Clankriminalität in der Serie »4 Blocks«
von Martin Seeliger
27.7.2020

Migrationsgeschichten, prekäre Lebensweisen und soziale Konflikte

»Wer mir Befehle gibt? Nur meine Eier!«[1]

Organisierte Kriminalität ist eine Bedrohung der Demokratie, weil sie das Gewinn- oder Machtstreben privater Gruppen der staatlichen Kontrolle entzieht. Ihr Entstehen wird nicht zuletzt dort begünstigt, wo soziale Ungleichheit und die Ablehnung der öffentlichen Behörden Kultur, Struktur und Alltagspraktiken von Minderheitengemeinschaften prägen. Die seit einigen Jahren mit zunehmender Intensität geführte Auseinandersetzung um die kriminellen Aktivitäten arabischer Familienclans illustriert diese allgemeine Einsicht auf deutliche Weise. Gleichzeitig spiegelt die öffentliche Auseinandersetzung um Clankriminalität die Konfliktlinien einer strukturellen Disparität spätmoderner Einwanderungsgesellschaften: „Fremde“, so der Sozialphilosoph Zygmunt Bauman (2016: 13), lösten unter Eingesessenen vor allem deswegen ein Unbehagen aus, weil sie deren alltägliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellen: „Nach allem, was wir wissen, könnte der massive Zustrom von Fremden Dinge zerstören, die uns lieb sind, und unser tröstlich vertrautes Leben verstümmeln oder gänzlich auslöschen“ (ebd.: 13f.).

Wie der Soziologe Herbert Blumer (2012: 141) in einem klassischen Text konstatiert hat, existieren soziale Probleme keineswegs „als eine Konstellation objektiver sozialer Bedingungen“. Die Ordnung (und damit auch die Umdeutung oder Verwerfung) solcher Probleme entsprechend ihrer Relevanz und Lösbarkeit erfolgt im Rahmen der politischen Öffentlichkeit unter Bezug auf verschiedene Kulturelemente und -praktiken. Erst die „gesellschaftliche Anerkennung“ als solche „gebiert ein soziales Problem“ (ebd.: 148). Vom Blickpunkt einer politischen (Kultur-)Soziologie rücken damit diejenigen Prozesse in den Fokus, im Zuge derer eine Gesellschaft sich ihrer selbst vergewissert. „Im Feld der Kultur“, so schließt auch Marchart (2018: 12), „werden politische und soziale Identitäten produziert und reproduziert“ (vgl. auch Hall 2004). Ein eindrucksvolles Beispiel stellte in den letzten Jahren die deutsche Krimiserie „4 Blocks“ dar. Am Beispiel des deutsch-libanesischen Clans der Hamadys behandelt das Drama die Bedeutung von Clankriminalität im Spannungsfeld prekärer Lebensweisen und sozialer Konflikte. Indem die Macher der Serie eine hochgradig ambivalente Problemstellung in Form eines zugänglichen Popkulturproduktes aufbereiten, leisten sie, so meine weitere Argumentation, nicht nur einen zentralen Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Clankriminalität, sondern mit der Frage nach ihrer kollektiven Identität behandeln sie auch eine der grundsätzlichsten Problemstellungen multikultureller Gesellschaften im 21. Jahrhundert. 

Von kollektiven Verständigungsprozessen dieser Art ist bekannt, dass sie oft in undifferenzierter, polemischer und – vor allem in Zeiten des politischen Rechtsrucks – rassistischer Form geführt werden. Vor dem Hintergrund eines rassistischen Krisendiskurses um migrantische Männlichkeiten (vgl. Seeliger 2013), der sich in der sogenannten Flüchtlingskrise seit einigen Jahren mit der Debatte um das Asylrecht vermischt, befasse ich mich im Folgenden mit der Frage nach der symbolischen Konstruktion von Stereotypen in der Pay-TV-Serie ‚4 Blocks‘, die sog. ‚Clankriminalität‘ als Form sozialer Konflikte in Einwanderungsgesellschaften zum Thema hat.

Die Ambivalenz der in der Serie vermittelten Inhalte erfordert in diesem Zusammenhang eine differenzierte Antwort. Da die Serie das Delinquenzhandeln der Clanmitglieder nicht auf deren genuine Bösartigkeit oder niedere Motive zurückführt, sondern auf die gesellschaftlichen Ursachen (u. a. soziale Randständigkeit, Fremdheits- und Kränkungserfahrungen, Ausschluss vom Arbeitsmarkt), lässt sie sich einerseits als Beitrag zur Versachlichung der Debatte interpretieren. Auf der anderen Seite sitzt die Darstellung dem Mythos auf, die Gesetzesübertretungen einzelner Mitglieder dieser Großfamilie ließen einen Rückschluss auf die Erwerbsorientierung der gesamten Familie zu. Diese Pauschalisierung korrespondiert wiederum mit einem rassistischen Alltagsbewusstsein und einer Angst vor Überfremdung auf Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft. 

Um dieses Argument genauer zu begründen, möchte ich zunächst die deutsche Einwanderungsgeschichte als Rahmenhandlung der Bildwelten der Fernsehserie sowie als sozialstrukturellen Kontext der aktuellen Debatte darstellen und anschließend einen kurzen Überblick über den öffentlichen Diskussionsstand zum Thema Clankriminalität geben. Danach lege ich die spezifische, durch Elemente der Cultural Studies informierte, filmsoziologische Perspektive meines Aufsatzes dar, mit der die Darstellung und Interpretation der Serie erfolgt. Abschließend fasse ich die Befunde zusammen und stelle eine Reihe perspektivischer Fragen für die weitere wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte.

Clankriminalität im Kontext der westdeutschen Migrationsgeschichte

Die gesellschaftspolitische Dimension der Clankriminalität steht in engem Zusammenhang mit der westdeutschen Migrationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Restauration der Ökonomie erfolgte in der alten Bundesrepublik unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Arbeitskräfte, die im Rahmen einer Reihe von Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und Jugoslawien ins Land eingeladen wurden. Das vor allem für die Phase der Nachkriegsprosperität nachträglich gemalte Bild einer egalitären Bundesrepublik überlagert die Kultur- und Verteilungskonflikte, die die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte bereits in dieser Zeit auslöste. Die randständige soziale Position der sogenannten Gastarbeiter spiegelte sich nicht nur in ihrer Unterbringung abseits der unter Deutschen beliebten Wohngebiete, sondern auch in der häufig prekären Arbeitsmarktintegration der Neuankömmlinge.[2] Vor diesem Hintergrund blieb die integrationspolitische Debatte angespannt. Nachdem die „Ausländerpolitik“ nach der deutschen Einheit und unter Bedingungen der Pogrome von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda erneut in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung geraten war, verschärfte die Bundesregierung im Jahr 1992 das Asylrecht weiter und die öffentliche Diskussion mündete schließlich im Totem eines „Scheiterns der multikulturellen Gesellschaft“ (Tränhardt 2006).

