Das erste halbe Jahr Corona in Deutschland: Januar bis Juli 2020
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 139-171]
Es fing recht beschaulich an. Der zuständige Minister Jens Spahn zeigte sich in einer ganzen Reihe Interviews im Januar und Februar »gelassen und aufmerksam zugleich«, weil »wir gut vorbereitet« seien; der Präsident des Robert Koch-Instituts erklärte vor Fernsehkameras, die »Gefahr für die deutsche Bevölkerung ist sehr gering« (27.1.2020). Auslandsberichte über das Geschehen in China zeigten zwar bedrohlich wirkende Szenen, weltanschaulich wurde aber höchste Ruhe und Sicherheit vermittelt. Die begleitenden Kommentare brachten zum Ausdruck, dass die Maßnahmen der chinesischen Exekutive typisch für einen autoritären Staat und ›bei uns‹ undenkbar seien. Nur einige Wochen später war die weltanschauliche Sicherheit, die den Blick der großen TV-Sender auf Ereignisse im illiberalen Ausland prägt, insofern ad absurdum geführt, als dieselben Anstalten im Einklang mit vielen führenden Politikern ähnliche Maßnahmen für Deutschland vehement einforderten.
Ende Februar, als die Ansteckungswege auch hierzulande nicht mehr vollkommen nachverfolgt werden konnten, nahm die Berichterstattung Fahrt auf. Minister Spahn rief in den Nachrichten die »Virus-Epidemie« für Deutschland aus. Seitdem schienen sich einige der in ihrer Disziplin ›prominenten‹ Virologen nur noch in TV-Studios und Pressekonferenzen aufzuhalten, später kamen wegen der großen Nachfrage einige neue Gesichter hinzu. Viel gab es nicht zu sagen, immer weitere Experten wiesen aufs Händewaschen, richtige Niesen und Abstandhalten hin. Einigkeit herrschte auch bei der für den Laien überraschenden Ablehnung des Gebrauchs von einfachen Schutzmasken. Selbst die sehr positiven Daten aus Südkorea und Taiwan – Länder, die um einiges früher als Deutschland von der Corona-Epidemie betroffen waren – änderten daran nichts, obwohl man ihren niedrigen Fallzahlen leicht ablesen konnte, dass die Nutzung von Schals und Masken zumindest keine negative Wirkung besaß. Später war immerhin unter den deutschen Wissenschaftlern eine Fülle unterschiedlicher Einschätzungen zu verzeichnen, ob das Tragen solcher Masken den Leuten in Büros, beim Einkauf in Supermärkten und in öffentlichen Verkehrsmitteln Schutz vor Infektionen biete.
Es gab zwar kaum verlässliche Erkenntnisse, wie auch von Virologen und Epidemiologen regelmäßig betont wurde, dennoch hielt das selbst die Wissenschaftler sehr oft nicht davon ab, Unzuverlässiges zu verkünden. Selbst wenn sie anfänglich auf die Neuheit und die darum noch bestehende Unberechenbarkeit des Virus und damit der Situation insgesamt hinwiesen, ließen sie sich fast alle im Laufe der Fernsehinterviews zu ungedeckten Behauptungen, Spekulationen und äußerst unsicheren Prognosen verleiten oder waren auch ohne Bemühungen der Moderatoren rasch von sich aus dazu bereit.
Zweifel waren ebenfalls an der ›sehr guten Vorbereitung‹ angebracht, sie stand wegen vieler Meldungen und Berichte aus Krankenhäusern, Arztpraxen und Heimen, in denen sich das Personal über die mangelhafte Ausstattung an Schutzmaterial beklagte, mittlerweile stark in Frage. Auch andere wichtige Ankündigungen überdauerten bloß eine kurze Zeit: Nachdem Spahn – wie viele Virologen in Talkshows auch – noch am 11.3. der Schließung von Schulen eine Absage erteilt hatte, erließen die meisten Bundesländer genau diese Maßnahme am 13.3., wirksam ab dem 16.3. Ein »Beschluss« der Bundesregierung (zusammen mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer am 12.3. vereinbart) sah die Absage von Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern und den »Verzicht auf alle nicht notwendigen Veranstaltungen unter 1.000 Teilnehmern« vor; die Bundeskanzlerin rief im Anschluss dazu auf, »Sozialkontakte« zu vermeiden.
Die Bundesländer, in deren Zuständigkeit es lag, die Übereinkunft als Verordnung auszugestalten, verfügten in den Tagen danach, Freizeit-, Sport- und Unterhaltungsstätten zu schließen, Bars, Theater, Museen, Schwimmbäder, Fitness-Studios, Bordelle, Messen etc. Der Aufenthalt in Einkaufszentren, Hotels und Gaststätten wurde streng reglementiert. Im entsprechenden Erlass des Landes NRW vom 15.3. hieß es weiter: »Alle öffentlichen Veranstaltungen sind zu untersagen. Das schließt grundsätzlich auch Verbote für Versammlungen unter freiem Himmel wie Demonstrationen ein, die nach Durchführung einer individuellen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugelassen werden können.« Ausgenommen davon waren bloß Wochenmärkte. In der bayerischen Verordnung gab es zusätzlich einen Passus, der ahnen ließ, was noch kommen könnte: »In öffentlichen Parks und Grünanlagen werden Schilder oder andere geeignete Hinweise aufgestellt, die die Besucher auf die Notwendigkeit eines Mindestabstands von 1,5 Metern hinweisen.«
Wichtiger als die Schilder waren aber natürlich die Fernsehsendungen, in denen dies verkündet wurde. Im Widerspruch zu ihren eigenen Bestimmungen ließen sich die Minister in diesen Tagen nicht wie üblich zu Interviews in die Nachrichtenjournale schalten, sondern machten sich öfter selbst in die Studios auf, um dort von Angesicht zu Angesicht mit den Moderatoren die Direktiven zu verkünden. Ihre Anwesenheit sollte wahrscheinlich die Dringlichkeit der Aufgabe unterstreichen.
Gleichwohl sorgten die Sender für Präsenz in den Wohnstuben auf ihre eigene Weise: durch eine Fülle an Meldungen, Berichten, Einspielungen und ihren Wiederholungen. Sie wurden nun für ungefähr zwei Monate nicht nur häufiger gesehen als sonst, sondern auch vermehrt auf dem traditionellen Bildschirm. Da es keineswegs nur im Fall der Quarantäne geboten oder angeraten war, im Haus zu bleiben, verloren Smartphone und Tablet vorübergehend an Bedeutung. Aus Angst vor dem Virus verließen nun viele kaum noch ihre eigene Wohnung. Auf Infizierte oder Kranke konnten sie darum nur in digitaler Form treffen. Abstand war so maximal garantiert; das Wort ›Fernsehen‹ bekam dadurch einen medizinischen Klang.
Wegen der enormen Menge an Sendungen war es jedoch nicht möglich, alle Nachrichten und Shows rund um Corona anzuschauen, selbst wenn man permanent vor dem Fernsehapparat saß. Vollständig sind die folgenden Beschreibungen und Anmerkungen darum keineswegs, vielleicht bieten sie nicht einmal einen repräsentativen Überblick, es handelt sich bei ihnen aber durchweg um Notizen vom jeweiligen Sendetag oder vom Tag danach, sie sind also nicht im Lichte späterer Ereignisse und dadurch beeinflusster Erinnerungen verfasst.
Schließungen
Ab dem 15.3. war der fast einhellige Tenor: Sehr scharfe Maßnahmen müssten durchgeführt werden, um die Überlastung der Krankenhäuser und damit den Tod vieler Menschen zu verhindern. Die Aussage lautete also nicht mehr, dass solch ein Kollaps des Gesundheitssystems eintreten könne, sondern dass er ohne weitreichende Freiheitseinschränkungen unvermeidlich bevorstehe. Nur auf die Möglichkeit hinzuweisen, auf eine gewisse Wahrscheinlichkeit angesichts einer neuartigen, unüberschaubaren Lage – solch eine vorsichtigere Aussage hielt man offenkundig für nicht ausreichend, um die propagierten Maßnahmen zu rechtfertigen.
Ganz war der nun vielfach beschworene »Ernst der Lage« aber noch nicht bei allen angekommen. Eine langjährige Talkshow-Moderatorin z.B. zeigte sich in ihrer Sendung (Anne Will, 15.3.) mehrfach sehr amüsiert über den Hinweis eines Gastes (einer Intensiv-Medizinerin), dass man zu nah beieinandersitze und nicht den nötigen Zwei-Meter-Abstand zwischen den Stühlen im Studio einhalte. In den privaten Gesprächen nach der Sendung würde man sicher darauf achten, so die schelmische Antwort; vorher ging natürlich die gewohnte Licht- und Kamera-Ordnung vor. Horst Seehofer wiederum vermeldete am selben Tag in einer von Nachrichtensendern live übertragenen Pressekonferenz die Einführung von Kontrollen an den Grenzen u.a. zu Frankreich, konnte sich aber seines üblichen Stils nicht völlig enthalten; bei der Frage nach der Dauer der Grenzkontrollen schlich sich sein ironisches oder spöttisches Grinsen ein: Man würde erst einmal damit beginnen, aber kein Ende terminieren, weil er ohnehin von Journalisten danach schnell wieder gefragt werden würde.
Pointiert äußerte sich im hessischen Fernsehen auch der dortige Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Die Grünen) zum verhängten Einreisestopp für Nicht-EU-Bürger: Wichtiger wäre es gewesen, die zwei, drei Wochen zuvor zurückgekehrten Après-Ski-Ischgl-Touristen zu kontrollieren. Das Wort »Après-Ski« war an diesem Tag (17.3.) ebenfalls in Talkshows zu hören, was wohl auf entsprechende Presseberichte zurückging. So konnten sich viele ihrer gewohnten ›Zielgruppe‹ zusätzlich mit epidemiologischen Kriterien widmen: die Kleinbürgerverächter nahmen die Karnevalisten ins Visier, Liberale wie Reaktionäre die Chinesen, die Konsumkritiker Touristen und Clubbesucher. Pflichtschuldig wurde aber zumeist kurz danach angefügt, das Virus kenne keine Grenzen. Dass in Deutschland am 7./8.3. noch ein kompletter Bundesliga-Spieltag in vollen Stadien absolviert werden durfte, blieb bei den kritischen Hinweisen auf Skihütten etc. ohne Erwähnung.
Seit dem 16.3. – den Anfang machte Plasberg – war in den Talkrunden auf einmal für hinreichend Abstand zwischen den Eingeladenen gesorgt. Das kommerzielle Fernsehen zog ebenfalls nach: Die beliebten RTL-Casting- und TV-Personal-Wiederverwertungsshows hatten zuvor lediglich ihr Publikum stark verkleinert (Stuhlreihen fast leer), die verbliebenen Akklamateure standen aber sehr eng zusammen. Ab dem 16.3. wurde auch das geändert, es gab gar kein Live-Publikum mehr, alle anderen Anwesenden bemühten sich zumindest um Distanz (wegen Infektionen bei Produktionsmitarbeitern musste ausgerechnet »The Masked Singer« ab dem 29.3. vorübergehend pausieren, ein schlechtes Omen).
