»Mein Block«. Eine politökonomische Rahmenerzählung
von Martin Seeliger
4.4.2023

Sidos Stück vom 4. April 2004 – eine Analyse zur ›Neuen Unterschicht‹ zum 19. Jahrestag der Single

Einleitung

Die „wachsende sozioökonomische Ungleichheit“, schreibt Christoph Butterwegge (2019: 9), ist „das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit.“ Die kapitalistische Modernisierung bringt soziale Disparitäten hervor, die besonders anschaulich sowohl in der Soziologie als auch im Straßen- und Gangstarap[1] zutage treten. Während die Soziologie für die Analyse dieser Motive Theorien und eine mal mehr und mal weniger verständliche Fachsprache verwendet, finden sich – wie eine Reihe von Beiträgen seit geraumer Zeit (Dietrich/Seeliger 2012, 2017, 2022) immer wieder betont hat – im genannten Genre künstlerische Darstellungen wieder.

Gleichzeitig sind die Bildwelten des Gangstarap Gegenstand einer (zumindest dem Selbstverständnis nach) intellektuellen Kritik, die so vor allem im Feuilleton, aber auch in der Boulevardpresse geäußert wird (vgl. Baum/Seeliger 2022). Diese Kritik von Intellektuellen an den vermeintlich regressiven und selbstschädigenden Ausdrucksformen der unteren Klassen ist nicht neu. Schon für Adorno transportierte der schwarze Jazz eine fehlgeleitete Verherrlichung repressiver Kulturelemente als Rebellion in Form von Musik, die „vom Lumpenproletariat herkam“ (Adorno 1997: 72).

Am Beispiel von Sidos Song „Mein Block“ zeigt der vorliegende Text, wie Inszenierungen aus dem Straßen- und Gangstarap neben standpunktbezogenen Perspektiven aus den prekären Lebensverhältnissen heraus auch Tendenzen makrosozialer Entwicklungen versinnbildlichen, die der Perspektive politischer und wirtschaftlicher Eliten entsprechen. Neben einer Berichterstattung aus dem Brennpunkt – im klassischen Sinne von Public Enemy der Perspektive eines „schwarzen CNN“ – tritt hier der politische Krisendiskurs um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des ‚Standorts Deutschland‘. Als Kunstwerk „zwischen Affirmation und Empowerment“, so meine These, bezieht „Mein Block“ seine besondere Attraktivität aus der Tatsache, dass er beide diskursiven Bezugsrahmen gleichzeitig bedient. Aus dieser Einsicht ergibt sich eine programmatische Problemdiagnose: Kulturwissenschaft ist ohne Politische Ökonomie (beziehungsweise die Analyse von deren Repräsentationen) nicht in der Lage, strukturbildende Mechanismen sozialer Ungleichheit (beziehungsweise deren Repräsentation) angemessen zu verstehen.

Der folgende Abschnitt gibt Auskunft über Prozesse der Prekarisierung im ausgehenden Sozialkapitalismus und das Leben in der Stadt. Im Anschluss erläutere ich meine theoretische Perspektive auf den Gegenstand, die sich vor allem aus dem Repertoire oder der ersten Generation britischer Cultural Studies speist. Auf dieser Grundlage gibt der vierte Abschnitt eine politökonomische Rahmenerzählung wieder, die zwei hauptsächliche Lesarten für „Mein Block“ nahelegt. Diese stellt der danach folgende Abschnitt vor. Ein abschließendes Fazit fasst die Befunde mit Blick auf programmatische Schlüsse und mögliche weitere Forschungsfragen zusammen.

Videoversion  „Mein Block“:

2. Prekarisierung im ausgehenden Sozialkapitalismus und das Leben in der Stadt

2.1 Prekarisierung im Sozialkapitalismus

Geschichte im Verhältnis von Kapitalismus und Ungleichheit und unter dem Gesichtspunkt sozialer Konflikte zu interpretieren ist das Kerngeschäft marxistischer Theorien. Im allgemeinsten Sinne, so ließe sich synthetisieren, steht im Zentrum solcher marxistischen Ansätze die Frage, warum eine immer reichere und produktivere Gesellschaft – Marx spricht hier von der „ungeheuren Warensammlung“ – gleichzeitig sehr ungleiche Verteilung ihres Reichtums hervorbringt. Das große Versprechen neoklassischer Modernisierungsoptimisten – nehmen wir als Beispiel etwa Adam Smith (1778) – hatte darin bestanden, dass Technikeinsatz und eine immer effektivere Arbeitsteilung allen Menschen einen ungeahnten Wohlstand eröffnen würden. Inspiriert von seinen ethnografischen Beobachtungen des Geschehens in den aufkommenden Manufakturen Schottlands im 17. Jahrhundert, malte Smith sich eine Welt aus, in der eigeninteressierte Akteure getrieben vom Wunsch nach individuellem Reichtum durch den Einsatz der eigenen Arbeitskraft zum Wohlstand beitragen.