Eine weitere Verschärfung erfuhr der Diskurs um Einwanderung nach den Terroranschlägen des 11. September 2001. In der Diskussion über Ursachen und Konsequenzen des Anschlags und ähnliche Ereignisse, wie den verhinderten Mordanschlag auf den dänischen Zeichner Kurt Vestergaard während des Karikaturenstreits 2008, kam es zu einer Verquickung von Einwanderungskritik und Islamophobie. (Vor allem arabische) Migranten und deren Nachkommen nehmen aus dieser Sicht nicht mehr nur den Einheimischen die Arbeitsplätze weg, sie stellen darüber hinaus auch ein Risiko für die öffentliche Sicherheit dar. In der von dem CDU-Politiker Friedrich Merz unter dem Begriff der „Leitkultur“ initiierten Diskussion mehrte sich vor diesem Hintergrund auch die Kritik an islamischen Kulturformen wie dem Kopftuch oder der Burka.[3]

Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung mit dem Beitrag des damaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin, der 2010 in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ die Rolle muslimischer Einwanderer für Zusammenleben und Standortpolitik in Deutschland problematisierte. In einem Interview fasste Sarrazin seine integrationspolitische Linie zusammen und erklärte, er müsse niemanden „anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“ (Berberich, Sarrazin 2009: 200). Als Sachbuch-Bestseller des Jahres wurde „Deutschland schafft sich ab“ zur zentralen Referenzgröße eines „populistisch vorgetragenen Sozialdarwinismus“ (Benz 2012: 15), der sich politisch seitdem in den Rufen nach einer neuen Hardliner-Politik manifestiert.

Seit der „Flüchtlingskrise“ hat die Debatte um Einwanderung weiter Fahrt aufgenommen (Pries 2016). Nicht zuletzt unter dem Eindruck des politischen Rechtsrucks ist im August 2019 das von Bundesinnenminister Horst Seehofer vorgeschlagene „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ in Kraft getreten, das die Einwanderung hochqualifizierter Fachkräfte fördern und Abschiebungen erleichtern soll.

Die Migrationsgeschichte palästinensischer und libanesischer Clans stellt diesbezüglich einen Sonderfall dar. In Folge des im April 1975 im Libanon ausgebrochenen Bürgerkriegs kamen zwischen ein- und zweihunderttausend Mhallamiye-Kurden in die Bundesrepublik Deutschland, häufig über Ost- und Westberlin. Um ihre Chance auf einen positiven Asylbescheid zu erhöhen, hatten sich viele der Geflüchteten ihrer Ausweispapiere entledigt. Auch wenn die Behörden unter diesen Umständen einen Asylantrag ablehnten, war es ihnen nicht möglich, die als „staatenlos“ Geltenden abzuschieben (wohin auch?). Ihr Status als „Geduldete“ blockierte nicht nur den (legalen) Zugang dieser Menschen zum Arbeitsmarkt,[4] sondern die Residenzpflicht band die Kriegsflüchtlinge auch häufig an Asylheime. Reguläre Sozialhilfesätze wurden verknappt und die Schulpflicht für viele der Kinder ausgesetzt. Die besondere Bedeutung familiärer Bindungen unter diesen Kriegsflüchtlingen erklärt sich damit zu einem guten Teil aus dem Rückzug des westdeutschen Staates als Garant sozialer Stabilität.[5]

Um die soziale Lage vieler Clanmitglieder verstehen zu können, gilt es zu beachten, dass das Leben in der Diaspora in vielen Fällen als permanente Übergangsphase zu verstehen ist. Aus der alten Heimat vertrieben, unterhalten die Geflüchteten weiterhin Bräuche und Beziehungen, die sie mit ihren Herkunftsregionen verbinden. Gleichzeitig ist die Aufnahmegesellschaft nur eingeschränkt offen. Und selbst wenn Integration erfolgt – dies zeigte nicht zuletzt die Debatte über die „Leitkultur“ –, so wird im gleichen Atemzug eine Distanzierung von eigenen Traditionen und Gewohnheiten erwartet. „Die Angst vor dem Fremd-Werden der eigenen Kinder“, so betont Schiffauer (2008: 44), kann unter diesen Umständen „zu einer wertkonservativen Erziehung führen, in der die eigenen Normen und Werte gegen die der deutschen Gesellschaft gestellt werden“. Moscheen und Kulturvereine fungieren hierbei häufig als Institutionen, die in einer als fremd und abweisend wahrgenommenen Umgebung sozialen Zusammenhalt stiften und den Transfer von Normen, Werten und Weltbildern zwischen den Generationen zu organisieren helfen. 

Die Auseinandersetzung mit der Rolle arabischer Großfamilien ist im Laufe der letzten Jahre zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt.[6] Neben Schlägereien, Diebstahl und Raub gelten Steuerhinterziehung, Hehlerei, Rauschgifthandel und Schutzgelderpressung als typische Felder (clan-)krimineller Betätigung. Als vielleicht spektakulärste Fälle können der sogenannte Pokerraub gelten, bei dem Großfamilienmitglieder im März 2010 die Gewinnprämien eines Berliner Kartenspielturniers entwendeten, sowie der Diebstahl einer Goldmünze im Wert von knapp vier Millionen Euro aus dem Berliner Bode-Museum im März 2017. Die besondere Kapazität zu kriminellem Handeln ergibt sich hierbei aus der Tatsache, dass Transaktionen auf Schwarzmärkten – in Abwesenheit eines regulierenden Staates – häufig einer alternativen Legitimationsstrategie bedürfen. Belastbare Vertrauensbeziehungen und ein hohes Gewaltpotenzial haben den Großfamilien eine Schlüsselposition in der Schattenwirtschaft erschlossen.[7]

Die öffentliche Auseinandersetzung mit Clankriminalität im Allgemeinen funktioniert eingebettet in einen spezifisch deutschen Integrationsdiskurs, der die Verlaufsformen und Erwartungen an den historischen Prozess der Eingliederung von Migrantinnen und Migranten in die Mehrheitsgesellschaft thematisiert. Der Begriff der Integration, so Terkessidis (2010: 9), birgt „stets eine negative Diagnose“. Durch das Ziehen „symbolischer-kultureller Grenzen der Zugehörigkeit“ (Mecheril 2007: 24) wird die Verantwortung für (vermeintliche) Folgeprobleme der Migration ausgehandelt. Geleitet durch ein „rassistisches Alltagsbewusstsein“ (Hall 2000: 150) stützen sich solche Aushandlungen auf ein stereotypes Negativbild. „Der ‚Migrant‘“, so Yildiz (2007: 37), „taucht fast nur in Problemsituationen auf, wird mit bildungsfernen Milieus in Verbindung gebracht und zumeist als nicht anpassungsfähiges und therapiebedürftiges Objekt wahrgenommen.“ 