Kaum hatten die Moderatoren die Übung selbst gelernt, wendeten sie diese auf entschiedene Weise auf alle anderen an: Am 17.3. wurden auf vielen Sendern den interviewten Politikern Bilder vorgeführt, wie Menschen in der Öffentlichkeit näher als die angesagten 1,5 oder 2 Meter zusammenstanden (in Hamburg: Verkäuferinnen verschenken wegen der bevorstehenden Geschäftsschließung ihre Blumen, Menschenauflauf; in Düsseldorf: ein erster Frühlingstag führt Leute zusammen auf Wiesen und Plastikstühlen; irgendwo in NRW: zwei Kinder und zwei Mütter in der Nähe einer Rutsche). Stets scharf die anschließende Frage an den interviewten Politiker: Muss angesichts solcher Szenen nicht die Ausgangssperre kommen?
Die TV-Sender waren damit auf einem guten Weg, den Nachweis zu erbringen, dass sie zur »kritischen Infrastruktur« gehören, obwohl ihre Mitarbeiter nicht in allen lokalen Erlassen davon ausgenommen wurden, ihre Kinder während der Schulschließungen zu Hause zu beaufsichtigen. Das Angebot der Stadt Essen z.B. richtete sich Mitte März 2020 an »unentbehrliche Schlüsselpersonen«, die in Krankenhäusern, der Lebensmittelversorgung, Justiz, in Tankstellen, bei der Jugendhilfe, Wasserversorgung, Stadtverwaltung etc. arbeiteten, nicht aber an Angestellte aus dem Bereich Printmedien, Online-Dienste und Fernsehsender, obwohl sie z.T. in dieser Stadt in höherer Zahl vorhanden waren. In der Leitlinie des Landes Nordrhein-Westfalen wurden sie aber erwähnt. Auf der Liste »Kritische Infrastrukturen (KRITIS)«, die sich an die »Verordnung zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen nach dem Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI-Gesetz)« anlehnte, fand sich auch der »Sektor Medien«, »insbesondere Nachrichten- und Informationswesen sowie Risiko- und Krisenkommunikation«. Und Verordnungskommunikation: »Jeder Kontakt zwischen Menschen muss unterbleiben«, sagte der Moderator einer WDR-Sondersendung (17.3.), das sei eine Anweisung der Landes- und Bundesregierung.
Kontaktminimum
Am 22.3. kam sie dann tatsächlich, die Verschärfung in Form eines »Kontaktverbots«, wie es oft genannt wurde. In den »erweiterten Leitlinien«, die Bundeskanzlerin Merkel auf einer Pressekonferenz vortrug, nach der sie selbst gleich wegen der kurzzeitigen Nähe zu einem Infizierten in häusliche Isolation ging, lautete die Anordnung präzise: »Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren«; Treffen ohne den vorgeschriebenen 1,5-Meter-Abstand sollten »für mindestens zwei Wochen« nur jeweils zwei Personen gestattet sein (und mehreren, falls sie zusammenwohnten); »Verstöße« würden »bestraft«.
In der entsprechenden »Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2« des Landes Nordrhein-Westfalen vom 22.3. hieß es in § 12: »Zusammenkünfte und Ansammlungen in der Öffentlichkeit von mehr als 2 Personen sind untersagt«. Ausgenommen davon neben öffentlichen Nahkontakten von »Ehegatten« und »Lebenspartnern« (in Bayern nur von »Angehörigen des eigenen Hausstandes«) u.a. »zwingend notwendige Zusammenkünfte aus geschäftlichen, beruflichen und dienstlichen sowie aus prüfungs- und betreuungsrelevanten Gründen«. § 7: Auch viele »Handwerker und Dienstleister können ihrer Tätigkeit mit Vorkehrungen zum Schutz vor Infektionen weiterhin nachgehen«. Läden hatten allerdings zu schließen, wenn es sich nicht um Apotheken, Supermärkte, Kioske, Tankstellen, Getränkemärkte, Reinigungen, Banken, Drogerien handelte. Restaurants, Kneipen, Hotels durften für Kunden ihre Räumlichkeiten nicht öffnen.
Über Industriebetriebe und ähnliche Unternehmen stand in der Verordnung nichts. Selbst wenn ihre Firmengebäude keinen behördlichen Schließungen unterlagen, stand ihr Geschäftsmodell jedoch vorübergehend in Frage. Die anderen Ge- und Verbote trugen bereits oftmals zu erheblichen Umsatzeinbußen bei, sie wurden ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Schäden verordnet. Auch hierin folgte Deutschland mit vielen anderen Staaten prinzipiell (mit graduellen Abweichungen) dem Vorbild Chinas, und das nicht nur, weil die Unterbrechung der Lieferungen aus Asien sowie der rapide sinkende Import anderer Industriestaaten ohnehin zu einer Reduzierung der heimischen Produktion vieler mittelständischer und großer Unternehmen führen musste.
Wie zuvor der neue Motor des kapitalistischen Wachstums, China, erließen die meisten europäischen Staaten Anordnungen, die neben den einzelnen Bürgern in ihren Grundrechten auch die allermeisten Firmen ökonomisch stark einschränkten. Oder etwas anders pointiert: Die Grundrechtseinschränkungen für die einzelnen Bürger zeitigten besonders starke, existenzbedrohende Auswirkungen für Konzerne z.B. in den Bereichen des Einzelhandels, des Tourismus, der Mode sowie für sehr viele kleine Unternehmen und Selbstständige im gastronomischen und kulturellen Sektor. Insofern traf die von europäischen Politikern gern bemühte Kriegs-Rhetorik einen sehr wichtigen Punkt: Abgesehen von Kriegszeiten hatte man solche Herrschaftsausübungen der staatlichen Exekutive innerhalb liberal-kapitalistischer Gesellschaften noch nicht verzeichnen können.
Als Grund für die sehr weitreichenden Beschränkungen von Freiheitsrechten, zu denen in bürgerlichen Gesellschaften das Recht auf Eigentum zentral gehört, wurde die Gefahr für das »Leben« genannt: »Kurz gesagt: So retten wir Leben« (Merkel, 22.3.). Der ARD-Rechtsexperte hielt das unter Verweis auf die »Abwägungs«-Praxis der Karlsruher Verfassungsrichter für grundgesetzkonform. Nicht gestellt wurde die Frage, wieso dann bei ähnlichen Gefährdungen dieses von Exekutive und TV fast ausnahmslos als richtig angesehene Abwägungsergebnis keineswegs zu entsprechenden Konsequenzen geführt hatte. Dazu hätten nicht einmal Feinstaub, Radioaktivität und Antibiotikaresistenz herangezogen werden müssen, sondern die in den Wochen zuvor vielfach angeführte Influenza.
Zu Beginn der Corona-Berichterstattung erging der Verweis auf die Grippe noch mitunter in der Absicht, die geringe Gefahr des neuen Virus anzuzeigen. In der zweiten Phase diente der Vergleich hingegen dazu, wegen der vermuteten höheren Mortalitätsrate bei Covid-19-Fällen die drakonischen Maßnahmen zu rechtfertigen. Zumindest in einer Hinsicht stand die höhere Gefährlichkeit bereits recht sicher fest, wie man den Meldungen aus China und Italien wohl ablesen durfte: Viel mehr behandelnde Ärzte verstarben als bei Grippe-Fällen. Zudem befand sich die Ausbreitung des Virus erst am Anfang, ein Ende kam noch nicht in Sicht, Immunität besaß noch kaum jemand, darum verfügte Corona über ein viel höheres Todes-Potenzial als die saisonale Influenza. Selbst bei einem starken Anstieg der Covid-19-Toten in den nächsten Monaten bliebe aber natürlich die Tatsache bestehen, dass in jüngster Vergangenheit (Herbst/Winter 2017/18), als die Totenzahlen ungewöhnlich hoch lagen, allein in Deutschland 25.100 Menschen an der Grippe gestorben waren (nach Schätzung des Robert Koch-Instituts). Von verstärkten Bemühungen der Gesetzgeber und Behörden zum Schutz alter Menschen und anderer Risikogruppen konnte 2017/18 jedoch nicht ansatzweise die Rede sein. Die Situation in den überfüllten Krankenhäusern bewegte niemanden aus der Exekutive zu besonderen Maßnahmen.
Auch in Fernsehsendungen hatte man vor zwei Jahren über diese schwere Influenza-Saison kaum etwas erfahren (gelegentlich kurze Berichte zeigten Betten auf Fluren und Abstellzimmern in überfüllten Krankenhäusern). Ein bemerkenswerter Gleichklang zwischen politischen und TV-Verantwortlichen: Obwohl die Todeszahlen bei dieser Grippe außergewöhnlich hoch lagen, sah damals niemand Handlungsbedarf. Nicht einmal der rasche, Aktualität und Nachvollziehbarkeit garantierende Verlauf von Ansteckung über Hospitalisierung bis zum Tod konnte daran etwas ändern. Bei Corona reichte nun zusätzlich zum ebenso raschen Krankheitsverlauf die Neuheit des Virus und damit verbundene höhere Gefahr schwerer Krankheitsverläufe aus, um sowohl auf politischer als auch televisionärer Seite für eine beinahe maximale Handlungskonzentration und -konsequenz zu sorgen.
Aus juristischer Sicht dürfte dies aber wahrscheinlich kaum eine auch nur ähnlich radikale Umstellung der Einschätzungen legitimieren. Dort sollte es wohl für die Bewertung der staatlichen Entscheidungen keinen gravierenden Unterschied machen, ob a) der Tod nach vier Wochen oder vier Jahren erfolgt (falls ein direkter Ursache-Wirkung-Zusammenhang existiert) oder b) der Auslöser relativ bekannt oder neu ist. Die getroffene politische »Abwägung« zwischen der Bedeutung verschiedener Grundrechte hätte sich deshalb vor dem Hintergrund früherer Maßnahmen (z.B. zur Influenza- oder Schadstoff-Bekämpfung) der kritischen Nachfrage oder Klage zu stellen, eine Rechtfertigung relativ willkürlicher Maßnahmen geliefert zu haben.
Im Fernsehen erledigte man den Punkt so, dass Moderatoren (z.B. in den »Tagesthemen«) Politikern routiniert die Frage stellten, ob die Eingriffe in Freiheitsrechte nicht zu weit gingen. Da man aber nur Politiker fragte, die diese Maßnahmen verantworteten, war die Antwort wenig überraschend ›nein‹ und das Problem so rasch erledigt. Abweichende Meinungen, kritische Einschätzungen bekamen keinen Raum, nicht einmal Oppositionspolitiker erhielten Sendezeit. Aber wer wollte es den Redaktionen verdenken, wo doch die Parlamente alle Gesetze in Rekordzeit beinahe widerspruchslos und einmütig verabschiedeten? Darum machte es kaum einen Unterschied, dass nun in den Talkshows neben den Vertretern der Exekutive hauptsächlich bekannte Repräsentanten von Berufsgruppen saßen, die in das (Privat-)Leben anderer Menschen eingreifen wollen (Kriminalisten, Therapeuten, Sozialpsychologen, Priester, Print- und Online-Kolumnisten). Die einzigen Differenzen, die größere mediale Aufmerksamkeit erhielten, bestanden zwischen verschiedenen Führungspersonen der Regierungspartei CDU. Unterschiede zwischen liberaleren und autoritäreren Christdemokraten bemaßen sich in Stunden: Wer schlug »Ausgangsbeschränkungen« oder »Kontaktverbote« etwas eher vor?
