Wasserglaslesung, Lecture Performance, Artist-Talk, Poetry Slam
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 95-98]
Ob Wasserglaslesung, Lecture Performance, Artist-Talk oder die seit Jahren sehr populären Poetry Slams – das deutschsprachige Feuilleton interessiert sich traditionsgemäß äußerst selten für Autor*innen, die ihre Texte vorlesen; kaum eine Rezension wirft einen Blick auf den performativen Aspekt der Autorenlesung als zusätzlich sinnstiftende Erweiterung des textuellen Zeichens. Als kürzlich Carolin Emckes »Ja heißt ja und …« erschien und durch die Theater des Landes tourte, wurde sie von den Feuilletons konsequent ignoriert. Dabei zielten ihre versammelten Erinnerungs-Miniaturen regelrecht auf eine Leseperformance ab und Emcke wusste die bedrückende, schmerzende und dennoch befruchtende Stille, die Wut und den Humor, die sie auf die Bühne brachte, gekonnt zu inszenieren. Die Bedeutung der Leiblichkeit der Autorin zu beschreiben, die Konfrontation dieser sehr ereignisorientierten Erzählung (es geht um #MeToo-Situationen und solche, die es vielleicht gewesen sind) in ihrer eigenen, vorgetragenen Ereignishaftigkeit zu erfassen, auch die gestischen, lautlichen und physischen Momente des Vortrags mit den semantischen und formalen Aspekten des geschriebenen Wortes zu verbinden: all das wäre eine erstrebenswerte Herausforderung für die feuilletonistische Literaturkritik gewesen. Stattdessen hielt sie sich themenorientiert zurück und hob die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen des Textes hervor.
Interessant ist, dass der mediale Resonanzraum hier andere Wege einschlägt als der Literaturbetrieb. Anders gesagt: die Feuilletonrealität spiegelt nicht die Betriebsrealität. Denn Lesungen verzeichnen mitunter recht beachtliche Publikumszahlen. In Frankfurt füllen internationale Autor*innen wie kürzlich Siri Hustvedt oder T.C. Boyle ganze Schauspielhäuser und locken für ihre Lesungen ohne Probleme weit mehr als 600 Zuschauer*innen. Literaturfestivals expandieren und sind schon lange im Vorfeld ausverkauft. Kürzlich hörte ich jemanden gar von der »lit.COLOGNEisierung des Literaturbetriebs« sprechen.
Ausnahmen vom absoluten Textprimat des Feuilletons gibt es, lässt man den Klagenfurter Wettbewerb und überregional wahrgenommene Literaturfestivals einmal beiseite, nur eine historische. Marcel Reich-Ranicki begann seine Karriere einst als Hauskritiker der Gruppe 47. Auch andere Literaturkritiker taten sich bei den ritualisierten Gruppentreffen hervor, wurden durch die Vernetzung über kurz oder lang von den Rändern des bundesdeutschen Literaturbetriebs in sein Zentrum gespült. In einem Interview beschrieb Reich-Ranicki einmal die Situation für die Kritiker während der Treffen augenzwinkernd als »äußerst problematisch«. Sie waren dazu angehalten, sich direkt nach den Lesungen kritisch über das Vorgetragene zu äußern, konnten jedoch auf keinen Text zurückgreifen, um ihre Gedanken zu begründen. Das spontan zu fällende Urteil wurde vom Gastgeber Hans Werner Richter der Legende nach rapide unterbrochen, wenn sich die Kritiker Abschweifungen erlaubten oder Ausflüge ins Allgemeine unternahmen. Text und Lesung, Autor und Wort, Inhalt und Physis des Erzählers galten hier als Einheit, was mitunter, denken wir an Paul Celans Abstrafung durch die Gruppe, zu abwegigen Urteilen verleitete.
