Deparatextualisierung auf Twitter
von Johannes Paßmann
1.6.2024

Automatisiertes Teilen am Ende der Trump-Präsidentschaft

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 112-117]

Muss man sich jetzt wirklich noch mal mit Trump und seinen Tweets befassen? Ist nicht schon viel zu viel zu den ziemlich billigen Tricks des 45. amerikanischen Präsidenten gesagt worden? So dachten Carolin Gerlitz und ich auch, die wir schon seit etwa zehn Jahren zu Twitter arbeiten. Für ein gemeinsames Projekt haben wir kürzlich Twitter-Daten erhoben, darunter zwei Datensätze über die Präsidentschaftsbewerber Biden und Trump. Kurz gesagt haben wir uns mit der Frage befasst, wie die Tweets der beiden Kandidaten retweetet werden. Lassen sich unterschiedliche Praktiken der Unterstützung beobachten?

Das Ergebnis war zunächst genau so, wie wir erwartet hatten: Zwar haben beide starken Support, aber Trump wird vor allem auch von jenen weiter popularisiert, die ihn ablehnen. Er ist derjenige, der kommentiert werden muss. Im vorliegenden Text wollte ich dieses Ergebnis ausarbeiten, weil es an meine vergangene Kolumne in Heft 15 über das Beispiel »Rezo« anschließt, in der ich zwei Modi der Popularisierung auf sozialen Medienplattformen unterschieden habe. Der eine lautet »Übersetzung«, das ist die gängige Form der Verbreitung durch (stets etwas geänderte) Weitergabe, der andere »Elizitation«, d.h. die Provokation von etwas Ungesagtem. Elizitation, so die These, wird auf den Plattformen zu einem sehr viel wichtigeren Modus der Popularisierung, als dies in älteren Mediensystemen der Fall war. Ob Rezo oder Trump: Populär ist, wer der Öffentlichkeit Reaktionen aufnötigen kann.

Bei genauerer Untersuchung der Trump- und Biden-Daten fiel uns aber noch etwas anderes auf: Viele Praktiken des Retweetens reflektieren genau diese Logik der Popularisierung auf Plattformen und versuchen »Workarounds« zu erarbeiten, um diesem scheinbaren Determinismus zu widerstehen – oder ihn zumindest sichtbar zu machen.

In unserem Datensatz fanden wir etliche Accounts, die Trumps Tweets automatisch teilen. Solche Accounts fallen mit digitalen Methoden leicht auf, weil sie große Häufigkeiten erzeugen. Wir hatten uns alle Tweets von Biden und Trump in einem Intervall von sieben Tagen heruntergeladen und Daten darüber gesammelt, welche Accounts diese Tweets retweeten. Die Accounts, die deren Tweets automatisch teilen (»Retweet-Bots«) fallen dabei entsprechend stark auf, weil sie in der Regel in die Nähe von 100 % kommen (d.h. sie retweeten jeden Tweet von Biden oder Trump).

Das Interessante daran war nun: Diese Dichte an Retweets für die Tweets des Präsidenten ist manchmal mehr als eine hohle Geste der Unterstützungsbekundung und sagt nicht notwendig etwas über die politische Verortung solcher automatisierten Praktiken. Unter den Accounts, die jeden Tweet des Präsidenten teilen, fanden sich Accounts wie @trumpsvomit, dessen Profilbild ein Foto Donald Trumps zeigt, dem die Frisur von Kim Jong-un aufmontiert ist. In der Bio – also der kurzen Selbstbeschreibung, die für jeden Account vorgesehen ist – steht: »Trump Tweet Mirror – retweets #trumpsvomit to inform citizens & deny the demagogue more followers. :/ #unfollowtrump #notmypresident #theresistance #TrumpsVomit«. Diese Begründung für das automatisierte Teilen von Trumps Tweets findet sich auch bei anderen Accounts, die sich als »Mirror« bezeichnen, wie etwa @iRetweetTrump: Sie ermöglichen, die Tweets des Präsidenten zu erhalten, ohne zu seinem Follower zu werden und so dessen Followercount zu erhöhen. Damit löst man das Problem, dass man die politisch relevanten Nachrichten erhalten möchte, Trump und seiner Bewegung aber gleichzeitig auch nicht das geringste Signal möglicher Unterstützung zukommen lassen will.