Der Soziologe Andreas Reckwitz (2017: 404) spricht in diesem Zusammenhang von einem Zusammenwirken von Prozessen der Selbst- und Fremdkulturalisierung. Letztere nehme zwei ideologische Formen an. Während die Ideologie des Multikulturalismus mit ihrer „Symbiose aus linksliberaler Diversitätspolitik und Kultivierung partikularer Gemeinschaften“ den Eigenwert diverser Kulturformen anerkenne, folge eine negative Fremdkulturalisierung neorassistischen Argumentationslinien: Aus dieser Perspektive „gelten alle Mitglieder eines ethnischen Kollektivs als von bestimmten, quasi unüberschreitbaren kulturellen Mustern bestimmt, die negativ bewertete Verhaltensweisen hervortreten lassen sollen (Neigung zur Gewalt, geringes Bildungsinteresse, schwaches Arbeitsethos, etc.)“ (ebd.: 404f.).[8] 

Zuschreibungen dieser Art kamen in den letzten Jahrzehnten in einem Krisendiskurs um migrantische Delinquenz vor, etwa in Berichten über die Berliner Rütli-Schule oder in den populären Bildwelten des migrantisch geprägten Gangsta-Raps (Seeliger 2013; Seeliger, Dietrich 2017). Die mediale Debatte um die Clankriminalität funktioniert im starken Bezug auf diesen Diskurs. Eine zentrale Figur ist dabei der misogyne Gewalttäter mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund, der seinen unredlichen, häufig sogar illegalen Aktivitäten im Widerspruch zur (als „deutsch“ markierten) Mehrheitsgesellschaft nachgeht.

Im Jargon des Bundeskriminalamtes als „kriminelle Mitglieder von Großfamilien ethnisch abgeschotteter Subkulturen“ (Deutscher Bundestag 2019: 7) geführt, stellen die Protagonisten der deutsch-arabischen Unterwelt ein primäres Ziel polizeilicher Ermittlungen dar. „Der rechtstreue Bürger“, so Bundesinnenminister Seehofer im Gespräch mit der Bild-Zeitung im Mai 2019, werde „als ‚Opfer‘, die deutsche Gesellschaft als Beute und unsere Gesetze und Regeln als nicht verbindlich betrachtet“ (Reichelt/Solms-Laubach 2019). Nachdem das polizeiliche Vorgehen gegen die Clans in der Vergangenheit immer wieder erfolglos geblieben war, kündigte die Bundesregierung eine „Bund-Länder-Initiative“ zur Bekämpfung der Clan-Kriminalität an.

Gleichzeitig ist die Literatur zum Themenfeld – seiner medialen Popularität zum Trotz – bislang sehr überschaubar. Während die (kritische) Auseinandersetzung mit dem Konzept „Parallelgesellschaft“ (vgl. Bukow u. a. 2012) vor allem im Bereich der Migrationsforschung eine Rolle gespielt hat, wurden Fragen über organisierte Familienkriminalität hier bislang kaum gestellt. Einen wesentlichen (wenn auch politisch stark gefärbten) Beitrag stellt das 2018 erschienene Sachbuch „Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr“ des deutsch-libanesischen Sozialwissenschaftlers Ralph Ghadban dar. 

Ein „Bürgersinn“, so Ghadban (2018: 185), fehle „bei den Clans vollständig“. Mit ihrem prekären Arbeitsmarktzugang sowie unter dem Eindruck eines (häufig vormodern gerahmten) Religionsverständnisses distanzieren sich die Clans bzw. ihre kriminellen Mitglieder (im Buch nicht immer deutlich unterschieden) vom Rechtsstaat und dem hiesigen „Wertesystem“ (ebd.: 113).[9] Eine „multikulturalistische Ideologie“ (ebd.: 11) unter den tonangebenden Instanzen in der Gesellschaft mache es allerdings gleichzeitig unmöglich, die sozialen Probleme mit den Clans auf angemessene Weise zu thematisieren. Angesichts der beschriebenen Entwicklungen stellt für Ghadban „die Parallelgesellschaft inzwischen ein besorgniserregendes, nicht mehr zu negierendes Faktum“ (ebd.) dar.[10]

Einen weiteren wichtigen Beitrag zur explorativen Erschließung des Feldes der Clankriminalität leistet das Buch „In den Gangs von Neukölln“ von Christian Stahl (2014). Darin wird behandelt, wie der im Stadtteil ansässige Journalist den aus dem Libanon geflüchteten Yehya kennenlernt. Als angesehenen Player im Milieu der Berliner Sonnenallee begleitet Stahl den Jugendlichen über einen Zeitraum von mehreren Jahren und erlangt auf diese Weise Einblicke in die soziale Welt der Eckensteher und Bandenkriminellen. Weltsicht und Motivstruktur der oft noch sehr jungen Täterinnen und Täter paraphrasiert der Journalist im Buch auf differenzierte und sensible Art und Weise, wie die folgende Passage zeigt: „Auch wenn es für deutsche Ohren seltsam klingt: Die Sehnsucht, dazuzugehören zu Deutschland und zur deutschen Gesellschaft, ist in den Gangs von Neukölln stark ausgeprägt. Diese Sehnsucht habe ich auch bei den arabischen kriminellen Jugendlichen erlebt, die sich längst vom System abgewandt hatten. In all der Wut, die die selbsternannten Gangster von Neukölln in sich tragen, in all dem Machogehabe und dem brutalen Auftreten schwingt diese unausgesprochene Sehnsucht mit, einer von uns zu sein. Es ist wie ein Heimweh nach einer Zukunft, in der das Land, in dem du geboren oder groß geworden bist, dich nicht mehr als fremd oder falsch ansieht“ (Stahl 2014: 13).

Clankriminalität, so zeigt sich bis hierhin, stellt für die öffentliche Diskussion einen hochgradig ambivalenten Gegenstand dar. Während die kriminellen Aktivitäten in weiten Teilen dem Gemeinwohl schaden, bringt die kritische Kontextualisierung starke Verfehlungen auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft zum Vorschein. Als einen wesentlichen Ort der öffentlichen Auseinandersetzung um eben diese Probleme haben Soziologie und Cultural Studies die Sphäre der Populärkultur identifiziert. Der folgende Abschnitt dient dazu, eine entsprechende Forschungsperspektive vorzustellen.