Wie der französische Ökonom Thomas Piketty (2013) in einer aufwändigen Untersuchung der Einkommens- und Vermögensentwicklung der letzten Jahrhunderte gezeigt hat, ist das Modernisierungsversprechen zunehmender sozialer Gleichheit uneingelöst geblieben. Mit der wirtschaftlichen Produktivität wachsen auch die sozialen Disparitäten. Die Geschichte ist, so lässt sich zwischenresümieren, keine der Verallgemeinerung gesellschaftlichen Wohlstands, sondern – mit Engels und Marx gesprochen – eine „Geschichte von Klassenkämpfen“.

In diesem Sinne lässt sich kapitalistische Modernisierung als Auseinandersetzung um die Organisation von Arbeit und die Verteilung ihrer Ergebnisse betrachten. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, stellen letztlich alle Formen nationalstaatlicher Ordnungsbildung (und in einem nächsten Schritt auch übergeordnete politische Systeme wie die Europäische Union) Versuche dar, den strukturellen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit dauerhaft einzufrieden. Damit die Fließbänder laufen, muss morgens der Bus fahren und möglichst dreimal am Tag das Essen auf den Tisch kommen. In der Gesellschaftstheorie herrscht (relative) Einigkeit darüber, dass entsprechende Organisationsleistungen im Dreieck von Staat, Markt und Familie erbracht werden (siehe hierzu Dingeldey 2004).

Historisch bringt der Prozess kapitalistischer Modernisierung im Verhältnis zur feudalistischen Gesellschaftsordnung, wie Beckert-Schmidt und Krüger (2009: 24f) herausarbeiten, zwei strukturelle Widersprüche hervor. Hierbei handelt es sich zum einen um einen Klassengegensatz. Dass der Großteil der Bevölkerung gezwungen ist, die eigene Arbeitskraft an Unternehmen zu verkaufen, überträgt sich in eine Gesellschaftsordnung von (wenigen) Kapitalist:innen und (vielen) Lohnabhängigen. Neben diesem Antagonismus der Klassen entsteht mit der räumlichen Trennung von Wohnraum und Arbeitsstätte ein zweites Strukturmuster – die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Unter Bedingungen der Erosion sozialkapitalistischer Arrangements werden Verschiebungen sowohl im Klassenverhältnis als auch im gesellschaftlichen Bereich privater Reproduktion – also der Wiederherstellung von Arbeitskraft etwa durch Care-Arbeit und Gesundheitsdienstleistungen – seit geraumer Zeit unter den Oberbegriffen der Prekarität und Prekarisierung diskutiert.

Der Begriff des Sozialkapitalismus bezeichnet ein politökonomisches Arrangement, das sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrieländern des Globalen Nordens manifestiert. In seinen nationalen Ausprägungen variierend – etwa zwischen Frankreich, Deutschland und den skandinavischen Ländern – fußte das sozialkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell auf den Prinzipien sozialen Ausgleichs und einer graduellen Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards im Zeitverlauf.

Politökonomisches Rückgrat des Sozialkapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte war sein fordistisches Produktionssystem. Die standardisierte Massenproduktion ermöglichte durch die Zahlung hoher Löhne in der Fläche die Ausweitung der Konsummöglichkeiten, während ein keynesianischer Wohlfahrtsstaat die ökonomische Grundsicherung der Bevölkerung gewährleistete. Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im fordistischen Sozialkapitalismus entsprachen einem Ideal, das sowohl in der arbeitssoziologischen Literatur als auch der politischen Debatte als „Normalarbeitsverhältnis“ (Mückenberger 1985) bekannt ist. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag in Vollzeit mit tariflich geregelter Bezahlung und entsprechenden Ansprüchen an die Sozial- und Rentenversicherung sowie eine effektive Vertretung der Beschäftigteninteressen durch Betriebsrat und Gewerkschaft bilden hier einen arbeits- und sozialpolitischen Rahmen, innerhalb dessen reguläre Beschäftigung – zumindest in der Theorie – stattfinden sollte.[2]