Die Zustimmung zu ihnen allen fiel sehr hoch aus. Die Spitzen der Exekutive wie Merkel, Spahn und Söder bekamen bei Umfragen »gute Noten«, die CDU konnte ihre Prozentwerte ebenfalls beachtlich steigern. Der Eindruck aktueller, »entschlossener« Machtausübung machte mögliche Bedenken angesichts vorheriger Fehlplanungen und Versäumnisse vergessen oder ließ sie erst gar nicht aufkommen. Noch stärker als beim drohenden Zusammenbruch des Finanzsystems, der »Energiewende« nach Fukushima, der »Eurokrise« und den rapide erhöhten Zahlen Asylsuchender u.a. aus Syrien galten die getroffenen Entscheidungen als alternativlos, also offenbar richtig, ungeachtet der vorherigen mannigfachen Unterlassungen und des vollständigen Mangels einer vorausschauenden Strategie. Die Popularität erreichte kaum überbietbare Höhen: Bei Meinungsumfragen stimmten in der Woche nach dem »Kontaktverbot« nicht weniger als 95 % der Deutschen den Maßnahmen zu, in den Balkengrafiken bildeten die Nein-Sager einen kaum erkennbaren Rest.
Das sichtbare Virus
Bei der Begründung der Maßnahmen setzten Websites der Regierungsstellen und die TV-Redaktionen auf ähnliche Darstellungsformen wie bei der Visualisierung der Meinungsumfragen, statt Balken allerdings auf Kurven. Die bevorzugte Methode in den ersten Wochen war die des grafischen Normalismus: Der Satz ›Das Tempo der Neuansteckungen muss sich rasch verlangsamen, sonst kollabiert die medizinische Versorgung‹ schien nicht eingängig genug zu sein, oft zeigte man hoch abstrakte Bilder mit unterschiedlich steilen Verlaufskurven. Wahrscheinlich sollte das ein höheres Maß an Wissenschaftlichkeit demonstrieren.
Eindrucksvoller waren sicher die TV-Bilder italienischer Militärkonvois, von denen gesagt wurde, dass sie Leichen zum Friedhof transportierten. Spektakuläre Aufnahmen von schwer Erkrankten und andere sensationsheischende Einstellungen sah man insgesamt allerdings selten (nur »Spiegel TV« musste natürlich seinem aufklärerischen Ruf treu bleiben und in einem Bestattungsunternehmen sehr nah an den Sarg vorstoßen). Wahrscheinlich lag die geringe Dramatik aber bloß an den klinischen Bildern aus den Krankenhäusern, die von Apparaten und Masken dominiert waren, hinter denen die Menschen als Individuen unkenntlich blieben; in den anderen Fällen wurden die Gesichter der Erkrankten überblendet, trotzdem erstaunlich, dass Krankenhäuser die Erlaubnis für die rege Berichterstattung gaben und es offenbar rechtlich gestattet ist, Körper, manchmal auch Stimmen, von kranken, teils bewusstlosen Menschen ohne ihr Einverständnis medial auszustellen (und im Falle kommerzieller TV-Anbieter: ökonomisch zu verwerten).
Immerhin konnte durch viele Aufnahmen aus deutschen Krankenhäusern, die relativ leere Gänge und Zimmer zeigten, recht gut dokumentiert werden, dass die Erhöhung der Zahl an Intensiv-Betten in kurzer Zeit sehr gut vorangekommen war. Mit etwas Verzögerung wurde aber medial ebenfalls sichtbar, dass in demselben Zeitraum die Ausstattung der Alten- und Pflegeheime entscheidend gelitten hatte. Gerade zum Schutz der älteren und kranken Menschen ausgerufen, wirkte sich das allgemeine »Kontaktverbot« für sie in kaum einer Weise positiv aus, der gefürchtete Anstieg der Todesrate ging zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Ansteckungen in Heimen zurück. Mit Szenen von Angehörigen, die versuchten, ihre Verwandten von der Straße oder dem Grünstreifen vor dem Heim zu Gesicht zu bekommen und ihnen ein Wort zuzurufen, wurde in TV-Sendungen sichtbar, dass das »Kontaktverbot« auch Eltern und Kinder trennte, sofern erstere sich in staatlichen oder anderen Pflege-Institutionen befanden.
Auf diese Art und Weise konnten Fernsehredaktionen wenigstens einige aus ihrer Sicht angemessene Bilder finden, um Gefahr und Not zu veranschaulichen. Im Gegensatz zu anderen Katastrophen bietet das Virus relativ wenig Schauwert. Die Krankheit verursacht keine äußeren Verletzungen oder beständige Konvulsionen; sie ähnelt in ihren ersten Symptomen und ihrem Verlauf den vollkommen vertrauten Erkältungen oder kommt ihnen mitunter sogar gleich. Im Gegensatz zu vielen anderen Katastrophen erstreckt sich die Pandemie selbst bei exponentiellen Infektionsraten über einen langen Zeitraum und bietet nicht die Attraktion einer plötzlichen Eruption oder Explosion. Wie zum Ausgleich erreicht sie aber potenziell jeden Menschen, dies allerdings nicht in gleicher Form, so viel zumindest war den Statistiken aus China und Italien bereits recht sicher zu entnehmen. Anders als beim nuklearen GAU oder Anschlägen mit biochemischen Substanzen (vor denen nach 9/11 weite Teile der US-amerikanischen Bevölkerung enorme Angst hatten) ist das Risiko zu sterben nach einer Corona-Ansteckung höchst unterschiedlich verteilt: Bei (überwiegend männlichen) Personen über 70 mit starken Vorerkrankungen liegt es am höchsten, bei Kindern und Jugendlichen nahezu bei null, usf. Deshalb kam es nicht zu spektakulären Fluchtbewegungen aus Gebieten, die momentan eine höhere Infektionsgefahr aufwiesen. Nur wenn eine Exekutive eine regionale Absperrung längere Zeit vor ihrem Vollzug ankündigte, stellte sich zumindest in Ansätzen jener Massenexodus ein, der interessante Fernsehbilder liefert.
Die öffentlich-rechtlichen Anstalten reagierten auf das Problem, indem sie verschiedene Angebote machten. Erstens verwiesen sie häufig auf die seltenen Fälle, in denen jüngere Leute starben; diese Sendepraxis unterwarf sich nicht nur der gängigen Anforderung, Ungewöhnliches zu zeigen, sondern diente auch pädagogischen Zwecken und sollte zugleich eine Rechtfertigung für das allgemeine Kontaktverbot bieten (darum wurde mitunter gesagt, diese Fälle seien gar nicht ungewöhnlich). Zweitens verwies man auf die nötige Vorbereitung angesichts kommender Schrecken. Beide Ansätze teilten jedoch das Problem, bloß auf wenige, meistens ausdrucksarme Bilder zurückgreifen zu können; im ersten Fall auf private Porträtfotos, im zweiten auf Bildsequenzen leerer Intensivstationen. 3. Immerhin wurde aber vorher Alltägliches nun schwierig (im Supermarkt Mehl, Nudeln, Dosensuppen und Hygieneartikel einkaufen), manches sogar ungewöhnlich, eventuell gefährlich, mitunter verboten, darum zeigenswert: Jugendliche zusammen auf einer Wiese, Menschen dicht gedrängt in einer Warteschlange, zu viert in einem Auto etc. 4. Der noch größere Teil der Berichterstattung – sofern sie nicht in Nachrichten, Sprechstunden und Talkshows bestand – widmete sich den nicht öffentlichen ›Nebenwirkungen‹ der Infektion. In der ersten Phase zeigte man Leute in häuslicher Isolation, in der zweiten Phase kamen unter wirtschaftlichem Druck stehende Ladenbesitzer hinzu. Beides war schnell erzählt, weil keine Intrigen, Konflikte und andere langwierige Handlungsabläufe geschildert werden konnten oder sollten; auch das Bildangebot unterlag gewissen Einschränkungen (Menschen in vier Wänden vor Couchgarnituren; etwas abwechslungsreicher: Menschen in Läden mit unterschiedlichem Sortiment). Dennoch wurde dieser Beitrag wieder und wieder gesendet, zwar mit immer neuen Protagonisten bzw. Statisten, aber stets denselben Worten. Zusammen mit den Berichten über Leute auf der Straße, an den Flughäfen, im Supermarkt ergab das eine Art Fest der Demokratie oder Alltagskultur: Wahrscheinlich waren in dieser Zeit zehntausende Menschen mit ihrer Problemgeschichte im Fernsehen, die dort sonst allenfalls als Zuschauer bei Fußballspielen oder als Studiopublikum in Stecknadelgröße zu sehen sind. 5. Hinzu traten Berichte über Personal, das unter besonders anstrengenden oder gefährlichen Bedingungen (im Krankenhaus, Pflegeheim, Supermarkt) arbeiten musste und darum lobend herausgestellt wurde. Der Begriff »systemrelevant« galt nun Leuten, die über ein sehr geringes Einkommen verfügten, und nicht mehr – wie in der Finanzkrise – Banken und Versicherungen. Vage antikapitalistische Strömungen zeigten sich auch in Talkshows, wenn große Konzerne wie Adidas dafür angeklagt wurden, ihre rechtlichen Möglichkeiten auf Mietstundungen auszuloten. Nun musste die Moralfassade noch heller glänzen als unter Social-Media-Bedingungen ohnehin schon. Im Gegensatz zu den Stellungnahmen auf vielen Internetseiten verblieben diese kommunitaristischen Anflüge jedoch im TV in engen Grenzen.
Weitgehend ausgespart blieben allgemein Bilder von größeren Arbeitsstätten, es sei denn, sie waren unbevölkert. Die medial durchgeführte Überprüfung von Menschengruppen richtete sich genau wie die behördliche Anordnung nur auf Kontakte in Gaststätten, Freizeitanlagen, Geschäften und Straßen. Die Fernsehsendungen waren selbst ein Beleg dafür, schließlich musste ihre Ausstrahlung durch eine Gruppe von Leuten gesichert werden, die hinter den Studiokulissen und bei den Reportagen zusammenarbeiteten. Schwer vorstellbar, dass sie alle so wenig Kontakt hatten wie jetzt die Moderatoren vor der Kamera, die unablässig auf die Bedeutung des gesetzlichen »Kontaktverbots« hinwiesen.
Das andere mögliche Paradoxon des Fernsehens bestand in den Berichten selbst: Trägt die Fülle an Sondersendungen und Magazinbeiträgen überhaupt dazu bei, dass die Leute sich rational, nicht panisch verhalten? Und wäre es gemessen am erklärten Ziel der Selbstisolation nicht sinnvoller, für viel mehr Zerstreuung und Abwechslung zu sorgen, um die Bevölkerung vor dem Bildschirm zu halten? Zumindest in letzter Hinsicht gaben die TV-Charts eine klare (quantitative) Antwort: Die vielen Sondersendungen und Talkshows der öffentlich-rechtlichen Anbieter besaßen in diesen Wochen ungewöhnlich hohe Einschaltquoten. Besonders in der für die Werbeindustrie wichtigen Gruppe der 14-49-Jährigen lagen sie über vorherigen Ständen, obwohl die Verweildauer bei Netflix und YouTube ebenfalls anstieg. Die jüngeren Zuschauer fanden während der Corona-Zeit in Teilen wieder zurück zum ›alten Fernsehen‹; öffentlich-rechtliche Informationssendungen und Talkshows besaßen bei ihnen offenbar den Status vertrauenswürdiger, zumindest sehenswerter Sendungen.