Theoretischer Rahmen: Eine filmsoziologische Perspektive

Wie oben am Beispiel der deutschen Migrationsgeschichte gezeigt, weisen kapitalistische (Post-)Einwanderungsgesellschaften strukturelle Spannungen auf. Unter Bedingungen wirtschaftlichen Wettbewerbs und kultureller Diversität entstehen hier soziale Ungleichheitsverhältnisse und Konflikte, welche nicht zuletzt im öffentlichen Deutungskampf ausgetragen werden. Einen solchen Zusammenhang zwischen Massenmedien und nationalen Identitäten hat Anfang der 1980er Jahre der Politikwissenschaftler Benedict Anderson (2016) in seinem Buch zu Nationen als Imaginierte Gemeinschaften proklamiert. Die medial inszenierte Populärkultur dient demnach als Ort der Repräsentation und Aushandlung nationaler Identität. „Das Wesen des Kulturellen und der kulturellen Formen in unserer kapitalistischen Gesellschaft“, so betont Willis (2013: 269) vom Blickpunkt der Cultural Studies, besteht dann darin, „zur kreativen, ungewissen und mit Spannungen aufgeladenen gesellschaftlichen Reproduktion der jeweiligen Verhältnisse beizutragen“.

Mit Blick auf den Tatbestand der Clankriminalität als Objekt der sozialen Konstruktion von Empörung kommen in der aktuellen gesellschaftlichen Konstellation dreierlei weithin geteilte Wissensbestände zum Tragen. Die gesellschaftliche Hervorbringung kollektiver Negativemotionen basiert erstens auf der Ablehnung organisierter Kriminalität als illegitimer Geschäftspraxis. Zweitens korrespondiert sie mit einem rassistischen Alltagsbewusstsein (vgl. Hall 2000: 150), in dem Menschen arabischer Herkunft häufig mit spezifischen Zuschreibungen versehen werden. Eine dritte Rahmenbedingung ergibt sich schließlich aus der Angst vor Überfremdung, welche sich einerseits im Verlust traditioneller Kulturelemente und andererseits in einer erhöhten Arbeitsmarktkonkurrenz äußern könnte (vgl. Bauman 2016).

Im Einklang mit der hier skizzierten Theorieperspektive basiert die folgende Analyse der Fernsehserie „4 Blocks“ auf den Einsichten der Filmsoziologie (vgl. Heinze u. a. 2012).[11] Als „eines der wichtigsten und gleichzeitig vielfach verwendeten Medien- und Kommunikationsformate moderner Gesellschaften“ (Heinze 2012: 7) fungieren Filme: Sie „sind zu gleichen Teilen Vermittler und Archivare ihres gesellschaftlichen Kontexts“ (Peltzer 2012: 199). Anschließend an Gugutzer (2012: 148) lassen sich fünf Dimensionen zur Analyse filmischen Erzählens mit Blick auf seine gesellschaftlichen Implikationen unterscheiden – der „reale politisch-ökonomisch-kulturelle Kontext“ (1), Inhalt und Handlung mit ihren Wendepunkten und Brüchen (2), die (narrative) Struktur mit ihren (bipolaren) Konfliktmustern und Protagonisten (3) sowie die spezifische Ästhetik sowohl mit Blick auf die Musik, als auch Kleidungs- oder Einrichtungsstile, Orte und Städte (4) und die Frage, ob der Film bestimmte Werte, Weltbilder oder Ideen abbildet, vertritt, verwirft oder kritisiert (5). Es sind diese Aspekte, unter denen im Folgenden die Analyse des Filmmaterials vorgenommen wird.

Die Serie „4 Blocks“ als Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Clankriminalität

In der filmischen Auseinandersetzung mit der deutschen Einwanderungsgeschichte stellt die Serie „4 Blocks“ eines der bekanntesten und (auch kommerziell) erfolgreichsten Beispiele der letzten Jahre dar.[12] Die Serie besteht (am Ende der zweiten Staffel) aus insgesamt 13 Episoden von je ca. 60 Minuten Länge, die zwischen 2017 und 2018 erschienen sind. Bereits im Oktober 2017, d. h. ca. ein halbes Jahr nach ihrer Erstausstrahlung im Pay-TV-Sender Sky konnte die erste Staffel anderthalb Millionen Zuschauer verzeichnen und für die zweite Staffel ließen sich bis Ende 2018 sogar 2,5 Millionen registrieren (Quelle: Wikipedia). Als ein weiterer Indikator für den Erfolg der Sendung kann der Verkauf der Ausstrahlungsrechte nach Hollywood gelten. 

Mit Richard Kropf, Hanno Hackford und Bob Konrad als Ideengebern sowie dem Produktionsunternehmen Wiedemann & Berg Television sowie dem österreichischen Regisseur Marvin Kren bei der ersten sowie den Regisseuren Oliver Hirschbiegel und Özgür Yildirim bei der zweiten Staffel lässt sich ein unmittelbarer Bezug zum (post-)migrantischen Kino mit Blick auf die Produktionsstrukturen nur in Ansätzen erkennen. Einen besonders authentischen Charakter der Darstellung streben die Verantwortlichen jedoch auf verschiedene Weise an: Neben der Konsultation einschlägiger Vertreter aus dem Feld der Clankriminalität (angeblich begleitete man sie bei illegalen Geschäften) zeigt sich diese Absicht auch im gezielten Engagement von Schauspielern aus dem Milieu des deutschen Gangsta-Raps, dessen Bildwelten mit dem Mikrokosmos der Clankriminalität bekanntlich starke Überschneidungen aufweisen.[13] Die Handlung der Serie soll im Folgenden – vor allem mit Blick auf die fünf oben erwähnten Analysedimensionen – skizziert werden.

Protagonist Ali (Spitzname: Toni) Hamady ist vor mehreren Jahrzehnten mit Teilen seiner Familie als Flüchtling aus dem Libanon nach Berlin gekommen. Nachdem sein Onkel Ibrahim die Position des Clanoberhauptes aus Altersgründen nicht länger einnehmen konnte, hat er die Leitung der (kriminellen) Geschäfte der Familie übernommen. Hierbei bewegt sich Toni im Laufe der beiden Staffeln in einem Spannungsfeld zwischen den widersprüchlichen Erwartungen verschiedener Familienteile: Während er seiner Frau Kalila immer wieder verspricht, die kriminellen Geschäftsaktivitäten zu Gunsten eines bürgerlichen Lebens an den Nagel zu hängen, erwarten die männlichen Mitglieder seiner Familie (sein Schwager Latif und sein Bruder Abbas) von ihm ein konsequentes Vorgehen gegen konkurrierende kriminelle Gruppen (in der ersten Staffel handelt es sich hierbei um die Cthulhus, eine Berliner Bikergang; die zweite Staffel beschreibt einen Konflikt zwischen dem Hamadys und dem al-Saafi-Clan sowie einer tschetschenischen Familie).