Im Sozialkapitalismus der Nachkriegszeit war die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft kein besonders wichtiges Thema der politischen Öffentlichkeit. Helmut Schelskys (1954) Diagnose der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ charakterisierte die Sozialordnung der Bonner Republik – ungeachtet empirischer Gegenevidenz – als weitgehend egalitär (siehe kritisch Butterwegge 2019, aber auch die Studien zum Lohnabhängigenbewusstsein in der Hüttenindustrie von Popitz et al. 1961). Unter Bedingungen von Vollbeschäftigung und stetigem ökonomischen Wachstum konnte der deutsche Kapitalismus anhaltende Überschüsse erwirtschaften, die es unter den Lohnabhängigen der Schlüsselindustrien und des öffentlichen Dienstes zu verteilen gab.

Mit dem Auslaufen des fordistischen Produktionsmodells Ende der 1960er und dem Ölpreisschock der frühen 1970er Jahre wiesen die Fundamente dieser sozialkapitalistischen Ordnung zunehmende Erosionserscheinungen auf. Eine expandierende Dienstleistungsökonomie und die in Verbindung hiermit zunehmende Frauenerwerbstätigkeit veränderten Beschäftigungsformen. Die Verschiebung von Tätigkeiten aus den großen Fabrikhallen in die fragmentierten Wertschöpfungsstrukturen der Dienstleistungsindustrie verringerte auch die strukturelle Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Mit der Finanzialisierung der Ökonomie und dem globalisierungsbedingten Verlagerungsdruck, der Unternehmen, Regionen und sogar Staaten miteinander in Wettbewerb setzte, entstand ein massiver Transformationsdruck auf die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse (siehe hierzu die Beiträge in Seeliger 2023).

Die Folgen für die Strukturierung des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft im Allgemeinen wurden in der Vergangenheit unter den Begriffen der Prekarität und Prekarisierung gefasst. Mit Robert Castel (2009: 31) bezeichnen diese Prinzipien ein Brüchigwerden, das sich nicht auf die unteren Schichten der Gesellschaft beschränkt, sondern die verschiedensten sozialen Gruppen betrifft. Seit der Jahrtausendwende haben zahlreiche Arbeiten diesen Themenkomplex behandelt. Ihrer Reichweite entsprechend lassen sich hierbei drei Begriffe von Prekarität unterscheiden. Ein enger Prekaritätsbegriff verortet das Phänomen in Randzonen der Gesellschaft, wie dies etwa in der neuen Unterschichtendebatte geschieht (siehe Abschnitt 4). Ein auf gesellschaftliche Zonen fokussierter Prekaritätsbegriff versteht Prekarisierung als Erweiterung eines Verunsicherungsbereiches. Dieser dehnt sich ebenfalls in (vormals) stark regulierte Segmente des Arbeitsmarktes aus und erreicht über sich verbreitende Abstiegsängste ebenfalls die entsprechenden gesellschaftlichen Milieus. Ein breiter Begriff – Prekarisierungsgesellschaft – versteht Prekarität als per se schwer eingrenzbares Ordnungsmuster. Angesichts der Auflösung des fordistischen Sozialkompromisses ist Unsicherheit in der Strukturierung privater Erwerbsverläufe und Lebensverhältnisse aus dieser Perspektive nun potenziell überall zu finden.

Als politisches Problem geht mit den Entwicklungen der Prekarisierung in aktuellen Zeitdiagnosen die Entstehung einer neuen Unterklasse einher (siehe etwa Reckwitz 2017, 2019). Die Prekarisierung der Erwerbsverhältnisse verschlechtert Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie die Lebensqualität vieler Menschen, die sich vor allem im Niedriglohnbereich verdingen. An die obige Einführung zum Konfliktcharakter kapitalistischer Vergesellschaftung (Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen) stellt sich nun die Frage nach etwaiger Gegenwehr dieser Unterklasse. Finden sich Angehörige mit ihrem Schicksal ab? Oder lässt sich ein Aufbegehren verzeichnen? Um dieser Frage weiter unten nachzugehen, wollen wir uns im Folgenden mit einigen alltagskulturellen Facetten des Lebens in der Unterklasse beschäftigen – und dies am Beispiel des Lebens in der Stadt.