Problematisch war das für die kommerziellen Anbieter, die nicht über einen Apparat für ausgedehnte Politik- und Regionalberichterstattung verfügen und deren Programmschema auf einen Flow ohne Politik-Unterbrechungen ausgerichtet ist. Angesichts der sehr guten Zahlen der Konkurrenz berücksichtigten sie das Thema in ihren Standard-Sendungen zuerst auf übliche Weise, indem sie aus dem Netz witzige und/oder dumme Posts präsentierten. Auf die dort zahlreich kursierenden Verschwörungstheorien verzichtete man hingegen. Die Promi-Sendungen konnten sich natürlich auf ihre kleinen und großen Stars verlassen, die auch via Instagram etc. ihr Bestes gaben, um mit moralischen Appellen und Krankenstandsmeldungen im Gespräch zu bleiben. Manchmal ließ das vertraute Sendeschema auch eigenständigere Lösungen zu, die nicht von den Wettbewerbern im Netz abhingen: »Goodbye Deutschland« präsentierte die Corona-Sorgen der Auswanderer (Schnitzel-Lokal auf Mallorca in wirtschaftlicher Not), »Wissensmagazine« verfügten über Covid-Annahmen, und »Daily-Talk«-Nachmittagsformate besaßen nun ohnehin ein dankbares Gesprächsthema, mit dem man unbelastet von fixiertem Wissen die Stunden füllen konnte.
Nach zwei Wochen Übergangszeit boten die kommerziellen Fernsehsender neue Lösungen auf, in der Hoffnung auf akzeptable Quoten, aber vielleicht auch, weil die Weiterführung täglicher oder wöchentlicher Soaps wegen Dreh-Unterbrechungen absehbar in Frage stand. Neben einigen anderen »Wohnzimmer-Festivals« und »Comedy-Konferenzen« sehr kostengünstig z.B. die RTL-Sendung »Quarantäne-WG«, in der Produzent und Moderator Günther Jauch seine guten Bekannten Gottschalk und Pocher mit täglichen Gästen zu einer Skype-Konferenz zusammenschaltete und so den halb privaten Smartphone-Austausch zum Programm machte (die Zahlen fielen ernüchternd aus: kam die erste Sendung noch auf 3,2 Millionen Neugierige, erreichte sie am dritten Tag lediglich 1,4 Millionen Zuschauer und wurde prompt abgesetzt). Dem wenig abwechslungsreichen oder spektakulären Angebot an Bildern und Geschichten begegnete man, indem man das ›Beste‹ heraussuchte und in schneller Abfolge montierte (Desinfektionskompanien, Intensivstation, Polizisten mit Gewehren) oder mit anderen Sensationen verband (»Stern TV«: Die Auswirkungen der Corona-Krise auf eine Mutter mit Vierlingen; RTL II: auf eine zehnfache Mutter; »Spiegel TV«: auf eine vierzehnfache Mutter).
Der Erfolg solcher Anstrengungen blieb jedoch überschaubar. Die öffentlich-rechtlichen Magazine und Talkshows konnten in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen sogar die abschließenden Episoden von »Deutschland sucht den Superstar« hinter sich lassen. »Germanyʼs Next Topmodel« blieb allerdings unangefochten. Ob es daran lag, dass die Staffel seltsam aus der Zeit gefallen schien? Da die Ausstrahlung einen Vorlauf von wenigen Monaten aufwies, verfügten die einzelnen Folgen zwar über den Nimbus des Neuen und rückten Woche für Woche an die Tage der internationalen Ausgangsbeschränkungen heran, jeder Hinweis auf das sich ausbreitende Virus unterblieb aber, keine Nachbearbeitung suchte hier für jenes Drama zu sorgen, dass die Teilnehmerinnen offenbar während der Produktionstage nicht verspürten. Radikaler hätte noch »Big Brother« vorgehen können, aber an die von der Außenwelt abgeschnittenen Sozialexperimentatoren erging entgegen den Regeln der TV-Show doch recht schnell die Information der Sendeleitung, dass sich die Welt draußen ihrer eigenen in mehrfacher Hinsicht annähere.
Andere Informationen betrafen die Zuschauer: Quizshows fühlten sich verpflichtet einzublenden, dass die Sendung bereits vor längerer Zeit aufgezeichnet worden sei, um Verwirrung angesichts der kontaktfreudigen Kandidaten zu mildern und Anzeigen alarmierter Bürger wegen Verstößen gegen die neuen Verbotserlasse zu vermeiden. Nicht immer zweifelsfrei geklärt werden konnte durch die Einblendungen jedoch, ob die Aufzeichnungen – eventuell aus den noch weithin unbeschwerten Tagen des Februars – vielleicht »Super-Spreader« hervorgebracht hatten. Schließlich musste sich auch Heidi Klum wegen Erkältungssymptomen im März in die Corona-Abschließung begeben, während sie ungefähr zur selben Zeit auf dem Bildschirm in den vor Wochen abgedrehten Folgen noch von einem Parasiten befallen war, wie sie in geschwächtem Zustand, aber nicht ohne Begeisterung für die interessante Krankheit bei GNTM berichtete. Auf Covid-19 hingegen gab es während der Sendung unverändert nur Hinweise in der Werbepause und durch Inserts, die Pro7 permanent neben sein Logo platzierte. Auch die finanzschwächsten Sender, die weiter ihr Konservenprogramm aus alten Serien und Scripted-Reality-Shows abspielten, blendeten wie die anderen kommerziellen TV-Unternehmen in einer Ecke des Bildschirms ständig die kostenfreie Zeile »#WirBleibenZuhause« ein. So gab es für den Fernsehzuschauer überhaupt kein Entrinnen mehr. Bloß Eurosport spulte kommentarlos etwas längere Zeit vergangene Liveübertragungen ab; am Ende wollte man aber auch nicht abseitsstehen, nun sah man bei Mitschnitten alter Skirennen, Reitturniere etc. permanent den Befehl: »#bleibtzuhause«.
Zwischenbilanz
Die Aufforderung, nicht die Wohnung zu verlassen, konnte man natürlich unter Verdacht stellen, aus dem Eigeninteresse der Sender erwachsen zu sein. Von Betrieben, die auf Laufkundschaft angewiesen waren, hörte man sie jedenfalls seltener. In unzähligen Berichten der ARD-Sender wiesen Klein- und Kleinstunternehmer aus Gastronomie, Kultur- und Freizeitbranche stattdessen auf ihre finanziellen Schwierigkeiten hin und ließen sich bereitwillig filmen, wie sie ihre Anträge auf staatliche Unterstützung und Überbrückungskredite ausfüllten. Keinen Gegenstand der Berichterstattung bildeten hingegen die immensen Geldschöpfungsmaßnahmen und Anleihekaufprogramme der Notenbanken, nicht einmal der EU-Streit über Euro-Bonds (nun auch als »Corona-Bonds« bezeichnet) fand häufiger Erwähnung. Die öffentliche Sorge vor dem Virus überwog die Angst vor dem nächsten Finanz-Crash in der Woche nach dem 22.3. beinahe vollständig.
Wirtschaftsliberale Bedenken kamen ebenfalls kaum zur Sprache. Plädoyers für den Weg, allein die Risikogruppen in Quarantäne zu schicken, die anderen hingegen zur Arbeit, wurden bloß sehr vorsichtig angedeutet: bei Plasberg am 23.3. als Zuschauer-Zuschrift, bei Maischberger am 25.3. durch kurze eingeblendete Zitate; als Gäste waren die Ökonomen und Investmentbanker, von denen die Äußerungen stammten, nicht eingeladen. Erst ab dem Sonntag darauf saßen Wirtschaftsliberale und Oppositionspolitiker in den Talkshows, nachdem die Berichte zeigten, dass die Bevölkerung das »Kontaktverbot« in der Öffentlichkeit fast gänzlich einhielt. Vom 29.3. an war die Diskussion über Zeitpunkt und Ausgestaltung der Verbotsaufhebung im Fernsehen Dauerthema, am 31.3. gab es sogar ausführliche Berichte über den alternativen schwedischen Weg in den ARD-»Tagesthemen« und im ZDF-»Heute Journal«.
Dadurch ergab sich ein bemerkenswertes Bild: Die viel gesehenen deutschen Fernsehprogramme (ARD, ZDF, die Bertelsmann-Anstalten RTL, Vox, RTL II sowie die Sender von ProSiebenSat.1 Media) hielten sich weitgehend oder vollkommen an die von der deutschen Exekutive vorgegebenen Abläufe und ›Nachrichtenwerte‹: In der ersten Phase wichen nicht einmal die Boulevardmagazine von der vorgegebenen Ruhe ab; Gerüchte und Szenarien möglicher Schrecken wurden nicht verbreitet. Grundsätzlich strahlen Pro7 und Sat.1 Unterhaltungsprogramme ohne direkte politische oder ökonomische Akzente aus; und die Bertelsmann-Sender verfügen zwar über einige Formate, die kleinbürgerliche Sorgen oder Fantasien aufrufen, nutzen diese aber nicht, um Ängste vor den Regierenden zu wecken.
In den zwei Wochen vom 14. bis 28.3. diente das Fernsehen fast ausschließlich als Medium der Exekutive. Den Spitzen der Regierung und den von ihnen herangezogenen Experten stellte man viel Sendezeit für ununterbrochene Verlautbarungen zur Verfügung, ließ Kritik an ihren Maßnahmen nicht zu Gehör kommen, überprüfte die getroffenen Maßnahmen durch viele Inspektionsgänge im öffentlichen Raum auf ihre Wirksamkeit hin und forderte stellenweise noch weitergehende Beschlüsse ein (dies vor allem in den öffentlich-rechtlichen Anstalten; die kommerziellen Sender unterschieden sich inhaltlich nicht von ihnen, widmeten dem aber weniger Sendezeit).
Nach der Verabschiedung und erfolgreichen Durchsetzung solcher Anordnungen übernahmen die öffentlich-rechtlichen Sender jedoch auch die Funktion des Parlaments. Ab dem 29.3. präsentierten sie eine ganze Reihe an Meinungen, die von denen der Bundesregierung, der Ministerpräsidenten und ihrer Parteifreunde abwichen. Als es um den Zeitpunkt der Beendigung der Verbote ging, lebten Diskussionen nach zweiwöchiger Pause auf, weil sie wieder medial organisiert wurden. Kritische, überwiegend (wirtschafts-)liberale, selten linkssozialdemokratische, Ansichten äußerten in den Talkshows und Magazinsendungen allerdings kaum Oppositionspolitiker, sondern weit überwiegend einzelne Unternehmensberater, Publizisten, Sozialarbeiter, Virologen und Epidemiologen, die zwar als Fachleute auftraten, aber mehr oder minder als Bürger redeten; im Namen großer Organisationen sprachen sie jedenfalls nicht. Anders lief es in den Nachrichtensendungen ab: Dort dominierte weiterhin die Exekutive, weil größerer Widerspruch in Parlamenten und von Verbänden nicht zu vermelden war.
