Tweet] https://twitter.com/adolvsson/status/1286710344484888586.

[32] Mark Gallagher [@MarkGallagher71] (25.7.2022): »Ich habe einen Witz, aber ich warte immer noch auf die Übersetzung #IHaveAjoke«. [Tweet]. https://twitter.com/MarkGallagher71/status/1286791626610954241?s=20&t=8NUnOMqrps7sydCHs3sI2w.

[33] Konráð S. Guðjónsson [@konradgudjons] (24.7.2020): »Ég er með hagfræðibrandara sem á hinn bóginn er ekki brandari.« [Tweet]. https://twitter.com/konradgudjons/status/1286715286251593730.

[34] Gunnar Már [@gunnare] (27.7.2020): »Ég er með brandara um twitter en hann er ekkert sérstaklega frumlegur og líklega stolinn«. [Tweet]. https://twitter.com/gunnare/status/1287676255291277312.

[35] Lotman: Die Innenwelt des Denkens, S. 182.

 

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