Online-Events. Skneipe, Houseparty, Yotribe und »Fortnite«-Konzerte
von Miriam Zeh
21.9.2023

Geselliges Social Distancing

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 21-27]

In der Hochphase der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen war sie fester Bestandteil meiner Abendgestaltung. Denn sie hatte europaweit geöffnet, durchgängig an sieben Tagen der Woche, mit Snacks sowie Getränken zum fairen Einkaufspreis und der legersten Kleiderordnung seit Erfindung der Hose: die ›Skneipe‹. Von Mitte März bis Anfang Mai verabredete ich mich – nachdem das jahrzehntealte Skype-Password wieder hervorgekramt war – abends regelmäßig mit Freundïnnen vorm Laptop. Man öffnete sich gemeinsam Bier und Erdnüsse, setzte sich an den heimischen Sofa-, Küchen- oder Schreibtisch und plauderte – beinahe so, wie man es in der Lieblingskneipe bei körperlicher Ko-Präsenz getan hätte. Nur fror in der Skneipe eben manchmal jemand ein, und durcheinanderreden konnte man dort auch nicht so gut. Auf der Rasteransicht aller Gesprächsteilnehmerïnnen schwebten einzelne Äußerungen mit der Videochat-typischen Verzögerungssekunde von einem Profilfenster ins nächste. (»Astronautenverzögerungen« nannte der österreichische Schriftsteller Clemens Setz auf Twitter diese Eigenart des digital vermittelten Sprechens.)

Mit Beginn des Social Distancing zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat sich ein Großteil nicht nur beruflicher, sondern auch privater Kommunikation ins Internet verlagert. Bei transnationalen Familien oder Paarbeziehungen beobachteten Soziologïnnen schon seit langem Formen der »gemeinsamen Anwesenheit« (Heike Mónika Greschke), wenn in anderen Ländern arbeitende Eltern ihren Kindern per Videotelefonie etwa bei den Hausaufgaben helfen oder wenn auf verschiedenen Kontinenten medial gekoppelt zu Abend gegessen wird.

Für die gemeinsamen Skneipen-Abende hat sich der Neologismus aus ›Skype‹ und ›Kneipe‹ noch nicht durchgesetzt, wohl aber die digitale Kommunikationspraxis mit anhaltendem Social Distancing ausgebreitet. Zahlreiche Standbilder in den Sozialen Netzwerken (die laut einer Befragung des Digitalverbands Bitkom während der Kontaktbeschränkungen von 75 % der Internetnutzerïnnen aller Altersgruppen vermehrt verwendet wurden) geben Auskunft darüber. Die Online-Dating-Portale Parship und ElitePartner lancierten Mitte April sogar eine neue Video-Chat-Funktion für virtuelle erste Dates.

In der digital vermittelten Kommunikationssituation sind Menschen freilich auf andere Weise körperlich anwesend als in der »nackten« Situation; auch Mimik, Gestik und Körperhaltung bekommen dadurch ein anderes Format. Die Soziologin Karin Knorr-Cetina verwendet den Begriff der »nackten« Situation mit Bezug auf Erving Goffmans Definition der sozialen Situation, in der sich die Situationsteilnehmer über ihre »naked senses«, also nur durch die Verwendung ihrer körperlich angeborenen Sinne erreichen und miteinander interagieren können. Hinzu kommt bei jeder »nackten« sozialen Situation ihre spezifische physische Rahmung. In der Kneipe sitze ich mit meinen Freundïnnen vielleicht auf gemütlichen Sesseln oder weniger bequemen Barhockern, am Nachbartisch wird Kette geraucht, in der Luft hängt Schweiß- und Biergeruch. Alle Personen, die körperlich in derselben Kneipe ko-präsent sind, befinden sich in der »response presence« (Goffman) der jeweils anderen Gäste. Sie können einander wahrnehmen und, falls gewünscht, miteinander interagieren.