Um die Existenz der Hamadys in Zukunft auf weniger risikoreiche Weise zu sichern, plant Toni einen Transfer der wirtschaftlichen Aktivitäten in den legalen Bereich. Um mit dem überwiegend auf Schwarzgeld basierenden Familienvermögen ins Immobiliengeschäft einsteigen zu können, benötigt er allerdings eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, die ihm – obwohl er den Großteil seines Lebens in Neukölln verbracht hat – von den deutschen Behörden weiter vorenthalten wird.

Die zentrale Konfliktlinie der ersten Staffel ist eine Auseinandersetzung zwischen Vince, einem alten Freund Tonis, der nach jahrelanger Abwesenheit als verdeckter Ermittler ins Leben der Hamadys zurückkehrt. Bei seinem Auftrag, die kriminellen Aktivitäten der Familie auffliegen zu lassen, gerät Vince ins Zweifeln über seine Loyalitäten. Während es ihm einerseits gelingt, immer weiter in den Familienkosmos vorzudringen, und er sich in Tonis Schwester Amara verliebt, fallen seine Kollegen bei der Berliner Polizei immer wieder durch fahrlässig-dilettantisches Arbeiten auf und setzen damit seine Ermittlungserfolge aufs Spiel. Nachdem Vinces Tarnung auffliegt, kommt es zu einem großen Showdown im Kampf mit den Mitgliedern des Rockerclubs. Vince wird erstochen, die Cthulhus sind besiegt und Toni Hamady steht weiter an der Spitze der Familie. 

Ähnliche Motive finden sich auch in der zweiten Staffel der Serie, welche ein Jahr später in einem relativ unveränderten Setting spielt. Über eine Reihe von Kontakten ist es Toni mittlerweile gelungen, Fuß im Immobiliengeschäft zu fassen – in einer rechtlichen Grauzone organisiert er die kommerzielle Unterbringung geflüchteter Syrer. Aus Frust über die kriminellen Geschäfte ihres Ehemannes hat Kalila Toni verlassen. Zwar lieben die beiden sich noch, auf Grund der riskanten Lebensumstände und der immer wieder von Toni gebrochenen Versprechen auf eine bessere, gesetzeskonforme Zukunft ist Kalila jedoch mit der gemeinsamen Tochter in eine eigene Wohnung gezogen.

Der zentrale Erzählstrang rankt sich um einen Konflikt des Hamady-Clans mit der deutsch-libanesischen al-Saafi-Familie. Nachdem ihr Oberhaupt Mohammed in der Zusammenarbeit mit einem libanesischen Partner versagt hat, erlaubt dieser Toni an Mohammeds Stelle zu rücken. Im nun ausbrechenden Bandenkrieg werden die al-Saafis von einem tschetschenischen Familienclan unterstützt. 

Ein weiterer wichtiger Nebenschauplatz ist die Beziehung von Tonis Neffen Maruf mit der schwarzen Rapperin Isha. Nachdem die Familie ihn verschiedentlich unter Druck gesetzt hat, die Affäre mit der auf rassistische Weise als unrein stigmatisierten Frau zu beenden, wird der junge Mann schließlich gezwungen, eine junge Frau aus dem al-Saafi-Clan zu heiraten, um die Streitigkeiten zwischen den beiden Familien zu beenden.

Bezüge zur deutschen Mehrheitsgesellschaft finden sich in der zweiten Staffel in personalisierter Form vor allem in zwei Charakteren. Der Immobilienmakler Matthias Keil vermittelt Toni ein Grundstück an der Spree. Nachdem Tonis Konten aufgrund von verdächtigen Finanzströmen aus dem Libanon gesperrt werden und Keil die Lukrativität des Objektes erkennt, beansprucht er das Grundstück für sich selbst. Toni ist erzürnt und schüchtert den Makler ein, indem er seine Freundin anschießen lässt. Ein besonders interessanter Aspekt hierbei ist die anomische Beziehung zwischen Keil und seinem Vater – seines Zeichens Besitzer der gemeinsamen Immobilienfirma der beiden. Wird der drogenabhängige und opportunistisch handelnde Juniorchef zu Anfang noch als unsympathische Täterfigur portraitiert, zeigt sich im später inszenierten Umgang mit dem Vater die zerrüttete Familienbeziehung. 

Die spezifische Stellung der Hamadys in Deutschland symbolisiert zweitens die Beziehung zwischen Toni und dem polizeilichen Ermittler Hagen Kutscha. Während dieser zu Anfang kompromisslos und klug gegen die Familie vorgeht, zeigt er sich im Laufe der Serie zunehmend frustriert über die mangelhafte Arbeit seiner Kollegen. Nachdem er gegen Ende der Serie erfährt, dass er unheilbar krank ist, lässt er sich auf ein verhängnisvolles (und hochgradig irreguläres) Koppelgeschäft mit Toni ein, mit dessen Hilfe er seinen Bruder Abbas aus dem Gefängnis befreit. Die Wiedersehensfreude währt jedoch nicht lange – aus Rache für die Demütigung durch die Attacke auf seine Freundin hat Matthias Keil einen Killer (es handelt sich hier um den ehemaligen Anführer der Cthulhus) engagiert, der Toni erschießen soll. Am Ende trifft die Kugel jedoch seine Frau Kalila und das Familienoberhaupt der Hamadys überlebt knapp.

Eine filmsoziologische Interpretation

Aus einer filmsoziologischen Perspektive bietet das oben im Anschluss an Gugutzer vorgestellte Analysemodell eine Reihe konzeptioneller Aspekte, unter denen sich die Serie im gesellschaftspolitischen Zusammenhang analysieren lässt. Unter politisch-ökonomisch-kulturellen Gesichtspunkten steht die Serie im Zusammenhang der deutschen Einwanderungsgeschichte. Die Tatsache, dass (nicht nur libanesischen) Flüchtlingen über Jahrzehnte hinweg der (reguläre) Zugang zum Arbeitsmarkt verunmöglicht wurde, verschärft hier die Randständigkeit weiter Teile der (post-)migrantischen Bevölkerung. 

