Live Action Minecraft
von Klaus Nathaus
28.10.2025

Zur Situation öffentlicher Vergnügungsräume

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 27, Herbst 2025, S. 19-24]

»Our time here has helped make us who we are today,
and who knows what’s gonna happen next in our lives?«
stampylonghead, Stampy’s Lovely World, 21. Oktober 2023

Anfang April sorgte in Kinos auf mehreren Kontinenten ein Boxkampf Mann vs. Huhn für Aufregung. Die Szene in »A Minecraft Movie« zeigt einen langhaarigen Hünen, der zunächst nicht glauben kann, dass er sich jetzt mit Federvieh prügeln soll. Während er noch zaudert, wird über dem Ring eine Kiste heruntergelassen. Diese öffnet sich, und heraus fällt ein grünes Geschöpf, das auf dem Rücken des Huhns landet und sich im nächsten Augenblick als aggressives Zombie-Baby entpuppt. Der von Jack Black gespielte Steve, vertraut mit dieser seltenen Erscheinung, ruft seinem menschlichen Weggefährten noch schnell die Worte »Chicken Jockey« zu. Das eingeweihte Kinopublikum, mit aufnahmebereitem Mobiltelefon in der Hand, stimmte lautstark ein und machte aus Steves Warnung einen Schlachtruf zu Tumulten, die das Leinwandgeschehen in den Hintergrund verbannten.

Teenager sprangen aus ihren Sitzen, rissen sich das T-Shirt vom Leib, brüllten sich heiser und lachten wie von Sinnen. Man warf Popcorn und spritzte mit Cola. In Cardiff zündeten drei Teenager eine Konfettikanone; in Melbourne hüllten Kids das Chaos in Feuerlöschernebel; in Provo, Utah, schmuggelten Zuschauer ein lebendes Huhn ins Kino. Ahnungslose Erwachsene, die gekommen waren, um mit ihrem Nachwuchs einen Kinderfilm zu sehen, ließen zumeist stillschweigend das Spektakel über sich ergehen, bevor sie von Kinobetreibern ihr Eintrittsgeld zurückverlangten. Das Management wiederum begegnete dem Treiben mit harter Hand. Eines der zahlreichen TikTok-Videos zum »Chicken Jockey«-Trend zeigt eine Managerin, die dem Publikum versprach, dass bei Ausschreitungen die Polizei gerufen werde – und zwar nicht wegen des Publikums, sondern für die Abreibung, die sie den Chaoten verpassen werde. Der Ruf nach der Polizei blieb nicht immer leere Drohung. In Wasila, Alaska, eskortierten Beamte ein gutes Dutzend Teenager aus dem Saal, nachdem das Kinomanagement die körperliche Misshandlung einer Angestellten angezeigt hatte. Im australischen Erina beendete die Polizei die Auseinandersetzung zwischen zwei 14-Jährigen und zwei erwachsenen Männern, die sich vom Popcornregen herausgefordert sahen. Eines der meistgespielten TikTok-Videos zeigt, wie ein halbes Dutzend Jungs in Polizeibegleitung ein amerikanisches Kino verlässt, unter ironischen Abschiedsgesängen und Abklatschen der filmenden Peers. Um solche Eskalationen im Vorhinein zu vermeiden, beschränkten einige Kinos den Kartenverkauf auf Jugendliche in Begleitung von Erwachsenen oder zeigten den Film ohne die explosive »Chicken Jockey«-Szene.

Während bedauernswerte Reinigungskräfte mitunter unbezahlte Überstunden schoben, ging für die Kinos wie für die Verleihfirma MGM die Rechnung auf. Bereits am Premierenwochenende verbuchte der Film Einnahmen aus dem weltweiten Ticketverkauf in Höhe von über 300 Millionen Dollar, womit er einen neuen Rekord für Filmadaptionen von Videospielen aufstellte.

Angesichts solcher Erfolgszahlen sahen einige Beobachterïnnen im »Minecraft Movie« den diesjährigen Retter einer angeschlagenen Branche, die sich unter dem Eindruck der Streamer-Konkurrenz, nach der Covid-Auszeit und zuletzt unter dem Damoklesschwert amerikanischer Einfuhrsteuern für »ausländische« Filme von einem »Barbenheimer«-Filmereignis zum nächsten hangelt. Tatsächlich haben Hollywood-Studios bereits die nächsten Computerspieladaptionen in der Pipeline, von »Super Mario II« über »Grand Theft Auto« bis zu einer Neuauflage von »Resident Evil«. Disney hat sich mit Milliardeninvestitionen in den Spieleentwickler Epic Games (u.a. verantwortlich für »Fortnite«) dem Feld der spielebasierten Filme besonders entschlossen zugewandt.