In der Skneipe dagegen dürften spontane Bekanntschaften nur äußert selten geschlossen werden. Die wegen mangelndem Datenschutz ebenso umstrittene wie kurzzeitig wieder äußerst beliebte App Houseparty versuchte zumindest diese Geschlossenheit virtueller Gespräche aufzubrechen. In dem Face-to-Face-Network können Freundïnnen nicht nur untereinander chatten oder einen Videocall starten, sondern auch den Freundeskreis anderer kennenlernen. Dafür entsteht mit jedem Videoanruf ein virtueller Raum, den andere Kontakte in der App sehen und spontan betreten können – ebenso, wie man sich auf einer nicht-virtuellen Hausparty zu Freundinnen von Freunden stellen würde.

Für die digital vermittelte gemeinsame Situation allerdings ist die gleichzeitige Anwesenheit am selben physischen Platz keine Voraussetzung mehr. Stattdessen bestimmen die verwendeten Technologien die intersubjektive Interaktion zu einem großen Ausmaß und lassen somit neue, immersive Sozialformen entstehen: Beim Messaging-Dienst Skype können – ebenso wie bei Alternativanbietern wie Teams, Zoom, Jitsi usw. – zwei Personen beispielsweise nicht zur gleichen Zeit sprechen. Andere ausreden zu lassen wird damit eine notwendige Tugend zur erfolgreichen Kommunikation, was die Skneipe oder Houseparty als vergleichsweise gesitteten Diskussionsraum erscheinen lässt. Überhaupt wird die Gesprächsdisziplin aller Teilnehmenden zu einem entscheidenden Faktor der »synthetischen« Situation. Mit diesem Begriff weist Knorr-Cetina darauf hin, dass beim Video-Anruf Informationen übermittelt, prozessiert und präsent gemacht werden, über die man mit den menschlichen Sinnen nicht verfügen kann. Diese Informationen werden von der verwendeten Software mit anderen Daten zusammengefügt, also synthetisiert.

Auffällig bleibt jedoch selbst bei Videochat-Formaten, die einen spezifischen Ort wie die Hausparty oder das Restaurant fürs erste Date nachahmen wollen, die Merkmallosigkeit und Leere des virtuellen Raums. Zwar lassen sich verschiedene und auch individualisierte Hintergründe einstellen, allerdings nur für das jeweils eigene Profilfenster auf dem Splitscreen. Der gemeinsame Raum bleibt eine Aneinanderreihung von Teilräumen, die durch unüberschreitbare Grenzen getrennt sind – nicht gerade eine erstrebenswerte, wie metaphorisch auch immer interpretierbare Visualisierung von Online-Kommunikation. Die Medienwissenschaftlerin Jan Fernback betonte bereits vor über zehn Jahren, dass virtuelle Communities nicht nur aus sozialen Strukturen bestehen, sondern sich ebenso durch einen abgrenzbaren gemeinsamen medialen Ort auszeichnen, an dem sich das Gros der Interaktion verdichtet. Doch wie identitätsstiftend kann ein Raum sein, wenn alle am Gespräch Teilnehmenden in ihrem eigenen Anzeigequadrat isoliert sind?

Eines konnte in der Skneipe, so trostspendend sie sich nach langen Lockdown-Tagen auch erwies, nicht imitiert werden: die Gegenwart anderer Körper. Bei den gängigen Video-Chat-Softwares wie Skype, aber auch Houseparty, liegt der Bildfokus – sicherlich auch Hardware-bedingt – auf dem Kopf der Gesprächspartnerïnnen. Er verharrt regungslos in der ihm zugeteilten Bildschirmecke. Der Rest des Körpers wird abgeschnitten. (Ihn komplett oder in anderen Ausschnitten in den Kamerafokus zu rücken, ist zwar möglich, aber – auch Erfahrungen mit Webcam-Sex dürften während der Kontaktbeschränkungen einige Menschen gesammelt haben – mit ziemlichen Verrenkungen verbunden.)