Verweise auf diese Situation finden sich in der Serie in zahlreichen Formen. In der ersten Folge der ersten Staffel erklärt Toni seinem (ehemaligen) Freund Vince, nachdem beide einen lokalen Gastwirt mit Gewalt dazu genötigt haben, im Auftrag der Familie einen Spielautomaten in seiner Gaststätte aufzustellen, dass sie – anders als andere Asylsuchende – offiziell kein Geld verdienen dürfen und allgemein über weniger Rechte verfügen („Ein Asylant hat mehr Rechte als wir!“).[14] Ein zentrales Motiv der Serie stellen vor diesem Hintergrund die anhaltenden Versuche Tonis dar, einen soliden Lebensentwurf für sich und seine Familie zu etablieren. Hier wird (zumindest in Ansätzen) klar, was der Bevölkerungsgruppe über Jahrzehnte hinweg an gesellschaftlicher Teilhabe vorenthalten wurde.

Tonis Engagement als Immobilienanbieter für Flüchtlingsunterkünfte symbolisiert seinen bemerkenswerten Zwischenstatus: Er ist kein Flüchtling mehr, aber er ist auch noch immer kein regulärer Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft. Die immer neu geleisteten Versprechen an seine Frau, er würde – wie er zu Beginn der ersten Staffel formuliert – „der deutscheste Deutsche“ werden, kann er nicht wahr machen.

Die narrative Struktur der Serie ist geprägt von Konfliktmustern, die nicht nur zwischen den einzelnen Akteuren bestehen, sondern die Ambivalenz ihrer Weltbilder und Bedürfnisse konturieren. Das Motiv einer inneren Zerrissenheit der portraitierten Charaktere ist eine Metapher, die die ambivalente Lebenssituation in der Diaspora auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht. Der Kontrast zwischen der transnationalen Welt der Clans und der Mehrheitsgesellschaft zeigt sich besonders deutlich in der Gegenüberstellung der verschiedenen Lebensentwürfe. Während die Vater-Sohn-Beziehung in der Maklerfamilie als indifferent und zerrüttet dargestellt wird, erscheint die Struktur des Familienclans – wie die Zwangsverheiratung von Maruk und Djamila zeigt – als übermäßig inklusiv. Die zwei Extrembeispiele markieren die beiden Enden eines Spektrums, welches die Funktionslogik der Institution Familie im jeweiligen meso-kulturellen Zusammenhang versinnbildlicht. Die Unterschiede zwischen diesen Welten erscheinen mitunter als unüberbrückbar.

Die Frage, wer hier nun eigentlich der Eingesessene ist und wer nicht, bleibt im Verlauf der Serie trotzdem immer wieder ungeklärt. Tonis ganze Abscheu gegen die Gentrifizierung ‚seines‘ Neuköllner Bezirkes zeigt sich, als ihm ein Hipster statt einer Fanta eine Bionade serviert. Gleichzeitig verkörpert Toni den guten Patriarchen, der sich um seine Bezugsgruppe kümmert und hier und da sogar gesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Ein entsprechendes Ökonomieverständnis offenbart sich beispielsweise, als er für einige Klassenkameraden seiner Tochter die Klassenreise bezahlt. 

Neben der Großzügigkeit spornt der Clanchef seine Angestellten aber auch zur effizienten Mehrwertschöpfung an. Als er sie einmal untätig in einem seiner Cafés herumsitzen sieht, erzählt er ihnen eine – im Original von Heinrich Böll verfasste – Geschichte in abgewandelter Form („Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“). Hier trifft ein Tourist aus dem globalen Norden einen Fischer aus dem globalen Süden, der in der Sonne liegt und das Leben genießt. Auf die Frage hin, warum er denn nicht wieder herausfahre, um weitere Fische zu fangen, irgendwann reich zu sein und die Sonne genießen zu können, antwortet der Fischer im Original, dass dies ja bereits der Fall und daher keine weitere Arbeit nötig sei. In Tonis Version sind die Dinge jedoch anders gelagert („Wenn jetzt ein anderer Fischer kommt, der mehr Fische fängt – wer kriegt dann die Pussies?“). Wenn er Steuern zahlen und weniger Leute verprügeln würde, könnte man ihn sich ohne viel Phantasie im Verband mittelständischer Unternehmer oder als Besucher einer Lions Club-Gala vorstellen.

Die ästhetische Dimension der Sendung gewinnt ihre spezifische Prägung vor allem durch drei zusammenhängende Facetten – die Bildwelten Berlins, die Inszenierung der Diaspora sowie den gezielten Einsatz von Charakteren aus dem deutschen Gangsta-Rap. Die eindrucksvolle Berliner Kulisse vermittelt dem Zuschauer ein konstantes Moment urbaner Unübersichtlichkeit und Dynamik. Die ebenfalls sehr gelungene Inszenierung diasporischer schaffet den symbolisch-narrativen Bezugsrahmen für die Widersprüche im Plot der Sendung. Das Engagement erfolgreicher Rapper stellt hierbei insofern eine besonders gelungene Marketingstrategie dar, als sie den authentischen Charakter der Verfilmung weiter unterstreicht. Dass deutscher Gangsta-Rap spätestens seit dem Erfolg des Labels Aggro Berlin untrennbar mit dem symbolischen Kosmos der Hauptstadt verbunden ist, passt hier genauso ins Bild wie die düsteren Trap-Songs, die nächtliche Autofahrten zwischen flackernden Leuchtreklamen oder im Rotlicht aufsteigenden Zigarettenrauch[15] untermalen.

In der Wertedimension, so lässt sich schließen, zeichnet „4 Blocks“ teilweise differenziertes Bild. Die Versuche Tonis, eine solide Existenz zu gewährleisten, zeigen dies genauso wie die Defizite der Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft (d. h. in erster Linie Vince, Kutscha und Keil). Die Beweggründe für das delinquente Verhalten der Clanmitglieder werden grundsätzlich nicht unter den Tisch gekehrt, sondern rücken in den Mittelpunkt der Darstellung. Inwieweit dies ausreicht, um einen klärenden Beitrag zum oben genannten Krisendiskurs zu leisten, möchte ich abschließend fragen. 