Todeszahlen
Von denjenigen, die das Ende des »Kontaktverbots« noch nicht auf die Tagesordnung setzen wollten, kam wiederholt der Hinweis, dass die Zahl der stark Erkrankten (höchstwahrscheinlich) bald vehement ansteigen würde. Die vorliegenden Infektionszahlen konnten aber lediglich zeigen, wie viele Fälle bei den begrenzten, nach unterschiedlichen Auswahlkriterien oder -entscheidungen durchgeführten amtlichen Tests herauskamen; die sukzessive Ausweitung der Tests führte zu diesem Zeitpunkt darum wahrscheinlich zu einer Erhöhung der Zahlen; hätte man viele weitere Tests durchgeführt, wäre das Ergebnis fraglos noch höher ausgefallen. Nicht von selbst verstand sich darum, dass die etwas sicherer ermittelte Zahl – die der Covid-19-Toten – nur in gleichem Maße oder sogar weniger hervorgehoben wurde. Bevor sich das »Kontaktverbot« überhaupt hätte auswirken können, unterschied sie sich in Deutschland bereits beträchtlich von der einiger anderer Länder: Am 25.3. waren von 36.508 Infizierten 198 verstorben, am 29.3. von 52.547 389, am 31.3. von 67.366 732, am 2.4. von 79.696 1.017, am 4.4. von 91.714 1.342 (amtliche Angaben des Robert Koch-Instituts), in Spanien hingegen (obwohl die Todesfälle in den Heimen offenbar nicht mitgezählt wurden) am 25.3. von 39.673 2.696, am 29.3. von 72.248 5.690, am 31.3. von 94.417 8189, am 2.4. von 102.136 9053, am 4.4. von 124.736 11.744 (Angaben des European Centre for Disease Prevention and Control).
Diese Diskrepanz wurde implizit mit einem Verzögerungseffekt erklärt (direkt wurden die stark unterschiedlichen Verläufe im deutschen Fernsehen, anders als in den Tageszeitungen, selten angesprochen). Obwohl wegen der im Vergleich zu Spanien, Italien, England etc. geringen Zahl der Toten eine enorme Steigerung hätte einsetzen müssen, um auf deren Niveau zu gelangen, hieß es eindringlich: Deutschland stehe das noch bevor, wenn die ältere Bevölkerung stärker vom Virus betroffen werde. Eine »große Welle« laufe deshalb auf die Intensivstationen zu.
Da die Entscheidung, das öffentliche Leben gravierend einzuschränken, wegen solcher Prognosen getroffen worden war, besaßen die Zahlenangaben nun eine gespenstische Qualität: Die Wiederholung der Schreckensprognosen nahm unvermeidlich den Charakter der Rechtfertigung, nicht nur der Sorge an. Nähme man an, dass die Entscheidung nur sinnvoll gewesen wäre, wenn die Prognosen einträfen, müssten die Prognostiker des Schreckens sogar auf hohe Todeszahlen hoffen, falls sie recht behalten wollten. In demselben Dilemma befanden sich aber auch diejenigen, die mit dem Hinweis auf andere Steigerungsraten für gegenteilige Maßnahmen plädierten. Nicht nur Sozialtherapeuten, sondern auch Ökonomen zeigten sich wiederholt überzeugt davon, dass Fälle häuslicher Gewalt wegen der Ausgangsbeschränkungen stark zunehmen würden. Andererseits verfügten natürlich alle Seiten über die Möglichkeit, in Zukunft zu behaupten, die frühe (oder späte) Einführung oder Beendigung bestimmter Maßnahmen habe dazu geführt, dass keine Überlastung der Krankenhäuser stattgefunden habe, die Zahl von Fällen häuslicher Gewalt nicht stark angestiegen sei, etc.
Immer wieder kurzzeitig durchbrochen wurden die Zahlenspiele von dem Hinweis, dass alle gegenwärtigen Angaben und Daten unzuverlässig seien. Das betraf nicht allein Unterschiede beim Tempo der Vermeldung (die amtlichen bundesweiten Zahlen hingen ungefähr einen Tag hinter der Auswertung lokaler Meldungen durch die Johns Hopkins University zurück) und bei der Zählweise (zwischen vielen Staaten gab es beträchtliche Differenzen, nach welchen Kriterien gezählt wurde). Weil noch keine repräsentative Studie vorlag, stand noch nicht einmal annähernd fest, wie hoch die »Dunkelziffer« bei den Corona-Infizierten (und damit die Sterblichkeitsrate) anzusetzen ist und welche Maßnahme (außer der Isolierung aller Individuen) zur Unterbrechung der Infektionskette in besonderem Maße beiträgt.
Die Meldungen im deutschen Fernsehen konzentrierten sich dennoch auf die Wiedergabe der von Ämtern ermittelten Daten. Nicht angegeben wurde, wie viele Intensiv-Betten belegt und wie viele noch frei waren, obwohl die Kapazitätsreserve doch den entscheidenden, offiziellen Punkt für die durchgeführten Maßnahmen bildete und am sichersten festgestellt werden konnte. Selbst ein ausführlicher Rückblick auf die Entwicklung der Zahlen wurde selten angestellt, zumeist beschränkte man sich auf eine tägliche Angabe der beiden deutschen Fallzahlen, ohne sie in Relation zu denen anderer Länder zu setzen. Gerade in den am meisten gesehenen Nachrichtensendungen blieb es bei der Angabe der vom Robert Koch-Institut angegebenen Höhe der Infizierten- und Todesfälle, manchmal noch gefolgt von einem vagen Hinweis auf die Veränderung gegenüber dem Vortag. Dies geschah offenkundig nicht aus Skepsis gegenüber dem Datenmaterial, denn die am wenigsten zuverlässige Angabe – die der Infizierten – präsentierte man unablässig an erster Stelle.
Die Konzentration auf wenige Zahlen ist wahrscheinlich der generellen Rückhaltung großer Nachrichtensendungen geschuldet, größere Datenmengen anzuzeigen. Wie ungewöhnlich ihre Corona-Angaben bereits ausfielen, lässt sich im Vergleich zu ihrem sonstigen Vorgehen ermessen. Der Tod besitzt bei ihnen erstens Nachrichtenwert, wenn die Toten Prominente sind (früher hauptsächlich aus den Bereichen Politik und Kunst, heutzutage breiter gefächert; im März wurde in der Tagesschau sogar der Tod eines in Deutschland recht unbekannten US-amerikanischen Country-Sängers mit einem ausführlichen Bericht bedacht). Zweitens: Wenn Menschen in größerer Anzahl bei Katastrophen sterben. Nicht einmal aber bei Gewalthandlungen in oder zwischen fremden Staaten, an denen der deutsche Staat größeres Interesse bekundet, erfolgt eine häufige Bekanntgabe der Totenzahl. Viele Sorten von Todesfällen, die regelmäßig erfolgen, sind ganz der täglichen, wöchentlichen oder zumindest monatlichen Aufmerksamkeit entzogen, sie werden allenfalls jährlich vermeldet, um Rückgänge oder Zunahmen zu bilanzieren. Diese Praxis zeigt an, dass man die Tode in Kauf nimmt, obwohl man sie zumindest teilweise mit staatlichen Maßnahmen verringern oder verhindern könnte: ca. 100.000 »vorzeitige« Tode pro Jahr als Folge des Rauchens, über 10.000 wahrscheinlich durch Verkehrsabgase (Berlin, Köln und Stuttgart u.a. darum wohl mit deutlich erhöhter Sterberate).
Gar nicht vermeldet wird die allgemeine Todeszahl, es sei denn, man bilanziert einmal pro Jahr das Bevölkerungswachstum (dann wird sie mit der Zahl der Geburten verrechnet). Diese Zahl klingt darum ungewohnt: 954.874 Tote allein 2018. Jeden Tag könnte demnach angegeben werden, dass einige tausend Menschen gestorben sind (in den Monaten Januar bis März liegt die Zahl am höchsten), gefolgt etwa von einer Vergleichszahl vom gleichen Datum des vorherigen Jahres. Man kann nur spekulieren, warum dies keine Meldung wert ist: Weil es nicht ungewöhnlich ist, dass in einem bevölkerungsreichen Land jeden Tag Tausende sterben? Weil der Tod nicht täglich ins Bewusstsein der Zuschauer gerückt werden soll? Im Ergebnis läuft es darauf hinaus, dass Todeszahlen, die nicht auf Katastrophen zurückgehen, im Fernsehen nur zum Programm gehören, wenn große Organisationen dazu aufrufen, sie in Zukunft zu verringern.
Die Tatsache des unausweichlichen Todes bildet so nicht mehr den elementaren Grund einer Sinnstiftung, die geschichtlich vielfältige Formen ausgeprägt hat: eher individuell (Annahme des natürlichen Schicksals, diesseitige Arbeitsanstrengung oder Persönlichkeitsbildung, Hedonismus, Stoizismus), sozial (Pflege von Traditionen, familiale Reproduktion, Bewahrung der Schöpfung) oder religiös (Sündhaftigkeit menschlichen Tuns, Demut, Mitleid, Erlösung, Paradiesvorstellungen). Im Zuge des medizinischen Fortschritts und des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates tritt an die Stelle des Bewusstseins der Unausweichlichkeit des Todes häufig das Bemühen, ihn so weit es irgend geht hinauszuschieben: nicht nur als Selbstverpflichtung, im Dienst der Gesundheit oder »Fitness« zu leben, sondern als Aufgabe des Gesetzgebers und der Behörden, dies minutiös anzuleiten und zu befördern. Der Tod erscheint deshalb in den Nachrichtensendungen und -magazinen, die überwiegend Meldungen von (oder zu) staatlichen und anderen großen Organisationen ins Programm nehmen, nicht als bedeutende Erfahrung menschlicher Ohnmacht, sondern als Objekt staatlicher Steuerungsmacht.
Im Falle der Corona-Epidemie stand nun diese Macht in Frage, darum wurde sie im Gegenzug in besonders starkem Maße mobilisiert. Folgerichtig kam es zur täglichen Vermeldung amtlich ermittelter Infektions- und Totenzahlen, begleitet von Annahmen über ihre Bedeutung. Die wieder hergestellte, wirksame Macht exekutiver Eingriffe sollte sich daran erweisen, dass die Zahlen prozentual nicht mehr so stark ansteigen wie in den ersten Tagen. Der meistens von Wissenschaftlern, manchmal aber auch von Politikern vorgebrachte Hinweis auf den äußerst unsicheren Status der Statistiken und vor allem der von ihnen abgeleiteten Prognosen trug darum keineswegs dazu bei, weitere spekulative Angaben und mit ihnen verbundene Rechtfertigungen von Entscheidungen oder Forderungen zu ihrer Rücknahme zu unterbinden.
»Lockerungen«
Das große Warten begann. Die Meinungen und Argumente vom 29.3. und der Tage danach wurden wieder und wieder ausgetauscht. Die Einschaltquoten der Informationssendungen und Talkrunden gingen darüber mitunter zurück – eine gewisse Erschöpfung war auch hier festzustellen –, blieben aber oft auf einem relativ hohen Niveau. Die in der Woche vor Ostern neu ins Programm genommenen Sondersendungen der Bertelsmann-Anstalten kamen hingegen viel zu spät, sie erzielten mäßige Einschaltzahlen. »Tagesschau« und »heute« rangierten unverändert an der Spitze der TV-Charts.
