Romantischer Kannibalismus im Film
Nele Mueller-Stöfens Spielfilmdebüt Delicious (2025), das bei der diesjährigen Berlinale seine Premiere feierte, folgt einer wohlhabenden deutschen Familie bei ihrem Sommerurlaub in Südfrankreich. Nachdem sie eine junge Frau auf der Landstraße in einen Unfall verwickeln, sehen sie sich dazu gezwungen, ihr als Ausgleich eine Anstellung zu bieten. Im Laufe des Films kehrt sich das anfängliche Machtverhältnis allerdings um. Es wird deutlich, dass die Frau gemeinsam mit ihren Freund*innen systematisch reiche Familien infiltriert, um diese am Ende des Sommers zu töten und zu verspeisen – ein wörtliches „eat the rich“. Bei seiner Erstaufführung im Zoopalast stieß der Film auf scharfe Kritik aus dem Publikum: Gleich zwei Gäste äußerten während dem anschließenden Q&A lautstark, dass dies nicht das sei, „was die Welt aktuell bräuchte“. Unabhängig davon, was die Welt gerade braucht – Kannibalenfilme sind das, was sie bekommt. Delicious ist lediglich die letzte Instanz in einer Reihe von Filmen die, beginnend mit Claire Denis Trouble Every Day (2001), Kannibalismus als mehr oder minder subversive Metapher für Kritik an Kapitalismus, Konsum oder Objektifizierung einsetzen.
Über 500 Jahre nach der Entstehung des Begriffs des Kannibalismus scheint uns Menschenfresserei also noch genauso zu faszinieren wie schon die „Entdecker“ der „neuen Welt“. Die heute prominente Kannibalenfigur entstand 1472 während der ersten Reise von Kolumbus basierend auf fragwürdigen Berichten einiger amerikanischer Indigener sowie der Fehlbetonung des „Cariba“-Volks durch die spanischen Siedler. Die vermeintliche Existenz von Menschenfressern ermöglichte es den Konquistadoren, ihr koloniales Projekt und die damit einhergehende Unterdrückung der „wilden“ Eingeborenen im Namen der Zivilisierung zu legitimieren. Im Laufe der Zeit wurden diverse Gruppen aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen und religiösen Realitäten, wie z.B. Jüd*innen, koloniale Subjekte, Arbeitende, Frauen, Homosexuelle, Christ*innen und Nichtchrist*innen des Kannibalismus beschuldigt. Die vermeintliche Barbarei dieser Gruppen ermöglichte es nicht nur, ihre Unterordnung zu rechtfertigen, sondern gleichzeitig auch ein moralisch überlegenes, aber gleichzeitig immer durch das wilde „Andere“ gefährdetes Selbst zu erschaffen.
Den kolonialen und rassistischen Ursprüngen des Begriffs entgegen wird Kannibalismus seit der frühen Neuzeit allerdings auch zunehmend verwendet, um westliche kulturelle Praktiken und hegemoniale Normen zu kritisieren und vermeintlich rigide Kategorien zu destabilisieren. Ein frühes Beispiel ist Michel de Montaignes Essay „Des Cannibales“ (1580), in dem er seine Landsleute dafür kritisiert, sich während den französischen Bürgerkriegen buchstäblich aus nacktem Hass „roh zu fressen“. Die Anthropologin Shirley Lindenbaum argumentierte 2004, dass wir in einer globalisierten Welt die “reality of cannibal practices among ourselves as well as others” anerkennen sollten, um die historische Trennung von „Barbaren“ und „Zivilisierten“ zu zerstören. Aktuelle Werke wie die Anthologie Interdisciplinary Essays on Cannibalism: Bites Here and There (2021) zeigen, dass Kannibalismus nach wie vor als Instrument eingesetzt wird, um zur kritischen Selbstreflexion anzuregen und gewalttätige oder ausbeuterische Praktiken anzuprangern, die unhinterfragt als normal angesehen werden.