Der Wunsch, Gesprächspartnerïnnen bzw. ihren virtuellen Abbildern mehr Bewegungsfreiheit zu geben, als in den meisten bisherigen Videochat-Anwendungen möglich ist, und damit den gemeinsamen Raum in seiner sinnstiftenden Funktion wahrzunehmen, mag eine Motivation hinter Yotribe gewesen sein. Ein Berliner Start-up entwickelte die Web-App im Mai 2020, um Unternehmen und Events einen digitalen Raum zum Netzwerken anzubieten. Im zweidimensionalen Yotribe-Room können Nutzerïnnen sich frei bewegen, als verschiedenfarbige runde, mit dem eigenen Profilbild gekennzeichnete Avatare. Stehen zwei oder mehr Kreise nah genug beieinander, öffnet sich automatisch eine Verbindung. Die Kamera springt an, und abseits der Gesamtgruppe kann ein Gespräch unter ausgewählten Teilnehmerïnnen beginnen.

Wer mit Computerspielen vertraut ist, dem wird diese virtuelle Interaktionsform vertraut, ja geradezu basal vorkommen. Finden doch auch Interaktionen auf Yotribe vor einem statischen, entweder aus Vorlagen auswähl- oder aus eigenen Bildern hochladbaren Hintergrund statt. Selbstverständlich unterscheiden sich die meisten sog. »Virtual Communities« – eine heute vielfach umstrittene, weil verwässernde Bezeichnung, die auf das gleichnamige, Anfang der 1990er Jahre veröffentlichte Buch des US-amerikanischen Sozialwissenschaftlers Howard Rheingold zurückgeht – von meiner Skneipenrunde. Die ging von analogen Freundschaften aus und verlagerte sich gezwungenermaßen zeitweise ins Digitale. Virtuelle Communities dagegen bezeichnen die um ein geteiltes Interesse organisierte anhaltende Interaktion von Menschen, die von einem oder mehreren medialen Knoten im Web ausgehen und aus denen erst allmählich ein soziales Netzwerk aus Beziehungen und Identitäten emergiert, inklusive geteilter Normen, Regeln, Praktiken und Wissensvorräte.

Dennoch zeigte gerade die Corona-Pandemie, dass virtuelle und lokale Gemeinschaften auf denselben Kommunikationstechniken basieren. Konstitutiv ist ein »Sense of Community«, ein Konzept aus der Sozialpsychologie, das David W. McMillan und David M. Chavis beschreiben als »a feeling that members have of belonging, a feeling that members matter to one another and to the group, and a shared faith that members’ needs will be met through their commitment to be together.« Sucht man nach Erfahrungen, die diesen »Sense of Community« trotz Ausgangsbeschränkungen hervorrufen konnten, landet man rasch bei Computerspielen. Zwar haben zahlreiche Musikerïnnen aus der Pop- wie Klassik-Sparte Wohnzimmerkonzerte, Autorïnnen Lesungen und Schauspielerïnnen mitunter sogar kurze Sketche live aus ihren Quarantäne-Quartieren gestreamt, doch blieben diese Events in etwa so vergemeinschaftend wie die Skneipe: kleine trostspendende Lagerfeuer. Nur ein unscheinbarer Zählerstand in der oberen rechten Bildschirmecke zeigte an, wie viele Menschen gerade – wo auch immer auf der Welt – zeitgleich denselben Livestream ansahen. Einer Simulation gleichzeitig anwesender Körper kommt das nicht besonders nahe.