Der Anreiz für die Produktion solcher Filme liegt auf der Hand, versprechen sie doch den Studios ein fast sichereres Publikum. »Ein Minecraft Film« scheint diese These eindrucksvoll zu bestätigen. Trotz geringer Internetaktivität in der Zeit zwischen Ankündigung des Films und seiner Premiere (von den Produzenten genau beobachtet beim sogenannten ›tracking‹) und ungeachtet weitgehend negativer Kritik, lockte die filmische Hommage ans Spiel zahlreiche Teenager in die Kinos.

Einen neuen Produktionstrend muss man darin jedoch nicht sehen. Denn zunächst einmal verlässt sich die Filmindustrie seit ihren Anfängen auf erfolgreiche Inhalte aus anderen Medien, um dem Problem der ungewissen Nachfrage rational zu begegnen. Man denke an den Erfolgsroman von Margaret Mitchell, der Filminvestoren in das teure Bürgerkriegsepos »Vom Winde verweht« (1939) Zutrauen gab, als historisches Beispiel. In neuerer Zeit erfüllen vor allem die Comic-Helden der Marvel- und DC-Universen diese Funktion. Obwohl es auf dem Terrain Flops zu verzeichnen gab, sehen Branchenbeobachter Computerspieladaptionen nicht als Nachfolger der Superheldenfilme, sondern als Ergänzung zu diesen. In die Top 50 der weltweit größten Box Office Hits jedenfalls konnte bislang als einziger spielbasierter Film nur der »Super Mario Bros. Movie« vorstoßen, verglichen mit fünfzehn Superheldenfilmen. Der »Minecraft«-Film wird an dieser Vorherrschaft wohl nichts ändern.

In die ökonomische Zukunft wiesen da schon eher die beiden anderen Filme, die um die Osterzeit gemeinsam mit dem »Minecraft«-Film die Spitzenplätze der Kinocharts belegten. Besonders an »Sinners« und »King of Kings« ist, dass sie neben einer Zielgruppe auch noch deren Geld in die Filmproduktion einbrachten. Im Falle von »Sinners« hatte Regisseur Ryan Coogler vermittels Kickstarter Geld eingeworben, mit dem der Filmemacher sensationell günstige Bedingungen mit dem Verleiher Warner Bros. aushandeln konnte. Dank des Erfolgs von »Sinners« an der Kinokasse fließt nun Geld an die vielen Kleinanleger zurück. Der Animationsfilm »King of Kings«, der das Leben Jesus Christus nacherzählt, wurde in ähnlicher Weise zum Teil durch die Angel Studios finanziert. Diese auf christliche Inhalte spezialisierte Distributionsfirma hat neben einem »Crowdfunding«-Portal ein Bewertungsverfahren etabliert, bei dem eine Million Mitglieder der Angel Guild Filme und Fernsehserien begutachten und mit darüber entscheiden, ob diese unter dem Angel Studios-Banner produziert und in den Vertrieb genommen werden sollen.