Umso erstaunlicher ist, dass Kannibalismus als sublimierte Grundlage gleichzeitig genauso genutzt wird, um über Akte der Liebe zu sprechen. Wir finden ihn in Redewendungen, die Liebe oder Sex mit Konsum in Verbindung bringen, z.B. wenn wir jemanden „zum Fressen gern haben“ oder jemand „zum Anbeißen“ aussieht. Einige unserer Rituale fördern sogar metaphorischen Kannibalismus, wie die katholische Eucharistie, bei der die Teilnehmenden die Liebe Christi empfangen, indem sie sein „Leib und Blut“ verzehren. Durch westliche Mediengeschichte hindurch finden sich kontinuierlich Werke, in denen Charaktere ihre Geliebten verspeisen oder zumindest mit dem Gedanken spielen. Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, wurde kannibalisches Begehren in frühen Narrativen meist sublimiert oder versteckt, geschah unterbewusst oder durch Charaktere, die als psychisch krank oder wild und animalisch dargestellt wurden. Erst seit den 1990er Jahren haben sich fiktive Kannibal*innen von Monstern ohne jegliche Subjektivität zu Menschen mit komplexen inneren Welten gewandelt, für die Rezipierende Empathie empfinden können.
Obwohl die weibliche Kannibalin nicht neu ist, lässt sich seit den 1990er Jahren dennoch ein bedeutender Zuwachs an Narrativen feststellen, die Frauen zentrieren und von ihnen verfasst werden. Auffallend ist zudem, dass Kannibalinnen teils bis in die 1980er Jahre hinein lediglich als Teil eines Stammes oder einer Familie und damit ohne eigene Subjektivität und Unabhängigkeit dargestellt wurden. Erst im Laufe der 1980er Jahre entwickeln sich u.a. mit Eckhard Schmidts Der Fan (1982) oder Slavenka Drakulićs Das Liebesopfer (1995) Narrative, die Kannibalinnen als Individuen in den Fokus stellen.
Maggie Kilgour bezieht sich auf psychoanalytische Theorie, um die häufige Assoziation von Kannibalismus und Weiblichkeit zu erklären: Während sich die männliche sexuelle Identität durch das Bedürfnis entwickle, die Mutter zu verleugnen und sich mit dem Vater zu identifizieren, der den Zugang zur symbolischen Ordnung gewährt, würde die weibliche Sexualentwicklung eine kontinuierliche Identifikation mit dem ersten Liebesobjekt beinhalten. Folglich, so Kilgour, würden Frauen dazu neigen, eine weniger starre Beziehung zwischen dem Selbst und der Außenwelt zu entwickeln. Darüber hinaus ermögliche der weibliche Körper als transgressiver, grotesker Körper die Verwischung und Auflösung von Eigentumsgrenzen.
Ähnlich identifizieren sowohl Hélène Cixous als auch Julia Kristeva das „Weibliche“ als etwas, das sich nicht in Entweder-Oder-Kategorien einordnen lässt und diese dadurch unterläuft. Nach Cixous‘ “Castration or Decapitation?” (1981) überschreitet die Frau ihre Limitationen: “she is neither outside nor in“. Kristeva beschreibt das Weibliche in Powers of Horror (1982) als eine „asymmetrical, irrational, wily, uncontrollable power“, die das Männliche bedroht. Kannibal*innen, die durch den Konsum ihrer eigenen Spezies gleichzeitig menschlich und un(ter)menschlich sind, nehmen eine ähnlich grenzüberschreitende Position ein, die etablierte binäre Oppositionen wie nicht-essbar/essbar dekonstruiert. Beide können demnach als Bedrohung für etablierte (patriarchale) Ordnungen angesehen werden, da sie soziale Abgrenzungen und Hierarchien zerstören.
Volkstümliche Mythen wie die der vagina dentata offenbaren zudem männliche Ängste vor der Einverleibung durch den weiblichen Körper sowie das daraus resultierende Bedürfnis, diesen zu kontrollieren und zu unterdrücken. Diese Ängste finden sich z.B. in den Briefen und Berichten der Entdecker der „neuen Welt“, in denen Frauen immer wieder die Rolle des „Verschlingers des universellen Subjekts“ einnehmen. Wie Sabine Schülting in ihrem Buch Wilde Frauen, Fremde Welten (1997) hervorhebt, konstruierten die Kolonisatoren die kannibalische Figur als Umkehrung ihrer eigenen christlich-abendländischen männlichen Identität, die durch die „fremden Frauen“ bedroht wurde. Indigene Frauen, so Schülting, konnten sich europäische Machttechniken aneignen, indem sie den männlichen Körper ihrer Lust unterwarfen, ihn zerstückelten und verschlangen und so seine Männlichkeit sowohl symbolisch als auch wörtlich auslöschten.