Mitunter passierten in der Wartezeit, die sich bis zur nächsten Entscheidung der Bundesregierung erstreckte, eigenartige Dinge: Am 4.4. etwa begann eine Meldung in dem Medium der Exekutive und anderer großer Organisationen, der 20-Uhr-»Tagesschau«, mit »Wissenschaftler fordern…«, darauf wurden zwei Virologen gezeigt, die einfach als Einzelpersonen, ohne Auftrag einer Kommission oder eines Verbands, etwas sagten. Nun wollte selbst die Tagesschau zur Talk-Show werden, das dürfte es in 60 Jahren noch nie gegeben haben.
Nur interessant, aber keineswegs ungewöhnlich war die täglich vorgenommene Informationsauswahl der Redaktionen. Der NRW-Ministerpräsident und Anwärter auf den CDU-Vorsitz, Armin Laschet, sagte in einer längeren Pressekonferenz am 9.4.: Man könne wahrscheinlich nach Ostern Änderungen an den Verordnungen vornehmen, weil »die Deutschen« in »wenigen Wochen gelernt haben, worauf es ankommt, und die Kontaktverbote und die Distanz und den Abstand und die Hygieneregeln einhalten«. »Aktuelle Stunde« (WDR) und »heute« (ZDF) wählten diese Begründung als O-Ton aus, ohne die eigentümliche Vermischung von Lernprozess (Abstand halten) und Einhaltung von strafbewehrten Erlassen (Abstand halten zu allen außer einer anderen Person oder denen aus dem eigenen Haushalt!) weiter zu kommentieren. Nicht gesendet aus der Pressekonferenz wurde z.B. der bemerkenswerte Satz: »Man wusste wenig und hat deshalb die sicherste Methode gewählt, um die Infektionszahl, um die Verbreitung zu verhindern«. Mit »man« meinte Laschet ›wir‹ bzw. die Entscheidungsträger, mit »sicherste Methode« die Verordnungen zur Kontaktminimierung. Das klang nun momentan anders als die vor der Verabschiedung des Erlasses oft vorgetragene Überzeugung, der exponentielle Anstieg der schweren Fälle sei ohne diese Maßnahme unausweichlich.
Dennoch blieb das insgesamt die herrschende Auffassung, nun wurde allerdings häufig anstelle des Exponentiellen die Reproduktionszahl ins Feld geführt: Wichtig sei, dass diese Zahl mindestens bei 1 verbleibe (eine Person steckt eine weitere an), ab 1,1 beginne bereits eine gefährliche Entwicklung. Die »Flatten the Curve«-Losung verschwand darüber weitgehend aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Dass es sich auch bei der Reproduktionszahl um eine Modellierung handelt, die einen Schätzwert hervorbringt, blieb in den allermeisten Fernsehsendungen ohne Erwähnung; ebenfalls, dass bei einer Schätzung die Angabe (oder der Zielwert) 1,0 keinerlei Sicherheit bietet, wenn 1,1 bereits Gefahr bedeuten sollte. Zudem kommt es natürlich darauf an, bei welcher absoluten Zahl an festgestellten Infektionen die Rate besteht; bei 50.000 Neuinfizierten pro Tag über die Strecke einer Woche wäre die Reproduktionszahl 1,0 in Deutschland sicherlich gefährlicher, unter 1.000 hingegen insofern kontrollierbar, als die Gesundheitsämter die Kontaktpersonen finden und unter Quarantäne stellen könnten. Wiederum zeigte sich also, dass die großen TV-Sender nicht in der Lage sind, Daten angemessen zu präsentieren. Nicht nur in dieser Hinsicht trug darum zur vorübergehenden Erleichterung bei, dass die Reproduktionszahl an einem Tag (17.4.) auf 0,7 fiel. Völlig unproblematisch gestaltete sich ohnehin die Wiederholung der Begründung, weshalb eine bestimmte Zahl so wichtig sei: Bei einer höheren Zahl käme es mittelfristig zur Überlastung des Gesundheitssystems.
Wegen der unveränderten Grundaussage kam vor allem Modifikationen der Verbote Aufmerksamkeit zu, z.B. die Öffnungsmöglichkeit für kleinere und mittelgroße Geschäfte ab dem 20.4. (angekündigt am 15.4.). Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich stark auf die Diskussion und Durchführung dieser sog. »Lockerungen« (»Tagesschau«-Schlagzeile etwa: »Lockerungen für Gottesdienste geplant«) und der bald danach eingeführten Verpflichtung, im öffentlichen Personennahverkehr und in Geschäften eine Maske zu tragen. Darüber geriet die Strategie der Exekutive oftmals stark in den Hintergrund. Sicher war zumindest, dass keine »Herdenimmunität« (diese eigenartige Vokabel hatte man inzwischen lernen müssen) angestrebt wurde. Was aber dann? Seit Wochen bewegte sich die Menge der amtlich ermittelten Neuinfektionen trotz der »Kontaktverbote« jeden Tag um die Zahl 2000, Abweichungen nach unten schienen in erster Linie auf Wochenenden und Feiertage zurückzugehen, an denen die Ämter nur teilweise arbeiteten. Eine weitergehende Aufhebung der Beschränkungen war darum ohne starke Änderung der Prioritäten oder der mit ihnen verbundenen Argumente kaum denkbar.
Diese Frage kam jedoch in sehr vielen TV-Sendungen gar nicht mehr oder kaum zur Sprache. Selbst als in einzelnen Talkshows (Illner, Will) von Wissenschaftlern eine Erklärung der Strategie verlangt wurde, hielten die Moderatorinnen es nicht für angebracht, den anwesenden Politikern dies abzuverlangen oder zumindest eine entsprechende Frage zu stellen. Mit staunenswerter Energie ging es Mitte April in fast allen TV-Sendungen nur noch um Detailkritik an einzelnen rasch beschlossenen und mitunter unpräzise mitgeteilten Maßnahmen – als befände man sich schon wieder in einem Zustand, in dem man Gesetze und Verordnungen von langer Hand vorbereiten könnte.
Angestachelt wurde die Kritik vielleicht auch vom Selbstlob vieler Ministerpräsidenten und Minister, die sich nun ständig »Erfolge« bescheinigten. Gegen diese Vermutung spricht allerdings, dass es zu diesen Erfolgsmeldungen keinerlei Nachfragen gab, obwohl überhaupt noch nicht belegt werden konnte, welche der zahlreichen Maßnahmen denn den Übergang von der anfänglichen exponentiellen zur nun eingetretenen linearen Steigerung bewirkt hatten. Lag es (besonders) an dem Verbot großer Veranstaltungen? Und/oder an den Schließungen von Schulen und Gaststätten? An der Abstandsregel? Der erhöhten Hygiene? Den relativ hohen Testzahlen? Den Kontaktverboten? Oder war es schlicht Glück, dass Corona in den Tagen des Karnevals und der Bundesligaspiele noch nicht in vielen Teilen Deutschlands angekommen war? Hing es mit dem frühzeitigen Entschluss vieler Fahrgäste zusammen, nicht mehr Bus und Bahn zu benutzen? Zu alldem lagen keinerlei Erkenntnisse vor, deshalb war es vonseiten der Exekutive zumindest voreilig, von einem »Erfolg« zu sprechen, denn dies wäre nur angemessen, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die rechtlich wie ökonomisch gravierenden Maßnahmen des »Kontaktverbots« und der Geschäftsschließungen entscheidend zu dem Rückgang der prozentualen Steigerung beigetragen hätten. Umgekehrt galt aber selbstverständlich auch, dass bei einer Änderung der Maßnahmen ebenfalls noch kein sicherer Grund vorlag, weshalb die Zahlen sinken sollten.
Alles, was hierzu gesagt werden konnte, musste Spekulation bleiben, was aber fast niemanden daran hinderte, Erfolgsgründe mit großer Überzeugung zu benennen. Ein neuer Zug kam erst wieder ins Geschehen, als Bundeskanzlerin Merkel in einer Regierungserklärung Öffnungsbestrebungen einiger Bundesländer als »zu forsch« bezeichnete. Am selben Tag wurde in Talkshows vermehrt die Möglichkeit einer Strategie des »Austrocknens« ins Spiel gebracht und als Alternative angemahnt. Diese Aufforderung kam allerdings nicht von Oppositionspolitikern; wenn sie – wie jetzt AfD und FDP – überhaupt weitreichendere Kritik äußerten, wies diese genau in die andere Richtung. Trotz der Abneigung gegen die »Lockerungsdiskussionsorgie« (so die kolportierte Einschätzung Merkels aus einer internen Sitzung) blieb die Strategie der Regierung aber weiterhin vage. In ihrer Regierungserklärung am 23.4. nannte Merkel als »zentrales Ziel« die Bewältigung des Virus durch das Gesundheitssystem, als »entscheidende Aufgabe« die Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten und die dadurch erreichte Fähigkeit, »das Virus zu beherrschen«, und als »richtige Richtung« »zum Beispiel die verlangsamte Infektionsgeschwindigkeit«. Genaue Angaben, welche Zahlen zu erreichen seien und wie stark es in die »richtige Richtung« mit welchen Maßnahmen gehen sollte, vermied sie aber. Sie machte lediglich deutlich, dass nach ihrer Einschätzung die Infektionszahlen durch übereilte Beschlüsse der Bundesländer (durch welche genau, sagte sie nicht) rasch wieder steigen könnten.
Am Tag darauf, 24.4., lieferte immerhin das Robert Koch-Institut auf Nachfrage eines Journalisten eine präzise Angabe: Um die Nachverfolgung von Infektionsketten zu gewährleisten, müsste die Fallzahl geschätzt »wenige hundert pro Tag« betragen. Erst danach könne man über eine »weitgehende Lockerung« nachdenken, das Institut warnte darum vor höchst gefährlichen Konsequenzen weiterer Rücknahmen vorheriger Freiheitsbeschränkungen. Manche Virologen und Kommentatoren sahen diese bereits angesichts der jetzigen »Lockerungen« drohend am Horizont.
Dagegen standen nun in TV-Sondersendungen und -Talkshows viele Interviewgäste, die eine Aufrechterhaltung der Beschlüsse von Mitte März vor allem aus ökonomischen Gründen für falsch erachteten, ohne jedoch gleich für eine weitgehende Aufhebung des »Kontaktverbots« zu plädieren. Präsentieren durften diese Position immer wieder neue Unternehmer und vonseiten der Oppositionsparteien sehr häufig der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. Er wurde oft eingeladen, nie aber Repräsentanten der nach Stimmanteilen mehr als doppelt so großen AfD, die ganz ähnliche Einschätzungen vorbrachte; auf einmal war also genau das Gegenteil dessen möglich, was vielen TV-Redakteuren bei den jahrelang forcierten Debatten über die Migrationspolitik offenbar undenkbar schien: der AfD wenig Sendezeit zu verschaffen.
Da sie in zentralen Punkten kaum andere Vorschläge als die Regierung vorbrachten, kamen auch Linke und Grüne nicht häufig zu Wort. Den größten Teil der ›Opposition‹ gegen die Bundesregierung stellten in diesen Tagen CDU-Wirtschaftspolitiker oder Ministerpräsidenten wie Armin Laschet. Die Anhänger weiterer Revisionen der Corona-Erlasse bekamen im Fernsehen nun viele Gelegenheiten zugestanden, um immer wieder an Einzelfällen (größere Läden, Bundesligaspiele, Kitas) den Sinn für Möglichkeiten zu erweitern. Die Voraussage, dass sich die Infektionszahlen ungeachtet der vollzogenen »Lockerungen« weiter reduzieren würden, wagten sie in TV-Sendungen allerdings nicht, obwohl solch eine Prognose angesichts der unklaren Lage ähnlich denkbar war wie ihr Gegenteil.