Was macht dies mit der Lektüre der Tweets? In Gérard Genettes »Paratexte« ist zu lernen, dass der populäre Autorenname dem Ruhm des Werks zuvorkommt, »indem er dessen Auswirkungen vortäuscht«. Derselbe Text wird deshalb mit einem anderen Autorennamen anders gelesen. Indem @trumpsvomit die Tweets mit einem eigenen Autorennamen benennt, wird erstens jeder Tweet als Text des Autors gerahmt, von dem bekanntermaßen nur »Kotze« kommt. Zweitens schneidet man zugleich die Quelle dieses Autorenruhms ab – soweit es als einzelne*r User*in eben möglich ist, indem man dem Autor selbst nicht folgt, sondern nur seinem Kritiker. Drittens stellt man das Dilemma der Trump-Tweets offen aus: Wir wissen, dass immer nur dieselbe »Kotze« kommt, zu der wir uns verhalten müssen, weil der Autor nun mal in der Lage ist, uns ständig Reaktionen abzunötigen.

Noch einen Schritt weiter geht bei dieser Praktik der Account @UnfollowTrump – und ist damit wesentlich populärer als andere Mirror-Accounts: @trumpsvomit hat 169 Follower, @iRetweetTrump 6.049, @UnfollowTrump hingegen hat über 133.000. Besonders macht diesen Account, dass er zwar die Tweet-Texte Trumps originalgetreu teilt, aber nur als reproduzierte Kopie und nicht – wie die anderen – per Retweet.

In der Konsequenz werden alle Paratexte wie Like-Counter und Replies ausgespart. Man bekommt so noch den Text von Trumps Tweets, aber nicht mehr den originalen Tweet selbst, und dieser Original-Tweet erhält auch keine weiteren Retweets. Während die kleineren, technisch einfacheren Trump-Mirror also bloß verhindern, dass Trumps Follower-Count steigt, und den Effekt haben, dass über jedem Tweet in klein ein zweiter Name wie @trumpsvomit steht, erweitert @UnfollowTrump dies entschieden. So schneidet er nicht nur die anderen Counter ab (während @trumpsvomit etwa auch Trumps Retweet-Counter um einen Retweet erhöht); @UnfollowTrump erspart es, mit Trumps eigenem Account überhaupt in Berührung zu kommen und all den Replies, mit denen seine Unterstützer- und Gegnerschaften regelrechte Beachtungsschlachten unter seinen Tweets austragen.

Der Vergleich mit dem Biden-Sample zeigte, dass diese automatische Deparatextualisierung eine Trump-spezifische Praktik ist: Solche Clients fanden sich nicht unter den Accounts, die Biden retweeten. Hier waren eher Versuche zu beobachten, automatisiert die Biden/Harris-Kampagne zu unterstützen: Der Client »$tup!dTwitB0t$« etwa ist im Biden-Datensatz stark vertreten und findet sich prominent in Tweet-Sammlungen, die Hashtags wie #Biden2020 oder #KHive nutzen – letzteres ist ein Hashtag, unter dem sich im US-Wahlkampf 2020 Sympathisant*innen der Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris versammelt haben. Bemerkenswert erscheint auch die Selbstbeschreibung des Accounts, der den Bot betreibt: Als Namen gibt er »Russ ›Vote Him Out‹ M« an. In seiner Profilbeschreibung formuliert er das Ziel des Accounts: »Dedicated to getting rid of Trump«. Die geteilten Tweets sind pro Biden/Harris, die Mission ist aber die Ablehnung Trumps. Die Praktiken der Ablehnung Trumps werden insofern per Automatisierung auf Dauer gestellt: Sei es, indem man sich seine Tweets mitteilen lässt, ohne ihm folgen zu müssen, oder indem man die politischen Botschaften seiner Gegner*innen verbreitet.