Seit den 1990er Jahren gibt es einen stetigen Strom kultureller Produktionen, die sich auf dieses Erbe der „wilden Frau“ beziehen: Der Verzehr des meist weißen, hetero-cis-männlichen Unterdrückers durch die Kannibalin wird hier als Metapher für die Rückgewinnung von weiblicher Handlungsfähigkeit in einer patriarchalen Gesellschaft eingesetzt. Insbesondere in einem postfeministischen kapitalistischen System, in dem Frauen gleichzeitig von Männern konsumiert werden und ihre Identität durch Konsum konstruieren, kann der weibliche Kannibalismus auch als Kritik am patriarchalischen Konsumverhalten interpretiert werden, indem er dessen Widersprüche offenlegt. Kannibalinnen wie die Protagonistinnen von Julia Ducourneaus Grave (2016) oder Chelsea Summers A Certain Hunger (2020) stellen zudem konventionelle Vorstellungen von Weiblichkeit als passiv und fürsorglich in Frage, indem sie ihren körperlichen Begierden uneingeschränkt nachgeben.
Grave folgt der Musterschülerin Justine in ihrem ersten Jahr an einer renommierten Tierärztlichen Hochschule. Während der Orientierungswoche wird sie von älteren Studierenden, allen voran ihrer großen Schwester Alex, dazu gezwungen, an verschiedenen Einweihungsriten teilzunehmen. Nachdem Alex in einem dieser Rituale die vegetarische Justine dazu zwingt, eine rohe Kaninchenniere zu verspeisen, entwickelt diese einen unkontrollierbaren kannibalistisch-sexuellen Trieb. Alex, die dasselbe Verlangen empfindet, versucht Justine beizubringen, wie sie mit ihren Zwängen umgehen kann. Der Beginn des Studiums wird in Grave als zweite Instanz der Ego-Formation dargestellt: Die Wiedervereinigung mit Alex, die ihr besser angepasstes Spiegelbild repräsentiert, zwingt Justine dazu, ihre bequeme und harmonische Position in der nuklearen Familie aufzugeben und stattdessen in eine neue „Ordnung“ mit dementsprechend neuen Regeln und Verboten einzutreten.
Während Justine zu Beginn des Films in ihren neutralen und formlosen Kleidern noch nicht geschlechterdifferenziert erscheint, entwickelt sie erst während dieser symbolischen Begegnung mit ihrem Spiegelbild ihre sexuellen Instinkte und nimmt ihren „richtigen“ Platz in der Mann-Frau-Binärstruktur ein. Diese Entwicklung entspricht der Phase des Freudschen primären Narzissmus: Bevor sich ihre Sexualtriebe nach außen verlagern, begehrt Justine sich selbst, wie in ihrem leidenschaftlichen Herumknutschen mit ihrem eigenen Spiegelbild deutlich wird. Kurz darauf beißt sie einem Mitschüler bei einer Party ein Stück aus der Lippe während sich die beiden küssen. Bei Justines erstem Mal mit ihrem engen, eigentlich schwulen, Freund Adrien versucht sie wiederholt, ihn zu kratzen und zu beißen und kommt schließlich zum Orgasmus, als sie tief in ihren eigenen Arm beißt. Kritiker*innen wie Katherine Dooley loben Grave dafür, den „patriarchalen Blick“ des generischen Horrorfilms zu zerstören, indem Justine den Status der Verfolgerin anstatt der Verfolgten einnimmt. Sie argumentiert, Justine würde den Status quo des Kapitalismus, der auf die Überwachung und Regulierung individueller Körper angewiesen ist, angreifen, indem sie sich schamlos dem hemmungslosen Konsum hingibt.
Ähnlich wie Alex, die am Ende des Films für den Mord von Adrien verhaftet und eingesperrt wird, wird Dorothy Daniels, die Protagonistin von Chelsea Summers Body-Horror-Roman A Certain Hunger, für den Mord und Konsum fünf ihrer Liebhaber zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Gründe für Dorothys mörderischen Kannibalismus sind vielfältig und reichen von bloßem kulinarischen Genuss, sexuellem Vergnügen, einem Gefühl der ständigen Gesellschaft, der „Selbstverfestigung“ bis hin zu letztendlich einem intensiven Machtrausch in einer Welt, in der Macht größtenteils von Männern gehalten wird. “To eat people is to get the taste of a Titan. It’s infinite immortalization. It makes a god out of a woman.”, schreibt sie in ihrem fiktionalen Memoir.