Wegen der Verschärfung der Gegensätze hing sehr viel von den kommenden Zahlen ab. Stiegen diese zwei, drei Wochen nach dem Beginn der neuen Regeln nicht signifikant an, wären die Gegner der »Lockerungen« diskreditiert oder zumindest vorübergehend ihres entscheidenden Arguments beraubt. Im umgekehrten Fall stünden die Verfechter weiterer Liberalisierungen sicherlich auch unter Druck, sie könnten jedoch unverändert die ökonomischen und damit angeblich verbundenen gesundheitlichen Schäden (Depressionen etc.) herausstreichen und so selbst bei einer Zunahme von Covid-Erkrankungen weiterhin für ihre Vorschläge eintreten. Für die Mahner zeichnete sich eine vergleichbare Möglichkeit nicht ab, die Aufrechterhaltung ihrer Position hing davon ab, dass die Infektion sich wieder stärker ausbreitet. Die Wartezeit ging darum unter größerer Anspannung weiter: Wie entwickeln sich die Fallzahlen, wann gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus?
Bis dahin war medial ›eigentlich‹ nichts mehr zu tun, aber das führt ja auch bei anderen Themen nicht zum Ende der Sendungen: Die Aufgabe und Anstrengung liegt für die engagierten Sprecher darin, durch permanente Wiederholung der Aussagen die eigene Position zu behaupten und in Erinnerung zu halten. Neues ergab sich nur durch die Revision früherer Aussagen: Am 28.4. sagte ein anderes Leitungsmitglied des RKI, bei guter allgemeiner Ausstattung der Gesundheitsämter liege die beherrschbare Zahl ungefähr bei Tausend; in vier Tagen immerhin eine Selbstkorrektur um mindestens 100 %. Am 30.4. erklärte Angela Merkel, die Gesundheitsämter seien nun in der Lage, auch bei 1.500 Fällen die penible Nachverfolgung zu leisten; noch einmal 50 % mehr, das brachte Spielraum und wies auf künftige gesichtswahrende Aushandlungen und Kompromisse. Eigentümlicherweise fanden die beiden Zahlenangaben kaum Beachtung, nur der sehr niedrige Wert (»wenige hundert«) war oft im Fernsehen vermeldet worden.
Am 6.5. trafen sich Regierung und Ministerpräsidenten wieder zur Beratung. Seit der »Lockerung« waren über zwei Wochen vergangen, die Zahlen der gemeldeten Neuinfizierten sogar gefallen, keineswegs angestiegen. Betrugen sie am 29.4. noch 1.478, lagen sie eine Woche später bei 1.284. Da es sich um die Zahlen von einem Mittwoch handelte, waren sie auch nicht durch den Wochenendverzug der Meldeämter verfälscht (als die Politiker tagten, kannten sie erst die Zahlen vom Dienstag, die wie üblich niedriger ausfielen: 947). Kritisch hinzufügen musste man aber nach wie vor, dass die »Dunkelziffer« wahrscheinlich mindestens fünf Mal so hoch lag; eine erste umfangreiche deutsche Studie, die sich auf die Gemeinde Gangelt bezog, hatte sogar die »Dunkelziffer« 10 ermittelt. Zudem wurde die Testkapazität in der fraglichen Woche bloß zu einem Drittel ausgenutzt; bei wesentlich höherer Testdurchführung läge die Fallzahl wahrscheinlich höher. Diese Hinweise blieben aber unberücksichtigt, die einstigen Mahner führten aufseiten der Exekutive keine Argumente mehr gegen weitere, teilweise tiefgreifende Änderungen der bislang rigiden Verordnungen ins Feld. Alle Geschäfte ungeachtet ihrer Größe, Hotels, Gaststätten, Fitnessstudios, Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten, Campingplätze, Sportanlagen, Theater, Massagesalons, Spielhallen etc. durften im Laufe des Monats Mai wieder unter (teils länderspezifischen) Auflagen öffnen, Personen aus zwei Haushalten konnten sich ohne Abstandsgebot treffen. Bei einem erneuten Anstieg der Fälle über eine Kennziffer hinaus (50 auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in kreisfreien Städten oder Landkreisen) sah man lediglich lokale Rücknahmen der Liberalisierungen vor.
Darum stand nun fest: Ökonomische und soziale Bedenken überwogen die medizinischen. Die mögliche Strategie massiverer »Eindämmung« war definitiv verworfen. Dank des neuen Beschlusses wurde auch die Bundestagsopposition wieder in ihrer Breite kenntlich: AfD und FDP plädierten für noch weitergehende »Lockerungen«, Grüne und Linke für ein langsameres Vorgehen. Am Tag des Beschlusses und in der Woche danach kamen sie alle (mit erneuter Ausnahme des FDP-Chefs Lindner) jedoch im Fernsehen kaum vor. Als Gegner des Beschlusses wurden überwiegend Einzelpersonen eingeladen (der in diesen Tagen allgegenwärtige Karl Lauterbach sprach nie für seine Partei, die SPD, sondern als Epidemiologe und Inhaber einer »Harvard-Gastprofessur«, wie er nicht müde wurde zu erwähnen). Sie verlängerten ihr Argument weiter in die Zukunft: Mit dem neuen Beschluss würden die Infektionen bedrohlich zunehmen, prognostizierten sie erneut voller Überzeugung. Vielleicht lag es an dieser Wiederholung der Meinungen, dass die Einschaltquoten für Sondersendungen und Talkshows teilweise zurückgingen. Oder war für viele Fernsehzuschauer mit der weiterreichenden »Lockerung« das Ende von Corona – und damit der sorgenvollen oder wegen des Kontaktverbots erzwungenen Notwendigkeit, Informationssendungen anzuschauen – mehr oder minder symbolisch eingeläutet?
Schluss
In einer wichtigen Hinsicht trug das Fernsehen die ganze Zeit dazu bei, die Corona-Gefahr leichter zu nehmen oder ganz zu vergessen. Alle Nachrichten- und Informationssendungen fanden völlig unverändert statt, keine Bildstörungen, keine Ausfälle bei Moderatoren, keine Verringerung der Reportagen. Man bekam jeden Tag vorgeführt: Corona besitzt keine Auswirkung auf das Programm. Zu Beginn griff wenigstens RTL häufig auf Smartphone-Aufnahmen von Laien zurück, aber das hielt nicht lange an (diese Bilder sehen im TV-Kontext ziemlich schäbig aus). Änderungen der Darstellungsweisen und Formate waren auch bei Serien und Filmen nicht zu verzeichnen; Corona-Fiktion als ein Spiel mit Abständen zwischen Figuren, mit Konflikten, die aus der Angst vor unsichtbaren Bedrohungen erwachsen, gab es (noch) nicht zu sehen.
Auch andere Dramatisierungen blieben aus. Leute, die in den Maßnahmen der Exekutive eine »Hygiene-Diktatur« sahen, wurden nicht zu Interviews eingeladen, sondern waren bloß Gegenstand kritischer, freilich sehr ausführlicher Berichterstattung, die sich auf die besonders verwirrten »Corona-Leugner« und auf faschistische »Verschwörungstheoretiker« konzentrierte. Gelten lassen wollte man nur »besorgte Bürger« mit ihren angeblich »verständlichen Ängsten«. Dass es auch rational argumentierende Kritiker gab, wurde auf diesem Wege ausgeblendet. Selbst die vielen aus Sicht der Redakteure und Kommentatoren sicherlich respektablen Juristen, die in zahlreichen schriftlichen Beiträgen verfassungsrechtliche Bedenken äußerten, bekamen keine größere Redezeit zugebilligt und schafften es nicht in die Talkshows (lediglich vormalige Vertreter der Exekutive wie Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger durften an vergangene Zeiten der FDP erinnern).
Erst recht kein Wort über die Verwerfungen am Anleihemarkt, die nur durch erneute enorme Geldzufuhr und Stützkäufe der Federal Reserve und der Europäischen Zentralbank beendet werden konnten, mit schwer vorauszusagenden Folgen für Zinsraten, Schuldentilgung und Marktentwicklung in künftigen Jahren. Kein Raum zudem für alarmierende Zukunftspanoramen, in denen z.B. der Euro nicht zu halten ist und die EU auseinanderbricht. Niemand sollte Popularität dadurch erlangen, dass er in großen Sendern genüsslich oder besorgt Schreckensszenarien ausmalen kann, nach denen größere Teile der Weltbevölkerung Hunger leiden, Staaten nach Aufständen verarmter Schichten im Chaos versinken oder protektionistische Regierungen Lieferketten nachhaltig unterbrechen werden. Nicht einmal vernehmbare Kritik an den Maßnahmen der Notenbanken, durch die vermögende Aktien- und Anleihebesitzer im Gegensatz zum großen Rest der Bevölkerung mittelfristig ihren Reichtum gut erhalten oder sogar steigern konnten. Sogar die bereits aktuell ungemein wichtige, zentrale Frage, was der neu akzentuierte Höchstwert des »Lebens« bedeutet, geriet nicht in die Aufmerksamkeit der Fernsehanstalten. Welche Folgen besitzt diese so eindrucks- und machtvoll etablierte Wertsetzung über gegenwärtige Konsequenzen hinaus für künftige Politik und Rechtsprechung? Das Ende von Pestiziden, SUVs, Tabaksteuer oder Waffenexporten? Maskenpflicht in der nächsten Grippe-Saison? Eine permanente Stärkung der Exekutive mitsamt Einengung der Freiheitsrechte im Namen der Risikominimierung? Alles offenbar keine intensive Erörterung wert. Kurz gesagt: In den viel gesehenen öffentlich-rechtlichen und kommerziellen TV-Sendern ging es durchweg sehr moderat zu.
Nicht moderat fiel allerdings die Themengestaltung aus. Die Corona-Beiträge nahmen einen enormen Raum ein, was zur hundert- oder tausendfachen Wiederholung der Fragen und Ansichten sowie zu noch häufigeren Minivarianten der Bildmuster und Berichtstypen führte. Als Rechtfertigung diente der Hinweis auf die drohende Gefahr: Die unkontrollierbare Steigerung der Infektions-, Krankheits-, Hospitalisierungs- und Todesfälle stellte das einzige televisionär geschilderte, oftmals gesendete Schreckensszenario dar. Zwar waren während der Pandemie im Fernsehen vermehrt Einschätzungen zu hören, die Gefahr sei nicht mehr so groß, die Frequenz und Eindringlichkeit der beängstigenden Prognosen blieb dennoch auf einem hohen Niveau. Jede Zurücknahme der Grundrechtseinschränkungen zog eine erneute Reihe an Mahnungen nach sich, die vor einer deutlichen Zunahme der Ansteckungs- und Todeszahlen warnten.
