Am Beispiel Rezo
von Johannes Paßmann
15.9.2021

Zwei Modi der Wissenspopularisierung mit Social Media

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 65-76]

Angesichts des Rezo-Videos »Die Zerstörung der CDU« wird oft die Frage gestellt, wie Wissenspopularisierung mit Social Media funktioniert, insbesondere über YouTube. Um eine Besonderheit solcher Prozesse in den Blick zu bekommen, ist es hilfreich, die Bedeutung von ›Popularisierung‹ zu differenzieren: in ›Übersetzung‹ und ›Elizitation‹. 

Dass mit Popularisierung in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht ein Modell der Diffusion gemeint ist, bei dem man Medien wie ein Kanalsystem denkt, durch das sich Information gleichsam fließend von hier nach da ausbreitet, darüber herrscht in der Regel Einigkeit. Stattdessen denkt man Popularisierung als Übersetzung, also als komplizierten Prozess, bei dem nichts von allein fließt, sondern an jeder Stelle der weiteren Popularisierung ein Bruch steht, mit dem eine Übersetzung aktiv umzugehen hat, sodass sie immer Referenz und Transformation gleichzeitig erzeugt. 

Schauen wir uns allerdings an, wie etwa Wissen über das Mittelalter durch Fantasy-Serien popularisiert wird, wie Wissen über die Schlacht an den Thermopylen durch Computerspiele zirkuliert oder wie der YouTuber Rezo in seiner »Zerstörung der CDU« Wissen über den Klimawandel in Umlauf bringt, so lässt das Modell der Übersetzung etwas Entscheidendes in den Hintergrund treten, weil es systematisch etwas anderes in den Vordergrund bringt: Jede Übersetzung ist eine Transformation; materiell, semantisch, mitunter auch, was die Richtigkeit angeht, aufgrund von Missverständnissen und Verkürzungen. Sie wird aber stets als Kette thematisiert, in der Referenzen errichtet werden (die dann mehr oder weniger ›richtig‹ sind). 

Alles jenseits der Kette, also das Referenzlose, Falsche, Erklärungsbedürftige und Ausgelassene tritt als Transformation unter anderen in den Hintergrund. Diese Fälle sind allerdings nicht die Ausnahme, sondern vielmehr ein modus operandi der Wissenspopularisierung über Soziale Medien mit ihren Kommentierungs- und Reaktionsmöglichkeiten. Ich schlage darum vor, diese Spezifik nicht unterschiedslos in der Großkategorie der ›Übersetzung‹ verschwinden zu lassen, sondern zwei Modi zu unterscheiden, die für die Wissenspopularisierung über Soziale Medien gleichermaßen zentral sind: ›Übersetzung‹ – in einem engeren Sinne verstanden – und ›Elizitation‹ als eine Methode, durch vorgeführtes Material Reaktionen zu erzeugen, die ungenanntes, nicht recherchiertes, unbewusstes oder anderweitig noch nicht thematisiertes Wissen in Zirkulation bringen. 

In der visuellen Anthropologie gibt es spätestens seit den 1960er Jahren ein ganzes Bündel von Methoden, durch Fotografien, Videos und andere visuelle Stimuli Erklärungen ethnografischer Informantïnnen zu provozieren. Robert Edgerton beschreibt etwa in einem Aufsatz für den »American Anthropologist« seine Versuche, über Zeichnungen von Musikritualen bei den Menominee in Wisconsin Aussagen über moralische Werte zu elizitieren (mit mittelmäßigem Erfolg: er hatte die falschen Trommeln zeichnen lassen). John und Malcolm Collier haben eine Reihe von Verfahren ausprobiert und in ihrer Monografie »Visual Anthropology« entwickelt, mit denen Interviews durch Fotografien anders geleitet werden können, z.B. weil sie Affekte produzieren können, die in einer Befragung nicht auf diese Weise erzielbar sind. Douglas Harper schreibt in »Visual Sociology«, einem Aufsatz für »American Sociologist« aus dem Jahr 1988, Methoden der Foto-Elizitation seien in der Lage, latentes Wissen manifest werden zu lassen: »As the informant studies images of his or her world and then talks about what elements mean, the interview produces information that is more deeply grounded in the phenomenology of the subject. A photograph […] calls forth associations, definitions, or ideas that would otherwise go unnoticed.«