Ob diese Verbreitung ein relevanter Akt des Widerstandes ist, darf bezweifelt werden, denn das automatisierte Retweeten kann leicht zur leeren Geste werden: Der Inhalt ist egal; was auch immer Biden und Harris sagen, ihr Wort wird geteilt. Bemerkenswert erscheint vielmehr der Akt der Automatisierung selbst. Dabei ist mal die Position, die man hat, so unverrückbar, dass man auch automatisch die Tweets mit #KHive retweeten kann, mal ist die Kritik so grundsätzlich, dass man sie gar nicht mehr einzeln benennen muss: Alle Tweets von Trump sind »Kotze«, diese Wertung ist im @trumpsvomit-Bot gewissermaßen hartcodiert. Ähnliche Praktiken gibt es auch in Deutschland. So postet der Bot @FCKAFD_RAUS automatisch unter jeder Sonntagsfragen-Grafik von Accounts wie @wahlrecht_de, in der die Prozente der AfD mit blauem Balken abgebildet sind, eine Grafik, in der derselbe Balken braun ist.

So wird eine eigenständige Bedeutung durch Automatisierung etabliert: Es ist egal, was Trump sagt, egal, was die AfD behauptet, auch für die Zukunft ist vorprogrammiert, wie sie zu bewerten sind. Dies ist mehr als die bloße Abwertung politischer Akteure a priori. Es ist auch eine Kritik an ihrer Vorhersehbarkeit, an den simplen Tricks, mit denen sie operieren: So wie die Bots immer nur wiederholen, wofür sie programmiert sind, sind demnach auch Trump und die AfD bloß noch Träger ihrer rhetorischen und medienpraktischen Schemata. Es ist die Praktik der Wiederholung selbst, die »einen Raum für Bedeutungsverschiebung eröffnet«, wie Hilmar Schäfer unter Rückgriff auf Gilles Deleuze schreibt.

Dabei kommt es auch darauf an, welche Elemente der Praktik in die automatisierte Wiederholung mit eingeschlossen sind und welche nicht, wie der Fall @UnfollowTrump zeigt: Die Deparatextualisierung bringt mit sich, dass auch die Orte der – demnach vorhersehbaren, sinnlosen, vielleicht gar schädlichen – Auseinandersetzung nicht mit-geteilt werden. Die Bedeutungsverschiebung durch Wiederholung hängt damit ganz wesentlich an der Art und Weise ihrer Automatisierung: Man kann denselben Tweet auf sehr unterschiedliche Weise wiederholen, und dies zeitigt ganz unterschiedliche Anschlusspraktiken. Damit ist freilich nicht gesagt, dass Trumps Tweets durch die Deparatextualisierung entschärft werden, aber sichtbar wird eine Praktik des Umgehens mit der problematisierten Popularität, die auf das Ignorieren des ubiquitär Populären angelegt ist: Man will den Popularisierungsautomatismen der Plattformen entkommen, und die Mirror-Bots dokumentieren diesen Versuch.

Dies lässt sich auch als Signal eines Wandels von Paratext-Praktiken lesen. Mit den Plattformen sind gerade die Popularitäts-Paratexte ubiquitär geworden, und es darf als evident gelten, dass sie die Lektüre mitkonstituieren: Die Tweets eines Accounts mit einer Million Followern werden anders gelesen als die von jemandem mit hundert Followern, und ein Post mit 100.000 Likes wird anders gelesen als ein ungelikter. Mit den Social-Media-Plattformen hat sich aber nicht nur geändert, dass Popularitätskennzahlen automatisch neben beinahe allen Texten, Bildern und Klängen erscheinen, es verändert sich auch die Verteilung der Verantwortung für diese Paratexte.

In der Einleitung zu »Paratexte« schreibt Genette noch, dass mit den Paratexten »immer der Autor oder einer seiner Partner verantwortlich zeichnet«. Die Co-Konstitution der Lektüre durch den Paratext ist deshalb »übernommene Verantwortung« eines Kollektivs aus Verlag und Autor*in. Diese Verantwortung nimmt die Plattform ihren User*innen zum Teil ab (man kann keinen unlikebaren Tweet schreiben), delegiert sie aber auch an sie weiter (jeder Like erscheint im Counter). War diese Verantwortung beim Buch noch auf wenige Personen beschränkt, so wird der Kreis jener, die am digitalen Paratext der Plattformen mitschreiben, sehr viel größer.