2.2. Leben in der kapitalistischen Stadt

Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leben in der Stadt unter Bedingungen rapider kapitalistischer Modernisierung beginnt gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ist mit drei emblematischen Namen verbunden: Robert Ezra Park und Ernest Watson Burgess in Chicago und Friedrich Engels in Manchester. Als ‚Laboratorium der Moderne‘ betrachteten die ersten beiden Städte als Orte, an denen Praktiken moderner Vergesellschaftung im Übergang von der dörflich und kleinstädtisch geprägten Feudalzeit neu erlernt werden mussten – ein doppelter Prozess, der im Jargon der Soziologie auch als Zusammenhang von Urbanisierung und Verstädterung bezeichnet wird (siehe Häußermann/Siebel 2004).[3] Als „früher Ethnograf des Wohnungselends“ (Holm 2021: 30) trat auch Engels in Erscheinung. Die beiden wichtigen Schriften stellen hier ‚Zur Lage der arbeitenden Klasse in England‘ (1872) – tatsächlich die erste Studie eines Genres, das später als ‚Labor Ethnography‘ bekannt werden sollte – sowie eine Serie von Artikeln mit dem Titel ‚Zur Wohnungsfrage’ dar, die zwischen 1871 und 1872 im Sozialdemokratischen Volksstaat erschienen. Die konkreten Lebensbedingungen der Lohnabhängigen im Manchester des späten 19. Jahrhunderts verbindet Engels hier mit einer politökonomischen Kritik des Marktes für Wohnraum. Die Kommodifizierung des Wohnens, so der Schluss von Engels, müsse unter Bedingungen freien Warenverkehrs notwendigerweise zu schlechten Wohnverhältnissen und Obdachlosigkeit führen. Diese seien damit notwendigerweise in der kapitalistischen Produktionsweise angelegt.

Für die Reproduktion der Arbeitskraft oder – allgemeiner gesprochen – die Lebensqualität der Menschen stellt Wohnraum ein Grundbedürfnis dar. Die eigene Wohnstätte bietet Sicherheit, bestimmt den Zugang zur öffentlichen Infrastruktur und eröffnet die sozialen Netzwerke, innerhalb derer wir uns bewegen (Vollmer 2022: 389). Die Frage, wo und wie wir wohnen, ist damit in zweierlei Weise mit der gesellschaftlichen Struktur sozialer Ungleichheit verbunden: Einkommensschwache Haushalte wohnen in qualitativ minderwertigen Wohnungen in Nachbarschaften mit schlechten öffentlichen Infrastrukturen. Und qualitativ minderwertige Wohnungen in Nachbarschaften mit schlechten öffentlichen Infrastrukturen erhöhen das Risiko ihrer Bewohner:innen, von Armut betroffen zu sein.[4] Die Tendenz hin zu einer entsprechen fragmentierten Raumordnung bezeichnet Siebel (2016: 278f) auch als „Verinselung der Stadt“ – „ein kleinräumiges Nebeneinander von luxuriös aufgewerteten Quartieren der ‚kreativen Klasse‘ und vernachlässigten Vierteln […], in denen sich die Langzeitarbeitslosen, die Armen, die neu Zugewanderten und die marginalisierten Migranten sammeln.“ (ebd. 278f).

Entsprechende Quartiere – Köln-Chorweiler, Hamburg-Billstedt, die Dortmunder Nordstadt oder das Frankfurter Nordwestend – sind bekannt aus Funk und Fernsehen. Mit Häußermann und Kronauer (2017: 164) bilden sich vor dem Hintergrund der beschriebenen Dynamiken hier „sozialräumliche Milieus, die selbst weitere Benachteiligungen und Probleme mit sich bringen.“ Die sozialräumliche Ballung einkommensschwacher Haushalte bewirkt hier, wie die beiden an anderer Stelle (2009: 603) anmerken, „das kritische Bindeglied, das Ausgrenzung am Arbeitsmarkt und soziale Ausgrenzung zu einem Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Elemente zusammenschließt.“ Entsprechende Tendenzen sozialer Deprivation finden Eingang in das Stadtbild. „Vermüllung und Verwahrlosung“ (ebd. 125) manifestieren sich als „äußere Anzeichen einer abnehmenden Bindung an und Verantwortung für die eigene Lebensumwelt. Der ‚Kündigung durch die Gesellschaft‘ wird resigniert oder trotzig eine ‚Kündigung gegenüber der Gesellschaft‘ entgegengehalten.“