In diesem Sinne produzieren Social Media laufend Elizitationen und fangen diese sozusagen in Kommentarbereichen oder als Replies ein. Bei der Elizitationslogik der Wissenspopularisierung geht es also um Fälle, bei denen z.B. Blog-Artikel, Tweets oder YouTube-Videos Anlass für alternative Referenzen werden; sie dienen nicht selbst als Referenz, sondern provozieren die Mobilisierung dritter Quellen. Dies ist nichts grundlegend Neues, die Peritexte Sozialer Medien mit ihren Kommentar- und Antwortfunktionen geben der Elizitation aber einen wesentlich größeren Stellenwert. Man könnte sagen, durch Kommentarfunktionen werden Elizitationspraktiken nicht nur auf besondere Weise befördert; sie werden medial im Ausgangstext heimisch.

Als erwähnenswerter Unterschied ist mir dies zum ersten Mal bei einem Let’s-Play-Video zu dem Computerspiel »Total War: Rome II« aufgefallen. Es trägt den Titel »Rome 2 Schlacht – Schlacht bei den Thermopylen (Perserkriege) nachgespielt«, wurde am 10.09.2013 veröffentlicht, hat zurzeit etwa 12.600 Views und 48 Kommentare. Gleich zu Beginn des Videos erklärt ein Sprecher, sie hätten sich eine Schlacht ausgesucht, die sie »historisch aufbauen«, aber »dynamisch nachspielen – also ohne historischen Ausgang.« Für die historisch aufgebaute Schlacht wählen sie »die Schlacht, wo die 300 gegen diese Perser spielen.« Er wendet sich dann an seinen Mitkommentator, der sagen soll, wie man »das« richtig ausspricht. Er antwortet: »Ja genau, das ist die Schlacht bei den Thermopylen,« spricht dies aber wie »Thermofühlen« aus und fügt hinzu: »Jedenfalls spricht man das in Deutschland so aus – ich weiß nicht genau, wie die Betonungen im Altgriechischen waren, das kann natürlich auch TherMOfühlÄHN heißen oder so, weiß man nicht genau, wenn einer es weiß, dann kann er es natürlich gerne sagen, in den Kommentaren, schreiben, ich bin mal gespannt, wie Ihr das phonetisch hinkriegt.« Dann übernimmt wieder der erste Sprecher, der bemerkt, er könne das in keiner Sprache aussprechen, »weder Lateinisch, noch Englisch noch Deutsch, aber auf jeden Fall das Ding, wo die 300 gegen die Millionen Perser angeblich gekämpft haben, das bauen wir hier nach.«

In Kommentaren reagieren die User auf diverse Behauptungen des Videos. »History Badger« schreibt zum Beispiel: »Soweit ich es weiß waren es nicht nur 300 Spartaner sondern auch andere Griechen. Bitte glaubt nicht dem Film 300 der ist zu 95% reine Lüge.« »Down5lp« kommentiert: »es waren 1000 griechen und 300 spartaner bei dem Abschnitt am Meer Am geheimen Pass wahren es ursprünglich 1000 Griechen, die sich aber zurückzogen, weil sie ihre eigenen Städte/ Dörfer schützen wollten.« »KeinWortBEATZ« schreibt: »Wer von 10.000 Griechen gegen ca. 50.000 Perser ausgeht, liegt wohl Nahe an der Realität.« Ein Kommentar von »HaterGegenRechts1« gleicht eher einem Kurzessay zum Thema; er differenziert, dass hier drei Schlachten zusammengeworfen würden (die Schlacht von Marathon 490 v.Chr., die Schlacht bei den Thermopylen 480 v.Chr. und zeitgleich die Seeschlacht von Artemision). Der Kommentar beginnt mit »so jetzt mal zur Aufklärung« und nennt etliche Namen und Zahlen (z.B. 7.000 Griechen und 50.000 bis 250.000 Perser bei den Thermopylen) und erwähnt »Quellen«, allerdings ohne sie zu benennen. »Mari B« kommentiert: »Falls ihr alle wirklich wissen wollt, was ›wirklich‹ passiert ist, lest doch einfach die Historien Herodots. Da kann man sich wenigstens sicher sein (da es auch praktisch die einzig glaubwürdige Quelle ist) 😀 Und 300 war ein toller Film keine Frage, historisch jedoch nicht so dolle :D.«

Es werden – mit anderen Worten – etliche Informationen zusammengetragen, die das Video nicht enthält, zu deren Erwähnung es aber herausfordert. Die 7.000 Griechen aus dem Kommentar von »HaterGegenRechts1« als Übersetzung der 300 Spartaner im Video zu begreifen, würde gerade verdecken, wie sich nun das Wissen über die Schlacht popularisiert. Die konkrete Zahl 300 scheint vielmehr wie eine gelungene Provokation zu funktionieren, die etliche User zur Gegenrede herausfordert; sie fungiert gleichsam als Rechtfertigung für alle möglichen Erklärungen. Erst dadurch kann Expertise – wie stichhaltig sie auch immer sei – angebracht werden. 