Der Soziologe Anthony Giddens hat zur Beschreibung solcher Dynamiken die Metapher des »Juggernaut« aufgegriffen: »living in the modern world is more like being aboard a careering juggernaut […] rather than being in a carefully controlled and well-driven motor car«. Den Prozessionswagen »Juggernaut« schiebt eine unbestimmbare Menge von Personen an, sodass er sich zwar durch ihre Kraft bewegt, aber gleichzeitig von niemand einzelnem gesteuert werden kann: »we can drive to some extent but which also threatens to rush out of our control and which could rend itself asunder. The juggernaut crushes those who resist it, and while it sometimes seems to have a steady path, there are times when it veers away erratically in directions we cannot foresee.«

So wie die alten Mediensysteme mit ihren Gatekeepern bei Verlagen und Fernsehsendern eher dem steuerbaren Automobil gleichen, entsprechen die Popularisierungslogiken der Plattformen eher einem »Juggernaut«. Alle schieben mit, die Verantwortung und Kontrolle ist aber so dispers, dass niemand einzeln rechenschaftspflichtig zu sein scheint.

Das Phänomen der Deparatextualisierung zeigt, dass dieser Umstand, also die Macht der Popularitätscounter und die Handlungsträgerschaft der Einzelnen als Gruppe dabei, in der Praxis reflexiv wird. Auch dies ist für Giddens ein typisch modernes Phänomen: »The reflexivity of modern social life consists in the fact that social practices are constantly examined and reformed in the light of incoming information about those very practices, thus constitutively altering their character.«

Darüber, was diese Reflexivität an den Praktiken des Folgens, Likens oder Retweetens ändert und an der Unterstützung populistischer Kommunikation, ist damit freilich nichts gesagt. Die Ergebnisse der US-Wahl zeigen jedenfalls, dass die Auswirkungen dieser Reflexivität zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu groß sind.

Das galt auch für den jüngsten Fall der Deparatextualisierung bei der Stürmung des Kapitols am 6.1.2021. Bevor einzelne Tweets Trumps, in denen er weiterhin von einer gestohlenen Wahl sprach, gesperrt wurden, hatte Twitter lediglich deren Like- und Reply-Optionen abgeschaltet. Man konnte die Tweets lesen und retweeten, aber nicht mehr liken und kommentieren. Um die Situation zu entschärfen, sperrt man erst ausgewählte Paratexte und erst dann, als man merkt, dass die Sache damit nicht unter Kontrolle zu bekommen ist, auch den fraglichen Text selbst. Ohne Frage ist dies ein weiterer Schritt hin zur Anerkennung der Verantwortung der Betreiberfirma für ihre Paratexte (mit Genette würde man sie »verlegerische Peritexte« nennen). Ob man dadurch aber Kontrolle erlangt, muss bezweifelt werden. Denn wenn der »Juggernaut« erst mal rollt, rollt er erst mal.

Offenbar sehen die Plattformen dies mittlerweile selbst so. Einige Tage nach dem 6.1. haben sich viele von ihnen in bisher ungekannter Form zu ihrer verlegerischen Verantwortung bekannt; dies zu einem Zeitpunkt, als nur noch mit der rohen Gewalt des kaum legitimierten Eingriffs reagiert werden konnte. Giddens warnt zwar davor, die Metapher des »Juggernaut« zu überreizen, hier scheint sie aber weiter belastbar: Der Prozessionswagen hat einen brutalen Stoß von der Seite bekommen, der nicht nur in dem Moment, wo Gefahr im Verzug war, seine Fahrtrichtung ändert, er rollt auch danach in diese Richtung weiter. Dies hat allerdings Effekte auf den Fortgang der Prozession, da nun sichtbar wurde, dass es eine Gruppe sehr kräftiger Prozessionsteilnehmer gibt, die zu solchen Stößen in der Lage ist.

Eine andere Interpretation der Lage wäre: Die Ereignisse nach dem 6.1. haben gezeigt, dass die Metapher des »Juggernaut« angepasst werden muss. Die ganze Zeit über wurde der Eindruck zu erwecken versucht, dass die Popularisierungslogiken der Gegenwart wie der ungelenkte Prozessionswagen funktionieren. Dann aber, im Moment der großen Not, stellte sich heraus, dass der Wagen schon immer ein Lenkrad hatte. Es hatte nur nie jemand gewagt, es zu benutzen.

 

Der Beitrag ist Teil der Forschungsarbeit des Siegener DFG-SFB 1472 »Transformationen des Populären«.

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