Ganz anders dagegen die weitaus mehr beachtete Konzertreihe des US-amerikanischen Rappers Travis Scott, die zwischen dem 24. und 26.4.2020 im Videospiel »Fornite« stattfand. Nach Angaben des Herstellers Epic Games war das Eröffnungskonzert mit über 12,3 Millionen zuschauenden Spielerïnnen bereits die bisher größte Live-Musik-Performance der Geschichte. (Zwar avancierte »Fornite« seit seinem Marktlaunch im Jahr 2017 ohnehin zu einer der größten und finanzstärksten Communitys innerhalb der Gaming-Szene mit weltweit über 250 Millionen Registrierungen und fast 80 Millionen monatlichen Spielerïnnen. Doch lag der Rekord für gleichzeitig angemeldete User bei 8,3 Millionen, als das Spiel im Oktober 2018 in Südkorea erschien.) Und die Zahl der tatsächlichen Zuschauerïnnen des Travis-Scott-Konzerts dürfte deutlich höher liegen, übertrugen doch zahlreiche Streamer das Event zeitgleich auf Plattformen wie Twitch und YouTube. So war es zwar nicht das erste Live-Konzert auf »Fortnite«, aber das größte – auch wenn es gerade einmal zehn Minuten dauerte.

In Superlativen bewegte sich auch Scotts Avatar während des Events. Durch ein psychodelisches Feuerwerk aus 3D-animierten Polarlichtern vor planetengroßem pulsierenden Subwoover gestikuliert ein überdimensioniertes, doch lebensechtes Hologramm des Sängers. Strukturen von Bühne und Publikum waren aufgebrochen, der Raum stattdessen eine sich ständig verändernde Landschaft, auf der sich Abermillionen individuelle Gamer-Avatare – u.a. in eigens dafür freischaltbaren Tanzbewegungen – durch Lavastürme bewegten, zum Meeresgrund tauchten oder durchs Universum schwebten. Das Konzert wurde zum interaktiven und vergemeinschaftenden Event, was mitnichten an der realitätsnahen Ästhetik lag – ganz im Gegenteil. Im Laufe der Show brannten Travis Scotts Beine, explodierten seine oberen Hautschichten, legten ein cyborgartiges Inneres frei und ließen Nervenbahnen in Regenbogenfarben aufleuchten. Die Erfahrung basierte vielmehr auf der quasi-körperlichen Erfahrung im gemeinsamen Raum als geteiltes Narrativ, durch das sich ein virtuelles Abbild des eigenen Körpers bewegte.

War die hybride Mediatisierung von Events schon länger zu beobachten, indem digitalwebbasierte Aufzeichnung, Bearbeitung und Verbreitung von und Kommunikation über Events ihrerseits essenzielle Bestandteile derselben wurden, gehen In-Game-Konzerte dieser Größenordnung noch einen Schritt weiter. Sicherlich auch der pandemiebedingten Ermangelung tatsächlicher Live-Events geschuldet – Scotts Auftritt als Headliner beim Coachella-Festival, das Mitte April hätte stattfinden sollen, fiel aus –, werden sie nicht zur realitätsimitierenden Alternative, sondern zur virtuellen Hauptsache. Prototypisch, wenn auch in neuer mediatisierter Form, findet sich hier temporär – Max Webers Definition von Vergemeinschaftung folgend – eine posttraditionale Gemeinschaft auf Basis subjektiv gefühlter affektueller Zusammengehörigkeit. Dass der spielerische, interaktive und grafisch aufwendig ausgestaltete virtuelle Raum dabei entscheidend ist für die Gemeinschaftserfahrung bei Online-Events, davon würde ich die Programmiererïnnen von Skype, Zoom, Teams, Yotribe und allen anderen in Entstehung begriffenen Messengerdiensten gern schleunigst überzeugen. Denn ich zumindest würde auch nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen sehr gerne weiterhin in die Skneipe gehen, wenn dort ein surreal attraktiver Barkeeper-Algorithmus meinem Avatar das virtuelle Bier nachfüllt, Mitspielerïnnen am Nebentisch von Zeit zu Zeit auflachen und man zur fortgeschrittenen Stunde noch ein paar neu gelaunchte Dance Moves neben dem psychodelisch aufleuchtenden Tresen ausprobieren kann. Denn wonach würden wir uns bei einem zweiten Lockdown auch dringlicher sehnen als nach einem funktionierenden Holodeck?

 

 

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