Dies ist allerdings offenbar nicht allein der Zahl wegen der Fall. Die Produzenten des Videos formulieren ja erstens auch den Anspruch, die Schlacht »historisch« aufzubauen. Zweitens gilt es zu bedenken, dass die 300 im Kontext eines sehr konkreten Orts benannt werden und einer historisch überlieferten Schlacht. Das Video – und mehr und mehr natürlich auch die Kommentare – funktionieren insofern auch deshalb elizitativ, weil dem Anspruch und der Darstellung gemäß so vieles richtig ist.

Dieses Schema finden wir auch da, wo es um die Aussprache geht: »Heinz Nurgmann« kommentiert: »Das ist leider falsch! Θερμοπύλαι = termopÜlai (Betonung auf ü) Altgrichisch [sic!] hatte ich im Unterricht, und es gibt einige Unterschiede zum modernen neugriechisch.« Der User »Euer GeneralPilophas« erwähnt, das Theta sei nicht wie ein englisches th auszusprechen, woraufhin »Trombonesses« entgegenet: »Na doch, Theta wird exakt wie ein englisches scharfes Th gesprochen, sagen zumindest mein Professor für die Antike und der Philologe. Es würde ja sonst keinen Unterschied zu Tau geben, es hat schon seinen Grund, warum da ein H steht nach dem T. Pi und Phi werden ja auch nicht gleich gesprochen. Also im Griechischen ist Θερμοπύλαι, Thermopylai gesprochen Fermopylai.«

Auch hier werden Autoritäten in Stellung gemacht, altgriechische Buchstaben in die Kommentarformulare kopiert und nicht zuletzt auch Informationen zusammengetragen, für die das Video in keinem Fall als »Referenz« dienen kann, wie etwa der Verweis auf grundsätzliche Unterschiede zwischen Alt- und Neugriechisch. Im Unterschied zur Zahl der 300 hatte der Sprecher im Fall der Aussprache allerdings die Begrenztheit seines Wissens explizit thematisiert und zur Korrektur aufgefordert. Auch dies ist eine für YouTube bekanntermaßen sehr typische Praktik, nicht bloß irgendwie zum Kommentieren aufzufordern, sondern um Korrektur zu bitten, falls jemand etwas besser zu wissen meint oder weitere Erfahrungen beizutragen hat. Hierbei dürfte es auch eine Rolle spielen, dass sich der Sprecher immerhin als Halbexperte exponiert – bzw. von dem anderen Sprecher als solcher adressiert wird. 

Das Grundprinzip der Popularisierung durch Elizitation mittels Social Media lässt sich auch für das bekannte Rezo-Video feststellen; und dies nicht nur über die Kommentare auf YouTube selbst, sondern in einer ganzen Reihe von Kommentaren; von der CDU-Vorsitzenden im mündlichen Vortrag bis zu zahllosen Zeitungsartikeln zum Thema, die dem Kommentar des Users »HaterGegenRechts1« mit seinem Essay zur »Aufklärung« über die drei verschiedenen Schlachten zwar in Professionalität zweifelsohne überlegen sind, aber in der Logik der Popularisierung durch Elizitation nicht ganz unähnlich. 

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte etwa am 23. Mai 2019 einen »Faktencheck« zum Video, für den sie vier Journalisten beauftragte, in gut 18.000 Zeichen zu versuchen, Rezos Aussagen auseinanderzunehmen. Auch hier wird das Elizitationspotenzial des Videos also nicht bloß durch die Fehler getriggert, die man ihm nachweist, sondern insbesondere dadurch, dass so vieles daran richtig ist. Ein Video voll von Fehlern wäre möglicherweise gar nicht thematisiert worden; sicher aber nicht durch eine Vier-Autoren-Gang mit 18.000 Zeichen. Worauf es mit anderen Worten ankommt, ist, dass ein Video oder Tweet oder anderer Internet-Post als Herausforderung fungiert. Damit ist dann bereits gesetzt, dass sich die FAZ etwa mit den Themen zu befassen hat, die Rezo in seinem Video aufwirft.