Fazit

Der vorliegende Text hatte die Frage zum Gegenstand, inwiefern die Serie „4 Blocks“, bei der Darstellung sog. ‚Clankriminalität‘ als Form sozialer Konflikte in Einwanderungsgesellschaften zur symbolischen Konstruktion gesellschaftlicher Stereotype beiträgt. Eine filmsoziologische Analyse erfolgte hier vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion der deutschen Einwanderungsgeschichte. Aus dem Theoriefundus der Cultural Studies bediente ich mich außerdem der Einsicht, dass sich strukturelle Spannungen und Disparitäten in den Bildwelten der Populärkultur abbilden. Die Serie kann insofern als Bestandteil eines (teilweise krisenhaften) Diskurses kollektividentitärer Selbstvergewisserung im Sinne von Anderson (2016) oder Hall (2004) begriffen werden, in welchem die soziale Konstruktion von Empörung eine tragende Rolle spielt.

Die filmsoziologische Interpretation lässt sich auf zwei Lesarten hin zuspitzen. Eine kulturalistische Lesart würde die anhaltende Delinquenz der Hamadys – im Einklang mit einem rassistischen Krisendiskurs um migrantische Männlichkeiten – ursächlich auf die kulturelle Prägung der arabischstämmigen Einwanderer zurückführen. Angesichts ihrer Unwilligkeit, geltendes Recht einzuhalten, könnte man die Hamadys (wie auch die al-Saafis) für „Integrationsverweigerer“ halten, die die Regeln der Mehrheitsgesellschaft nicht einhalten können und/oder wollen. Kulturelle Differenzen, so die Schlussfolgerung, machen ein geregeltes Zusammenleben in multiethnischen Gesellschaften schwer bis unmöglich. Demgegenüber habe ich auch arbeitsmarktpolitische Aspekte ins Zentrum gerückt, vor allem den über Jahrzehnte hinweg prekären Aufenthaltsstatus, der die Protagonisten von einer regulären Erwerbstätigkeit abhielt.[16] 

Die Inhalte der Serie transportieren, so lässt sich an dieser Stelle schließen, eine grundsätzlich ambivalente Botschaft. Die Inszenierung der Fluchtgeschichte und der (familien-)biografisch erlebten Ausgrenzungserfahrungen, welche im Verlauf der Handlung immer wieder deutlich werden, vermittelt den Zuschauern relevante Informationen über den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem die Protagonisten aus dem Hamady-Clan ihre soziale Position am Rande der Gesellschaft eingenommen und gehalten haben. Diese differenzierte Form der Darstellung wird gleichzeitig durch die stillschweigenden Implikationen der Serie unterlaufen, welche vermitteln, dass das Geschehen im Umfeld der Charaktere die Lebenswirklichkeit arabischer Clans auf repräsentative Weise abbildet.

Die soziale Konstruktion von Empörung im Krisendiskurs um Einwanderung, so die abschließende Folgerung, wird perspektivisch auch von den in „4 Blocks“ inszenierten Bildwelten und Handlungssträngen genährt. In den starken Hinweisen im Plot, die eine arbeitsmarktpolitische Lesart der Geschichte nahelegen, lassen sich zwar Ankerpunkte popkultureller Aufklärung erkennen. Am Ende kann die Serie dem Problem aber gar nicht angemessen sein, und zwar unter anderem, weil sie Clankriminalität und nicht Clannormalität thematisiert – der Großteil der Clanmitglieder kann weder als kriminell, ja nicht einmal polizeibekannt gelten. 

Perspektivisch stellt sich angesichts dessen nicht nur die Frage, inwiefern eine differenziertere Darstellung unter kulturindustriellen Produktionsbedingungen überhaupt möglich ist. Wie viele Menschen würden sich denn für eine Serie vorbildlich integrierter Geflüchteter interessieren? Oder vielleicht ließe sich ja auch eine deutsch-syrische Fernsehkommissarin für die polizeiliche Verfolgung baden-württembergischer Steuerflüchtlinge finden? Oder könnte es sogar sein, dass die soziale Konstruktion von Empörung einer medialen Selektionslogik folgt, die letztlich mit einem rassistischen Alltagsbewusstsein der Konsumentinnen und Konsumenten korrespondiert? All diese Fragen böten, so denke ich, ausgezeichnete Gegenstände weiterer sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen!

 

Literatur

Anderson, Benedict (2016): Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. New York: Verso.

Bauman, Zygmunt (2016): Die Angst vor den anderen: Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin: Suhrkamp.

Berberich, Frank; Sarrazin, Thilo (2009): Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistung zur Metropole der Eliten. In: Lettre International 86/2009, S. 200f.

Benz, Wolfgang (2012): Deutschlands Muslime im Spiegel des Antisemitismus. Anmerkungen zur Entstehung und Tradition des Feindbildes Islam. In: Torsten Gerald Schneiders (Hg.), Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik, Wiesbaden, S. 15-25.

Blumer, Herbert (2012): Symbolischer Interaktionismus. Berlin: Suhrkamp

Bukow, Wolf-Dietrich u. a. (Hg.) (2007): Was heißt hier Parallelgesellschaft? Zum Umgang mit Differenzen. Wiesbaden: VS. 

Deutscher Bundestag (2019):  Effektive Bekämpfung von Clankriminalität. Drucksache 19/11764

Dinger, Alexander; Betschka, Julius (2018): Rund 2000 Menschen bei Beerdigung von Nidal R. In: Morgenpost, 13.9.2018 Quelle: https://www.morgenpost.de/berlin/article215319097/Grosser-Andrang-bei-Beerdigung-von-Clan-Mitglied.html

Heinelt, Peer (2019): Im Feindesland. In: Konkret 7/2019, S. 20-22. 

Heinze, Carsten et al. (2012): Perspektiven der Filmsoziologie. Vorwort. In: Dies. (Hg.): Perspektiven der Filmsozologie. Konstanz: UVK, S. 7-13.

Ghadban, Ralph (2018): Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr. Düsseldorf: Ullstein.

Gugutzer, Robert; Böttcher, Moritz (2012): Der Fußballfilm als Heimatfilm. „Das Wunder von Bern“ und die Thematisierung regionaler Identität im Sportspielfilm. In: Heinze, Carsten et al. (Hg.): Perspektiven der Filmsoziologie. Konstanz: UVK, S. 143-169.

Hall, Stuart (2000): Die Konstruktion von ‚Rasse‘ in den Medien. In: Ders.: Ideologie, Kultur, Rassismus. Hamburg: Argument, 150–171.

Hall, Stuart (2004): Das Spektakel des ‚Anderen‘, in: Ders. Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg: Argument, S. 114-138.

Marchart, Oliver (2018): Cultural Studies. Konstanz: UTB.

Mecheril, Paul (2007): Politische Verantwortung und Kritik. Das Beispiel der Migrationsforschung. In: Figatowski, Bartholomäus et al. (Hg.): Making of migration. Repräsentationen, Erfahrungen, Analysen. Münster: Westfälisches Dampfboot, 24-32.