Ihren jahrelangen kannibalistischen Streifzug präsentiert sie deshalb als einen Kampf, um vielfältigere Rollen für Frauen zu erschaffen, und fordert andere Frauen auf, sich ihr anzuschließen. Sie bezieht sich auf die Unterdrückung von Frauen, um für kannibalistische Gewalt an Männern als gerechtfertigte Vergeltung zu plädieren. Nach ihrer Verurteilung kritisiert sie die Regeln und Erwartungen, die ihrem Geschlecht auferlegt werden: “Unfettered violence, anger unleashed, the will to destroy, the need to undo – these acts run counter to everything we like to think we know about the feminine nature.”
Die Kannibalin unterläuft dementsprechend das patriarchale System gleich dreifach: In ihrer Verletzung des kulturellen Tabus, die eigene Spezies zu verspeisen, in ihrer Umkehrung der Jäger-Beute-Dichotomie sowie in ihrer Weigerung, sich den kulturellen Normen zu beugen, die Frauen zugeschrieben werden. Gleichzeitig versucht Dorothy allerdings auch ihre Impulse und Handlungen zu normalisieren. Eine fundamental menschliche kannibalistische Tendenz, argumentiert sie, spiegelt sich zum Beispiel in unserer Sprache wider, wenn wir „ravish our lovers, nibble their ears, lick their vulvas, or swallow their cocks,”, sowie in unseren kulturellen Praktiken, wie der Eucharistie. Ähnlich wie Kleists Penthesilea, die ihren kannibalistischen Lustmord an Achill rechtfertigt, indem sie erklärt, dass sie einfach das getan hat, was „viele eine Maid“ ihrem Geliebten sagen werden, argumentiert Dorothy: „Eat what you love,’, they say, and I have.“
Neben Assoziationen mit weiblicher Sexualität wird der Kannibale auch häufig genutzt, um über den Homosexuellen zu sprechen und umgekehrt. David Bergman schreibt in Gaiety Transfigured (1991), dass sich die Assoziation zwischen Kannibalismus und „Sodomie“ bereits bei Epiphanius im 4. Jahrhundert oder in der Summa Theologica von Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert findet. Diese Verbindung, so Bergman, wurde nicht von homosexuellen Autoren selbst kreiert, sondern ihnen von Außenstehenden aufgezwungen, die versuchten, Homosexualität als etwas „Unnatürliches“ oder „Dämonisches“ darzustellen. Die Aneignung und Transformation des Motivs des homosexuellen Kannibalen durch schwule Schriftsteller diene laut Bergman im Gegensatz dazu, ihre Liebe zu „naturalisieren“, indem sie sie in einer früheren oder archaischen Gesellschaft ansiedeln. In ähnlicher Weise argumentiert Caleb Crain, der sich in seinem breit rezipierten Artikel „Lovers of Human Flesh: Homosexuality and Cannibalism in Melville‘s Novels“ (1994) auf Bergman beruft, dass die „unspeakable rite“ des Kannibalismus seit langem in „discourses of preterition“ in verschiedenen Medienformaten verwendet wird, um über ähnlich „monströse“ Verhaltensweisen, beispielsweise die Homosexualität, zu sprechen.
Kannibalismus als Metapher für queeres Begehren findet sich auch in zeitgenössischer Popkultur. Luca Guadagninos Bones and All (2020), die gleichnamige Filmadaption von Camille DeAngelis’ Jugendroman (2015), ist eines der bekanntesten Beispiele für diese Verbindung. Obwohl der Film die heterosexuelle romantische Beziehung zwischen den zwei „Eatern“ Maren und Lee zentriert, so können beide Protagonist*innen auch queer gelesen werden. Der Beginn des Films spiegelt die Erfahrungen vieler queerer und trans Kindern und Jugendlichen, die von ihren Eltern verstoßen werden: Maren wird von ihrem Vater zurückgelassen, nachdem dieser erkennt, dass ihre kannibalistischen Triebe nicht nur eine „Phase“ sind.