Hier geht es um ein Phänomen, dass Noortje Marres bereits im Jahre 2006 als grundlegend für Online-Diskurse herausgestellt hat: Die Formierung von »issue networks«, d.h. öffentliche Auseinandersetzungen, die gerade deshalb stattfinden, weil ein Antagonismus zustande gebracht wird. Die Leistung des Rezo-Videos bestünde insofern nicht so sehr darin, Informationen über Klimawandel, soziale Gerechtigkeit oder Kriegsführung in Umlauf zu bringen. Seine Leistung ist, diese »issues« so formiert zu haben, dass so viele andere öffentlichkeitswirksame Akteure ihn als (leichten) Gegner anerkennen, dessen Thesen mit mehr oder weniger Aufwand zu widerlegen sind. 

Typisch für Online-Diskurse ist dabei Mehreres, z.B. all die verschiedenen Gegnerschaften auf etlichen Ebenen: Die Rezo-Debatte wurde ja nicht nur als eine zwischen ihm und seinen Gegnerïnnen bedeutsam, sondern weil genau seine Issues von Hunderttausenden in ähnlicher Weise ausgefochten werden konnten. Dieser »Long Tail« hat bekanntermaßen ein Gewicht, das kaum zu überschätzen ist. 

Ein zweiter Faktor war freilich bei aller Gegnerschaft das beinahe durchgängige Unterschätzen der YouTuber durch die CDU und ihr Umfeld, d.h. die Anerkennung als Gegner, den man aber leicht erledigen zu können glaubt. Man könnte nun etliche weitere ›Faktoren‹ finden, die diesen Konflikt befeuert haben. Wichtiger ist mir an dieser Stelle, die Allgemeinheit dieser Elizitationslogik hervorzuheben.

Denn das Kommentierpotenzial elizitationsfähigen Materials proliferiert ja mindestens so lange, wie das Internet einigermaßen verbreitet ist; und zwar in doppelter Hinsicht: Nicht nur gibt es seitdem Foren, Plattformen und vieles mehr, in dem man Kommentare schreiben und sich in Debatten über antike Schlachten, den Klimawandel oder Waffen des Mittelalters verwickeln kann. Was proliferiert, sind auch Quellen, Nachschlagewerke und sonstige Dokumente, mit denen bestimme Formen von Fachwissen leicht verfügbar werden.

Dies bezieht sich einerseits auf wissenschaftliches Wissen, etwa wenn Ärzteserien wie »Grey’s Anatomy«, »Emergency Room« oder »Dr. House« medizinisches Wissen thematisieren, das noch in der »Schwarzwaldklinik« undenkbar gewesen wäre; andererseits aber auch auf alle möglichen Formen von Wissen, das oft auch nur Serien, Romane oder Computerspiele selbst betrifft; bis hin zu den Sprachen von »Herrn der Ringe« oder »Star Trek«. All diesen Gegenständen ist gemein, dass sie nicht bloß deshalb kommentierfähig werden, weil an ihnen etwas nicht stimmt, mal ausnahmsweise ein OP-Besteck falsch gehalten oder ein Ausdruck auf Elbisch inkonsequent gewählt scheint, sondern vielmehr, weil dies eben die Ausnahmen von ansonsten konsequent durchdachten Systemen und Praktiken sind.

Dies wirft die Frage nach einer Elizitationsästhetik auf, d.h. einerseits: Wie werden Romane, Serien oder Computerspiele so gebaut, dass sie auf diese Weise disputabel werden, aber auch: Wie ändert sich diese Disputabilität historisch über die vergangenen Jahrzehnte – insbesondere im Zuge der Verbreitung des Internets? So gibt es etwa das ›Material‹ vieler solcher heute stark diskutierten Werke mitunter seit sehr langer Zeit; in anderen Mediensystemen fordern sie aber zu anderen Kommentier- und damit Popularisierungsformen heraus. Fragen wie diese geraten dadurch in den Blick, dass man von der Popularisierung als Übersetzung Popularisierung als Elizitation unterscheidet.

Schreibe einen Kommentar