Verglichen mit diesen crowdfinanzierten Filmen blieb »Ein Minecraft Film« in ausgefahrenen Bahnen, was die Produktion angeht. Seine tiefere Bedeutung liegt tatsächlich in dem Tumult in einigen Kinos, der an die Unterhaltungskultur vor dem Tonfilm erinnert und Fragen über den gegenwärtigen Zustand öffentlicher Vergnügungsräume aufwirft. Publikum, das sich im Zuschauerraum bewegte, das filmische Geschehen kommentierte und, auch das, zuweilen Haustiere mit sich führte, war vor der Tonfilmumstellung nichts Ungewöhnliches. Film wurde wie eine Nummer eines Varietéprogramms vorgeführt, eingerahmt von Akrobaten und Witzereißern und begleitet von Musikern, die auch schon mal gegen den Erzählstrom extemporierten, indem sie eine Hochzeitsszene mit einem Trauermarsch unterlegten. Filmische Unterhaltung glich darin dem Kabarett, dem Tanzpalast und dem Rummelplatz: Bezahlte Performerïnnen improvisierten, wenn sie die Chance auf einen Lacher sahen, und animierten das Publikum zum Mitmachen. Damit ist nicht etwa Schunkeln und Klatschen gemeint, sondern schlagfertige Antworten auf Herausforderungen von der Bühne. Das populäre Vergnügen, das notwendigerweise ›live‹ und vor einem Präsenzpublikum stattfand, erforderte Geistesgegenwart von allen Beteiligten. Denn plötzlich konnte die Sängerin vom Podium herab ins Publikum treten und sich auf den Schoß des Herrn in der ersten Reihe setzen. Umgekehrt konnte ein inspirierter Zwischenruf den Bühnenkomiker auf eine Bewährungsprobe stellen. Künstler platzierten heimliche Partner im Publikum, die zur Überraschung der Umsitzenden ein Lied anstimmten oder in Dialog mit dem Bühnenperformer traten. Vorführungen waren bewusst darauf angelegt, Zuschauerïnnen zur allgemeinen Erheiterung auf dem falschen Fuß zu erwischen, und Anwesende mussten daher die Augen offen halten. Ohne verlässliche Skripts und mit beweglichen Rollen, war populäres Vergnügen riskant. Wer nicht aufpasste, war schnell der Dumme.

Versuche zur Disziplinierung des Publikums waren bereits im 19. Jahrhundert unternommen worden. Unter dem Banner der hehren Kunst hatte man Zuschauerïnnen und Hörerïnnen in Theatern und Konzertsälen das Schweigen und Stillsitzen beigebracht. Im populären Segment herrschte dagegen weiterhin Anarchie – bis in den 1930ern der erzählende Tonfilm die Performance ablaufen ließ, als würde niemand zuschauen. Im abgedunkelten Auditorium wurde aus dem Publikum eine Ansammlung von Voyeuren, die sich – gemeinsam allein – ins Leinwandgeschehen vertieften.

Von diesem Moment an begannen die Skripts der Massenkultur die Improvisationen der Vergnügungskultur einzuhegen und an den Rand zu drängen. Zum einen wurde ›content‹ mehr und mehr in privater Vereinzelung rezipiert, sei es über Radio, Fernsehen, Stereoanlage, Walkman oder zuletzt über personalisierte Spotify-Playlists. Zum anderen änderten ›Live‹-Darbietungen ihren Charakter, denn sie fanden ein Publikum vor, das sich leichter mitreißen ließ, wenn man ihm die bereits bekannte, von allen daheim eingeübte Studioversion vorsetzte. Technologie spielte dabei eine wichtige Rolle. Waren die Beatles mit ihren schwachbrüstigen Verstärkern noch von kreischenden Fans übertönt worden, wurde danach zur Überwältigung der Massen aufgerüstet. Vorstellungen wurden lauter, größer und immersiver mit ›surround sound‹, 3D-Brillen und 4DX-Schaukelstühlen.

Während die Skripts Überhand gewannen, verschwanden physische Räume, an denen man noch von ihnen abweichen konnte. Diese Entwicklung hat sich zuletzt dramatisch beschleunigt. In den USA gibt es im Vergleich zur Zeit vor COVID ca. 5.700 weniger Kinoleinwände. Dieser Schwund wird sich wohl fortsetzen, sind doch die Einnahmen aus Ticketverkäufen im selben Zeitraum um ein Viertel zurückgegangen. Im Vereinigten Königreich schlossen zufolge des Institute of Economic Affairs zwischen 1980 und 2014 insgesamt 21.000 Pubs ihre Pforten, mehr als die Hälfte davon nach 2006. Das Sterben dieser Institution lokaler Geselligkeit ging fortan weiter, zuletzt mit einer Rate von monatlich 34 in England und Wales. Von den 1.700 Tanzclubs, die 2013 im UK operierten, gab es im letzten Sommer nur noch weniger als die Hälfte, so die Night Time Industries Association. Der britische Music Venues Trust schätzte letztes Jahr, dass in den vorangegangen beiden Dekaden ein gutes Drittel der ›grassroots venues‹ ihren Betrieb eingestellt haben und die verbliebenen gut 800 Bühnen akut von gestiegenen Energiepreisen, Lebenshaltungskosten und Mieten bedroht seien. Im Gastronomiebereich sehen Ketten wie McDonald’s und Subway zwar Wachstumschancen, doch bedeutet diese Expansion nicht unbedingt eine Ausweitung des Raums für öffentliche Begegnungen. Denn das größte Wachstum in diesem Sektor verzeichnen Lieferdienste, welche den lauwarmen Burger zur Haustür bringen und den Gastronomiebetrieb zur ›ghost kitchen‹ reduziert. Von Shopping Malls zu Kegelbahnen ließe sich diese Liste verschwindender »third places« (Ray Oldenburg) problemlos verlängern.