Dadurch lag sehr viel Gewicht auf den gemeldeten (wahrscheinlich stark unvollständigen) Zahlen. Alle politischen Akteure mussten sich in ihrem Licht bewähren, die Richtigkeit der getroffenen Maßnahmen sowie die Angemessenheit konträrer Forderungen hing von ihnen ab, nicht bloß die Zuverlässigkeit der Prognosen. Das ist zwar in politischen Debatten prinzipiell nichts Neues, im Unterschied zu üblichen Auseinandersetzungen lagen aber die Angaben der Gesundheitsämter nicht nur in hoher Aufschlüsselung für alle deutschen Regionen präzise und schnell vor, sondern erfuhren auch höchste Beachtung.
Es gibt noch einen weiteren Unterschied: Zum Standard in TV-Nachrichtensendungen, -Features und -Talkshows gehört es zwar, Vorschläge oder Entscheidungen mit Prognosen zu begründen: X träte ein, wenn Y getan oder unterlassen würde. Meist handelt es sich jedoch um Ereignisse, die in fernerer Zukunft liegen, darum spielt es oftmals gar keine Rolle, ob sich die Behauptung als richtig oder falsch erweist, selbst wenn sie in der Gegenwart eine große Bedeutung dafür besitzt, was ökonomisch und politisch unternommen wird. Trifft die Prognose, wegen der eine Entscheidung gefällt wurde, nicht zu, ist sie häufig bereits vergessen.
Stark begünstigt wird so etwas, wenn die Meinungen von Regierung, Teilen der Opposition und der Fernsehredaktionen zuvor übereinstimmten, dann bleibt anschließend die Kraft, Fehler aufzuarbeiten, zu benennen und Konsequenzen einzufordern, im Regelfall schwach ausgeprägt – und es wird begünstigt dadurch, dass vor allem ein Nicht-Ereignis wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn nicht vorher breite Teile der Bevölkerung in Erwartung des vorhergesagten Ereignisses spürbare, für sie negative Maßnahmen ergriffen haben oder ihnen unterlagen.
Im Corona-Fall traf dies jedoch nicht zu, an den auf Prognosen gestützten Verordnungen oder Unterlassungsbegründungen hing für die meisten Menschen sogar sehr viel. Darum stieg die Wahrscheinlichkeit, dass richtige wie falsche Prognosen für weitere Entscheidungen, aber auch für das Ansehen der Prognostiker größere Folgen besitzen könnten. Die Zahlen – und auch Änderungen bei Messweisen und vor allem bei Einführung neuer als wichtig oder entscheidend ausgegebener Parameter – blieben folgerichtig zunächst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Bereits kleine Abweichungen gegenüber den Werten vom Vortag oder der Vorwoche reichten aus, um die Bedeutung vergangener Prognosen, ihre Richtigkeit oder Falschheit zu betonen oder um neue Vorhersagen zu treffen.
Ab Mitte Mai siegte jedoch auch hier teilweise das Gesetz der Neuheit und Abwechslung. Trotz mannigfacher teilweiser Revisionen der Grundrechtseinschränkungen blieben die ermittelten Infektionszahlen auf einem niedrigen Niveau. Angst konnte sich darüber nicht mehr einstellen. Auf einmal waren die Zahlen sogar aus der am meisten gesehenen Sendung, der 20-Uhr-»Tagesschau« verschwunden, obwohl sie natürlich vom Robert Koch-Institut weiterhin täglich angegeben und von Gesundheitsämtern und Politikern genau studiert wurden. Gemeldet würden sie höchstwahrscheinlich erst wieder von allen Nachrichtenformaten, wenn sie deutlich anstiegen.
Für den Fall, dass dies auch im Sommer nicht geschähe, sorgten die virologischen Gegner der »Lockerungen« bereits im Mai vor, indem sie die »zweite Welle« für den noch fernen Herbst ankündigten. Die Ministerpräsidenten und Bundesminister immunisierten sich auf andere Weise: Mit dem Spruch ›Hinterher wisse man ja immer alles besser‹ – eine radikale Verneinung des Prinzips politischer Verantwortung – wollten sie jegliche Kritik ihnen gegenüber abwehren. Die Befürworter stärkerer »Lockerungen« wiederum sicherten sich gegen Vorwürfe ab, die sie nach erneuten exponentiellen Steigerungen der Infektionszahlen zweifellos vermehrt treffen würden, indem sie beharrlich andere Schäden in die Waagschale warfen und dabei ihrerseits weitere hoch spekulative Prognosen anführten (einige zusätzliche Wochen ohne Schulunterricht seien der Zukunft der Kinder in starkem Maße abträglich; andere, unbehandelte Krankheiten führten zu sehr vielen gravierenden weiteren Krankheiten; usf.). So konnte es nun (lange) weitergehen.
Zur fortwährenden Wiederholung trug auch bei, dass verlässliche Studien zu den Wirkungen aller Maßnahmen immer noch nicht vorlagen. Die Bedeutung z.B. von Aerosolen für die Infektion war im Juli noch hoch umstritten und führte zu einer kontroversen Debatte zwischen der WHO und einer größeren Gruppe von Wissenschaftlern. Empirische Daten zur oftmals behaupteten hohen Notwendigkeit, »Hygieneregeln« ständig einzuhalten, lagen anscheinend ebenfalls nicht vor, im Fernsehen konnte man zumindest über Untersuchungen, die einen größeren Anteil an Schmierinfektionen für die Ausbreitung des Virus belegt hätten, nichts erfahren.
Dennoch ging die Zeit allgemeiner Diskussion und Interpretation, während der sogar jüngere Publikumsschichten wieder den Weg zum linearen TV-Informationsprogramm gefunden hatten, langsam zu Ende. Die Unsicherheit, die wegen der fehlenden Kenntnisse über die genauen Verbreitungsverläufe des Virus nach wie vor gegeben war, trug nicht mehr zu ständigen sehr hohen Einschaltquoten bei, weil die Angst angesichts der verringerten Fallzahlen, die auch im Juni und in den ersten drei Juliwochen in Deutschland niedrig blieben, abgenommen hatte. Auch erste Bilanzen der Todesfälle boten keinen unmittelbaren Anhalt für Schrecken über das gewohnte Maß hinaus; in NRW, dem größten deutschen Bundesland (fast 18 Millionen Einwohner) lag die »vorläufige Zahl« der Verstorbenen im ersten Halbjahr 2020 laut Statistischem Landesamt bei ca. 105.000, eine Veränderung zum Vorjahr (105.384) ließ sich daran nicht erkennen.
Angaben wiederum, die vorherige Argumente der »Kontaktverbot«-Gegner stützen könnten, gab es ebenfalls nicht zu vermelden, im Gegenteil, in NRW z.B. war die Zahl der Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt im ersten Halbjahr 2020 um 21 % von 13.230 auf 10.479 gesunken, soviel stand im Juli (erneut nach Auswertung »vorläufiger Zahlen«) bereits fest. Auch solche Statistiken stießen aber jetzt nicht mehr auf Resonanz, die Tage der großen Aufmerksamkeit und damit der intensiven Einordnungsversuche solcher Zahlen sowie weiterer Spekulationen waren (vorerst) vorbei – und damit auch die Hochzeit des Fernsehens.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, flankiert von den größeren kommerziellen Sendern, konnte während dieser Hochzeit von Anfang März bis Mitte Mai zwar nicht für größere Aufklärung sorgen, jedoch für einen kontinuierlichen, die Zeit füllenden Strom an unentwegten Bemühungen, die karge Erkenntnis zu umgehen, dass man in vielerlei Hinsicht wenig oder nichts wusste. Das gab auch allen politischen Entscheidungen den Anschein, es handle sich um genau begründete Anordnungen, die etwas anderes als eine sehr große Vorsichtsmaßnahme angesichts einer unklaren, bedrohlichen Lage darstellten. Wollte man den vielleicht letzten Höhepunkt des linearen Fernsehens auf eine kurze Formel bringen, könnte man darum auf eine besondere Balance verweisen, die durch das Corona-TV-Programm zustande kam: auf das Gleichgewicht zwischen der Angst, die durch die permanente Verkündung von Fallzahlen, durch ›exponentielle‹ Prognosen sowie Berichte aus besonders betroffenen Ländern erzeugt wurde, und ihrer Besänftigung, die durch unablässiges Reden erreicht werden sollte.
Nach der ersten Gewöhnung an die für die meisten nur über das Fernsehen und andere Medien fassbare Pandemie fiel eine Rückkehr zu diesem Zustand offenbar schwer. Die sehr hohen Juli-Fallzahlen in den USA nutzten die Sender z.B. nicht für lange Berichte aus Krankenhäusern in Los Angeles, Miami etc., obwohl damit eindrückliche Beweise vorlagen, was geschieht, wenn man grundlegende Vorsichtsmaßnahmen missachtet. Der warnende Tenor ließ deutlich nach. Erst ab dem 24. Juli meldete die »Tagesschau« wieder die amtlich festgestellte Zahl der Neuinfektionen, als sie relativ stark (von niedrigem Niveau aus) anstiegen und nicht bloß auf vereinzelte lokale »Ausbrüche« zurückgingen.
Das Robert Koch-Institut rief die Bevölkerung am selben Tag auf, sich »weiterhin« zu engagieren. Der Rat konnte sehr einfach ausfallen, neben der Einhaltung der »Abstands- und Hygieneregeln« verlangte das Institut, »Innenräume« zu lüften und, »wo geboten, eine Mund-Nasen-Bedeckung korrekt« zu tragen. Im Unterschied zu den ersten Wochen und Monaten der Pandemie gehörte die Benutzung der Maske nun zu den dringenden Empfehlungen oder Anordnungen.
Es war äußerst simpel, ebenso rasch gesagt wie gemerkt: Abstand halten, in geschlossenen Räumen noch stärker als im Freien. Darum konnte sich die Aufmerksamkeit fast vollständig auf die neuen Beschlüsse der Exekutive richten, die über viel mehr Möglichkeiten zur Änderung und Variation verfügte. Frankreich z.B. ordnete eine Testpflicht für Reisende an, die aus Ländern wie USA, Brasilien, Serbien, Algerien kamen und sich dort in den Tagen vor ihrer Rückreise nicht hatten untersuchen lassen. In Deutschland stellte Gesundheitsminister Spahn eine vergleichbare Maßnahme am 25.7. zur Debatte; er wolle das rechtlich prüfen lassen, immerhin handle es sich um einen »Eingriff in die Freiheit«; er setze zuerst auf das »eigenverantwortliche« Handeln der Reisenden.
Im Fernsehen konnte das allerdings nicht wie in den Monaten zuvor ausgiebig diskutiert werden. Genau jene Urlaubszeit und -stimmung, die nun vielleicht mit zu den leicht steigenden Fallzahlen beitrug, prägte ebenfalls das Programm. Neben vielen Politikern befanden sich auch Redaktionen und Moderatoren in den Ferien, Talkshows und Sondersendungen machten Pause, von einem »Ausnahmezustand« konnte hier keine Rede mehr sein. Auch ohne TV-Verstärkung kam die Prüfung aber rasch zu ihrem Ziel. Bereits am 27.7. ordnete Spahn auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes an, dass Rückkehrer aus »Risikogebieten« sich ab der ersten Augustwoche testen lassen müssten. Ab dem 30.7. gab es in der ARD dann wieder kurzfristig ins Programm genommene »Extra«-Sendungen zur Corona-Lage. So konnte es nun bis zur Durchführung von Impfungen oder bis zur Erlangung der »Herdenimmunität« noch lange weitergehen.