Von ihrem Vater lernt sie, dass ihr angeborenes Begehren unnatürlich ist und unterdrückt werden sollte. Der Film spielt in der Reagan-Era, in der die AIDS-Krise die bestehende gesellschaftliche Homophobie maßgeblich verstärkte. Maren erlebt die Scham, Selbstverachtung und soziale Ausgrenzung, die viele im Verborgenen lebende queere Menschen in dieser Zeit erfuhren. In einem Interview mit Mashable erklärt der Drehbuchautor David Kajganich, dass Horror, als ein Medium, das alltägliche Ängste veranschaulicht, und Kannibalismus, als ein Symbol des Unmoralischen, eine perfekte Kombination bilden, um zu zeigen „how it feels when your completely natural way of being intimate is judged as morally violent and socially destructive“. In Lees Charakter wird die Verbindung von queerem und kannibalischen Begehren noch deutlicher: Er schneidet einem seiner männlichen Opfer in dem Moment, in dem er ihm zum Orgasmus bringt, die Kehle durch.
Die Szene danach, in der Maren und Lee ihn bei noch lebendigem Leib verschlingen, ist durch zahlreiche Nahaufnahmen, der Abdunklung sowie der Hervorhebung von Stöhnen, Schmatzen und Schlucken an die filmische Inszenierung von Sexszenen angelehnt. Kannibalismus als Metapher für sexuelles Begehren kann heteronormative Vorstellungen von Sex destabilisieren, indem der Fokus weg von genitalzentrierten Handlungen und hin zu Mund, Zunge und Rachen als primäre erogene Zonen verlagert wird. Im Gegensatz zu penetrativem Sex in cis-heterosexuellen Beziehungen ermöglicht Sex nach dem Vorbild des Kannibalismus einen fließenderen Austausch von Macht, da beide Partner gleichzeitig konsumieren und konsumiert werden können, und bricht so mit den Rollen, die den Sexualpartnern in einem heteronormativen Rahmen zugeschrieben werden.
Während sich die Verbindung von Kannibalismus und romantischer Liebe durch westliche Mediengeschichte, von der Bibel über französische Mittelalterliteratur und den Slasher-Zombiefilm bis hin zu Tumblr, hindurchzieht, ist der drastische Anstieg dieser Narrative in den letzten Jahren doch auffällig. Diverse verschiedene mögliche Erklärungen spielen hier zusammen. Durch die konstante Konfrontation mit blutigen und gewalttätigen Bildern werden Rezipierende im digitalen Informationsalter zunehmend gegenüber sowohl realer als auch fiktionaler Gewalt desensibilisiert. Um starke Reaktionen hervorzurufen, müssen deshalb ultimative Tabus auf immer grausamere Weise gebrochen werden. Studien wie “Media for Coping During COVID-19 Social Distancing: Stress, Anxiety, and Psychological Well-Being” (2020) zeigen außerdem, dass Konsumierende in Stresssituationen eher zu extremen Themen hingezogen werden, die sie von ihren persönlichen Sorgen ablenken können.
Ausgangsbeschränkungen und die Arbeit im Home-Office förderten zudem bestehende Gefühle der Isolation und Einsamkeit. Sarah Sceats argumentiert in Food, Consumption, and the Body in Contemporary Women’s Fiction (2003), dass Hunger in einer kapitalistischen Gesellschaft sich nicht mehr nur auf das Bedürfnis nach Nahrung bezieht, sondern zu einem allgemeinen Ausdruck für eine überwältigende menschliche Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und einer vollständigen Vereinigung des Selbst mit dem Anderen wird. Die relative Anonymität des Internets macht es möglich, diese extremen und teils transgressiven Fantasien, die sich in verschiedenen Formen materialisieren, vergleichsweise bedenkenlos zu äußern. Obwohl sich diese Fantasien häufig aus dem Wunsch nach Verbindung und Gemeinschaft in einer digitalisierten und individualistischen Gesellschaft entwickeln, spiegeln sie in ihrem Verlangen, die geliebte Person zu besitzen, dennoch die Mechanismen ebendieser Gesellschaft, die Konsum und Objektivierung fördert. In dem Sinne ähnelt die moderne, romantisch rekonfigurierte Kannibalenfigur der Kannibalen-Konstruktion der „Entdecker“ Amerikas, da sie gleichermaßen die Erweiterung der persönlichen Grenzen und die Integration des Anderen um jeden Preis beinhaltet.