Während physische Räume sich verengen, erweist sich die Online-Welt als unwirtlicher Ort. Viele Nutzerïnnen Sozialer Medien und anderer Plattformen erleben diese als »enshittified« (Cory Doctorow), d.h. nicht mehr länger ihren Bedürfnissen angemessen, sondern nurmehr den Interessen von Investoren dienlich. Zum Beispiel, statt den Kontakt zum möglichen Lebenspartner herzustellen (und damit das Engagement des Nutzers mit der App zu beenden), ermuntern Dating-Apps endloses Swipen durch unpassende Profile, mit Extraoptionen zum Zusatzpreis. Ein anderes Beispiel für den Niedergang der Online-Sphäre ist der ›AI slop‹, der Musikstreaming-Plattformen zu überschwemmen beginnt. Der Streamingdienst Deezer schätzte im April, dass täglich über 20.000 KI-generierte Tracks, d.h. 18 % des gesamten Aufkommens, hochgeladen würden, die dann von Bots angespielt würden, um Tantiemen zu generieren. Andere KI-Tracks segelten unter der Flagge bekannter Künstlerïnnen, um dann von deren verwunderten Fans gehört zu werden. So generiert künstliche Intelligenz Einkünfte für zwielichtige Akteure – auf Kosten leibhaftiger Musikerïnnen, zur Verärgerung des Publikums und letztlich zum Schaden für vermüllende Plattformen.

In Zeiten von ›ghost music‹ und ›ghost kitchens‹ ist ein Popcornregen, wie er bei der Vorführung des »Minecraft«-Films stellenweise niederging, erfreulich präsent. Das dialogfreie Kino-Skript ignorierend, probierten Teenager aus, was wohl passiert, wenn man die Reihen zwei bis zwölf mit Toilettenpapier eindeckt und dem uneingeweihten Sitznachbarn begeistert auf die Zehen springt. Solche ›live action‹ erzeugt seltener gewordene Unordnung im öffentlichen Raum. Diese wiederum erfüllt, folgt man dem Soziologen Richard Sennett, eine wichtige Funktion für das Erwachsenwerden, da sie Toleranz und die Fähigkeit zu konstruktiver Aushandlung erfordert.

Dabei ist der »Chicken Jockey«-Trend nicht einfach ein Echo des interaktionistischen Vergnügens der Zeit vor dem Tonfilm. Der Gebrauch der Mobiltelefone zur Dokumentation des Geschehens zeigt an, dass das Verhältnis zwischen IRL (In Real Life) und VR (Virtual Reality) komplex ist. Alle sind immer auch online, und in gewisser Weise hat auch bei den »Minecraft«-Vorstellungen eine vorangehende Medienerfahrung das leibhaftige Verhalten geprägt. In diesem Fall hat das Computerspiel mit seiner Offenheit einen Raum eröffnet für neugierige bis alberne Experimente mit »Lapis Lazuli« und »TNT«, seit bald fünfzehn Jahren durchgeführt von Millionen Kids und oft inspiriert von YouTube-»let’s plays«; ein paar Minuten aus »Stampy’s Lovely World«, die ihr Schöpfer Joseph Garrett nach 823 Folgen im Oktober 2023 mit den eingangs zitierten Worten verließ, geben einen guten Eindruck davon. Dieselbe Freude am sinnfreien Spiel sah man im April beim unorthodoxen Gebrauch eines Feuerlöschers und dem Mitführen freilaufender Hühner am Werk. MGM brachte »Minecraft« auf die Kinoleinwand, und das jugendliche Publikum nahm dies zum Anlass, das Spiel von der virtuellen Welt in den physischen Raum zu verlegen. Genervt kann man da als Erwachsener nach der Polizei rufen und sein Geld zurückverlangen. Oder aber man freut sich über den seltenen Bruch mit der Unterhaltungsroutine und wächst an der Herausforderung.

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