Dass Lesungen und Autorengesprächen seitdem so wenig (positive) Aufmerksamkeit in den Feuilletons zukommt, hat natürlich auch mit einer noch immer zeitgenössischen Theorie der Literatur und der Tendenz zu einem bestimmten Autorschaftsmodell zu tun. Seit dem ›Tod des Autors‹ im theoretischen Sinne, der von der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren diagnostiziert wurde, gibt es eine angebrachte Vorsicht gegenüber reduktiven Biografismen. Doch wer hier stehen bleibt, verkennt das Potential, das die Thematisierung von Inszenierungsstrategien, von ›verkörpertem Text‹, von der performativen Erweiterung des geschriebenen Wortes durch die leibliche Präsenz der Autorin haben kann. Bei all dem geht es eben nicht um biografische oder im engeren Sinne ›persönlich-intentionale‹ Aspekte des Autorencharakters. Nein, bei dem Versuch, zu beschreiben, was gehört und gesehen wird, geht es um die Erweiterung des literarischen Spiels durch Dimensionen des Lautlichen, Gestischen, Dialogischen.
Ein weiterer bedeutender und doch zumeist unbeachteter Faktor einer Autorenlesung ist der Moderator oder die Moderatorin. Es ist häufig zu erleben, dass die Spannung zwischen Literaturproduktion und -rezeption, die auf Lesungen ganz unvermittelt auftritt, durch einen besonders forschen Moderator*innenauftritt eingeholt werden soll. Mit streberhafter Bemühtheit wird dann eine all-inclusive-Interpretation des Werks vorgelegt. Autor*innen, die nicht übersteigert narzisstisch sind, haben einen interessanten Umgang damit gefunden: Sie lassen sich von der Moderation ihr Buch erklären, gespreizte Deutungsattacken schmunzelnd über sich ergehen, winden sich nicht und wehren doch jeden Versuch ab, den eigenen Text eindeutig aufzuschlüsseln.
Literarische Erkenntnis durch eine freundliche, aber bestimmte Abwehr: Das ist der Modus, der dem Charakter bestimmter zeitgenössischer Lesungen am ehesten entspricht; auch weil heute keiner mehr den genialischen oder auratischen, letztlich autoritativen Künstlertypus mit großbürgerlichem Habitus à la Grass oder Handke erwartet. Zeitgemäßer scheint die schreibende Vielfachmutter mit Rollenkonflikt, der prekäre Migrant mit quasi kosmopolitischer Mehrsprachigkeit oder die trotzige Punkliteratin, verloren an die Unverkäuflichkeit der Lyrik.
Wenn Ann Cotten im Hessischen Literaturforum im Mousonturm in Frankfurt aus ihrem Science-Fiction-Roman »Lyophilia« – ein Neologismus aus dem lateinischen Wort für Gefriertrocknung – liest, führt dieses Ereignis das große Potential heutiger Literaturlesungen mit ihrem Dilemma zusammen. Das Potential? Ann Cotten liest und spricht über ihren Text so, dass das geschriebene Wort in Bewegung kommt, sich öffnet, vielleicht hierarchiefreier wird. Sie hat den besagten Typus zeitgenössischer Autorenpräsenz perfekt inkorporiert: Sie beherrscht scheinbar mühelos dieses fast kindliche Staunen über die vorwärtspreschenden Interpretationsansätze ihres Moderators. Mit einem ermutigenden Blick, einem etwas spöttischen Lächeln und dem für sie so charakteristischen asymmetrischen Haarschnitt, der bei nur wenigen so wie bei ihr nach Häuserkampf und bei den meisten nach Reformhaus aussieht, hört sie dabei zu, wie der Gastgeber und Podiumspartner ihr Werk mit psychoanalytischen und auch hegelianischen Handschuhen knacken will. Sie nickt, unterbricht ihn nicht, nur um dann, wenn seine Ausführungen beendet sind, doch alles ganz anders und vor allem viel besser zu sagen. Ann Cotten ist eine Autorin, die über Literatur reden kann, vielleicht weil sie selbst eine literaturwissenschaftliche Grundausbildung erhalten hat, oder weil die Aufführungspraxis der Poetry Slams, bei denen sie ihre ersten Erfahrungen als Dichterin sammelte, ein besonderes Bewusstsein für die Bedeutung von Performance geschaffen hat.