Peltzer, Anja (2012): Return to Sender? Kulturelle und politische Adaptionsprozesse hollywoodscher Identitätsangebote. In: Heinze, Carsten et al. (Hg.): Perspektiven der Filmsoziologie. Konstanz: UVK, S. 199-219.

Pries, Ludger (2012): Migration und Ankommen. Die Chancen der Flüchtlingsbewegung. Frankfurt a.M., New York: Campus. 

Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp.

Reichelt, Julian; Solms-Laubach, Franz (2019): „Clans sehen Deutschland als Beute“. In: Bild-Zeitung Quelle:  https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/seehofer-zu-clan-kriminalitaet-clans-sehen-deutschland-als-beute-62054664,jsRedirectFrom=conversionToLogin.bild.html#remId=1651362820945611213

Schiffauer, Werner (2008): Parallelgesellschaften: Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: transcript. 

Stahl, Christian (2014): In den Gangs von Neukölln: Das Leben des Yehyia E. Düsseldorf: Hoffmann und Campe.

Terkessidis, Mark (2010): Interkultur. Berlin: Suhrkamp.

Tränhardt, Dietrich (2006): Deutsche – Ausländer, in: Stephan Lessenich/Frank Nullmeier (Hg.), Deutschland. Eine gespaltene Gesellschaft, Bonn 2006, S. 273-294.

Yildiz, Erol (2007). Migration bewegt die Gesellschaft: Von der hegemonialen Normalität zur Alltagspraxis in der Migrationsgesellschaft. In Figatowski, Bartholomäus et al. (Hg.): The Making of Migration: Repräsentationen – Erfahrungen – Analysen. Münster: Westfälisches Dampfboot, 33-45.

Wallraff, Günter (1985): Ganz unten. Köln: Kiepenheuer und Witsch.

Willis, Paul (2013): Spaß am Widerstand: Learning to Labour. Hamburg: Argument.

Anmerkungen

[1] So lautet die erste Zeile, die der Rapper und Schauspieler Veysel im Titelsong von „4 Blocks“ rappt.
[2] Dies zeigte anschaulich Günter Wallraff (1985) in seiner bekannten Reportage, für die er in die Undercover-Rolle des türkischen Arbeiters „Ali“ schlüpfte.
[3] Die Verbindung feministischer und xenophober Argumente erscheint hier nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil sie – der Sache gegenüber eher untypisch – in aller Regel nicht von feministischem, sondern (rechts-)konservativem Standpunkt ausgeht.
[4] Ghadban (2018: 88) berichtet in diesem Zusammenhang von sogenannten „Sklavenbüros“, die irreguläre Beschäftigung vermittelten, um im Gegenzug 30 bis 40 Prozent der ohnehin weit untertariflich angesetzten Löhne einzubehalten.
[5] Die Angaben über diesen Teil der deutschen Einwanderungsgeschichte stammen aus Ghadban (2018).
[6] Die Rede von kriminellen Clans ist hierbei insofern irreführend, als keineswegs die gesamte Familie aus Gesetzesübertretern besteht. Von insgesamt oft über tausend Mitgliedern ist immer nur ein Bruchteil kriminell. Bloße Verwandtschaft legitimiert keine Sippenhaft.
[7] Auf die tiefe Verwurzelung der Clanstrukturen in der Gesellschaft deutet auch die folgende Anekdote hin: Im September des Jahres 2018 wurde ein bekanntes Clanmitglied mit kriminellen Verbindungen im Beisein seiner Frau und seiner Kinder am Tempelhofer Feld erschossen. Weil die Berliner Polizei weitere Racheaktionen befürchtete, entschied sie, die Beerdigung mit ihren 2.000 Teilnehmenden durch 150 Einsatzkräfte zu sichern (Dinger/Betschka 2018).
[8] In diesem Sinne bezieht sich auch Stuart Hall (2004: 142) auf Prozesse der „Stereotypisierung als Praxis der Signifikation“. Die kulturindustrielle Konstruktion ethnischer Differenz basiert laut Hall auf essenzialisierenden, reduktionistischen und naturalisierenden Repräsentationen.
[9] Worauf dieses genau beruhen soll, wird im Buch leider nicht klar ausbuchstabiert. Anhaltende Diskussionen um kriminelles Handeln im Fall der Cum-Ex-Papiere, des VW-Abgasskandals, der immer wieder monierten Korruption in der Bauwirtschaft oder auch der Steuerhinterziehung im Fall Uli Hoeneß deuten darauf hin, dass auch hier einiges im Argen liegen könnte.
[10] Demgegenüber betont etwa Heinelt (2019) den „rassistischen Charakter der aktuell von Politik, Behörden und Medien lancierten Kampagne gegen ‚Clans‘.“
[11] Die Tatsache, dass es sich bei ‚4 Blocks‘ dem Format nach nicht um einen Film, sondern um eine Serie handelt, schränkt die Anwendbarkeit der theoretischen Parameter nicht ein.
[12] Einen ähnlichen Schwerpunkt setzten zuletzt die Netflix-Produktionen „Dogs of Berlin“ (2018) und „Skyline“ (2019). Weitere verwandte Formate finden sich etwa in den Spielfilmen „Gegen die Angst“ (2019) und „Der Auftrag“ (2019). Im Pressespiegel des deutschen Feuilletons wurde die Sendung außerdem mit der US-amerikanischen Serie „The Sopranos“ sowie mit der italienischen Serie „Gomorrha“ verglichen.
[13] Zusätzlich zu den Rappern Massiv und Veysel als zentrale Protagonisten der Sendung finden sich in Nebenrollen unter anderem auch die Rapperin Unique und der Rapper GZUZ, die sich allesamt diesem Genre zuordnen lassen.
[14] Palästinensische und libanesische Familien wurden von den deutschen Behörden oft über Jahre hinweg als Staatenlose behandelt.
[15] Wenn Toni Hamady an seiner Zigarette zieht, knistert das abbrennende Filterpapier übrigens auch, während im Hintergrund überlaute Diskomusik läuft.
[16] Im hier skizzierten Widerspruch spiegelt sich schließlich auch die im Forschungsstand zum Thema aufscheinende Diskrepanz. Während Ghadban (2018) den Unwillen der Clans betont hat, sich in die deutsche „Wertegemeinschaft“ (auf die problematischen Dimensionen des Begriffs habe ich bereits oben verwiesen) zu integrieren, verweist Stahl (2014) auf eine omnipräsente Sehnsucht nach Teilhabe an der deutschen Gesellschaft.

 

Zuerst erschienen in: Berliner Debatte Initial, 31. Jg., Heft 2, S. 50-60.

Martin Seeliger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg.

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