Das Dilemma? Literaturlesungen ›komplexerer‹ Texte sind schlecht besucht, die meisten jedenfalls. Dabei kann man Ann Cotten, die als extrem erfolgreiche, vielerorten als »Wunderkind« gefeierte Autorin gilt, nicht gerade als Vertreterin einer literarischen Off-Kultur bezeichnen. Doch genügt vielleicht schon das Label ›Lyrik‹ oder ›lyrische Prosa‹, um eine Autorin in die Avantgarde-Hochkultur-Nische zu verbannen.
15 Personen und ein Hund sind gekommen, um der Lesung im Literaturforum an diesem Abend beizuwohnen. Später erfahre ich, dass der Hund traditionell zu jeder Lesung im Forum geht, dass er seine eigene Trinkschale im Haus besitzt, immer ehrfürchtig zu Füßen der Lesenden liegt und ihm ein Instagram-Hashtag #emmaderlektorenhund« gewidmet worden ist. Der Moderator rechtfertigt die schlechte Besuchersituation mit dem sehr guten Wetter, und ich erinnere mich, die Erklärung im exakten Wortlaut so auch im letzten Jahr von ihm gehört zu haben. Hier ist sie wieder zu spüren, die seltsame Beklommenheit und der gefühlte oder auch objektive Rechtfertigungsdruck der Nischen-Spielstätten in Frankfurt.
Dabei ist das Literaturforum mit seiner lässig-urbanen Aura ein perfekter Ort für die Lesung einer Autorin wie Ann Cotten, die in ihren Texten – und jetzt auch in ihrer Performance – beständig auf der Grenze zwischen heiligem Ernst und unendlichem Spaß balanciert. Im selben Gebäude des Künstlerhauses Mousonturm, einer freien Produktionsstätte mit experimentellem Konzept und den besten Theaterpartys in der ganzen Stadt, liegt das Literaturforum auf dem Gelände einer alten Seifenfabrik. Die Getränke gibt es auf Spendenbasis, geraucht wird auf der Feuertreppe und an der Toilettentür hängt ein Schild: »Free for all Gender«. Unter den Anwesenden befindet sich eine schwarz gekleidete Literaturkritikerin und mindestens zwei Lektorinnen mit Brille. Der Dresscode ist casual und smart. Ein Mann sticht wegen seines zu guten Anzugs hervor. Zum Ende der Veranstaltung wird er einen ganzen Stapel Bücher, den er mühevoll zu ihrem Schutz in Plastikfolie eingewickelt hatte, von Ann Cotten signieren lassen. Als ich ihn vor der Tür darauf anspreche, erzählt er mir stolz und beschämt zugleich, dass er im richtigen Leben Investmentbanker ist, sich aber, quasi nebenbei, im Besitz der größten signierten Bibliothek deutschsprachiger Gegenwartsliteratur befindet.
Ann Cotten liest humorvoll aus »Lyophilia«, mit ihrem leicht amerikanisierten Wiener Zungenschlag wühlt sie sich rein in ihren Text und erfreut sich an den Wörtern, als begegnete sie ihnen zum ersten Mal. Mitunter muss sie Lesepausen einlegen, weil ihr das eigene Lachen dazwischenkommt. Hier dominiert kein »Primat der Person über die Fiktion« (John von Düffel), sondern ein scheinbar gleichrangiges Nebeneinander von Wort und Stimme im Zeichen des Ereignisses. Sie erklärt, sie hätte die Absicht gehabt, Science-Fiction auf Hegelbasis zu machen, oder anders gesagt, lustige Prosa mit Philosophie an der Hintertür. Sofort postet die vor mit sitzende Hundehalterin eine Instagram-Story mit einem Bild der Autorin und dem Satz »Heute gehts um den Hegel-Pegel«. Während ich ihr über die Schulter schaue, frage ich mich, warum es – nicht nur versierten – Literaturkritiker*innen offensichtlich so schwerfällt, diese wunderbare Emergenz, die Literatur als sozialer Praxis zu eigen ist, zu greifen, zu kritisieren. Wie beschreiben, dass aus diesem Abend der Roman mit mehr Ernsthaftigkeit und Albernheit zugleich hervorgeht, dass auch er sich angesichts der spontanen Vergesellschaftung dieser Lesung verändert hat?