Wie Loic Wacquant (2009: 97) zusammenfassend erläutert, lassen entsprechende Dynamiken solcher im öffentlichen Duktus häufig auch als ‚Problembezirke‘ bezeichneten Gegenden „Gewalt von oben“ in dreifacher Weise erfahren: Eine chronische und anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die Entproletarisierung und Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse (1) bedingt eine Relegation in heruntergekommene Stadtviertel, welche sich in eine Stigmatisierung in Alltagsleben und Öffentlichkeit überträgt. Als Hauptadressaten dieser Prozesse „negativer Diskriminierung“ hat Robert Castel in umfangreichen Untersuchungen die jugendlichen Bewohner:innen der französischen Banlieues identifiziert. „Wenn es“, so Castel (2009a: 10), „in unserer Gesellschaft eine Gruppe gibt, die als total andersartig abgestempelt wird und alle Ängste und Aversionen auf sich zieht, dann dürften es diese ‚Vorstadtjugendlichen‘ sein.“[5]

Stigmatisiert durch öffentliche Diskurse, exkludiert aus dem Bildungssystem und den Segmenten des Arbeitsmarktes, die Aufstiegschancen bieten und integriert in die sozialen Kreise benachteiligter Stadtteile mit ihren Schwarzmärkten, Drogenaffinitäten und traditionalen Rollenbildern der lokalen Eckstehermilieus, durchlaufen Jugendliche hier Sozialisationsmuster, die ihren gesellschaftlichen Status reproduzieren:

„Wenn Jugendliche in ihrem lokalen Bekanntenkreis niemanden mehr kennen, der mit ‚normaler‘ Erwerbstätigkeit seinen (wenn auch bescheidenen) Lebensunterhalt verdient, hingegen einige, die sich mit kleinkriminellen Aktivitäten ohne großen Aufwand eine spektakulärere Lebensführung ermöglichen und sich obendrein über einen perspektivlosen Schulbesuch lustig machen – welche Handlungsalternative erscheint dann nahe liegend? Wenn eigene Aspirationen und Normen durch die Umwelt ständig entwertet und lächerlich gemacht werden, ist es – wenn die Exit- Option, d.h. ein Wegzug, nicht möglich ist – sehr wahrscheinlich, dass eine Anpassung an diese Umwelt erfolgt“ (Häußermann/Kronauer 2009: 165).

Die Stigmatisierung eines Stadtteils beeinflusst demnach sowohl das Selbstbild seiner Bewohner:innen als auch deren Wahrnehmung von außen. Entsprechende Effekte können sehr unterschiedlich ausfallen und von Selbstzweifeln der Bewohner:innen bis hin zu einer trotzigen von einem Unterklassenstolz gespeisten Gegenidentität reichen. Auch die Wahrnehmung von außen variiert hier und kann hierbei zwischen Indifferenz, Angst, Mitleid, Ekel, Bewunderung und einer Faszination für die als exotisch wahrgenommenen Lebensbedingungen reichen.

Dynamiken der Unterklassenbildung vollziehen sich in diesem Spannungsverhältnis von äußeren Zuschreibungen und selbstbewusster Identitätsbehauptung. Aus Sicht einer Soziologie der klassenpolitischen Mobilisierung lässt sich vor diesem Hintergrund die Frage formulieren, inwiefern derartige Formen der Anrufung den „negativ Diskriminierten“ (Castel 2009a) eine positive Identifikation offen stellen.

3. Prekarität in der Popkultur – ein theoretischer Rahmen

Wie wir bis hierhin erfahren haben, sind Prekarisierung und Stigmatisierung mehrdimensionale Prozesse mit räumlichen, wirtschaftlichen und – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auch symbolischen Ebenen. Raymond Williams – der Sohn eines walisischen Eisenbahners –, Richard Hoggart – einer Kesselflickerfamilie enstammend und bei seiner Großmutter in Nordengland aufgewachsen – und Stuart Hall als Stipendiat aus der ehemaligen britischen Kolonie Jamaika gelten allgemein als Gründergeneration der Cultural Studies. Die intellektuelle und politische Neuorientierung der akademischen Linken erfolgte in den 1950er Jahren als Reaktion auf die sowjetische Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes. Für die Vertreter der Britischen New Left, zu denen auch die drei Cultural-Studies-Pioniere zählten, erschien der Stalinismus als eine überkommene Ideologie. Vor diesem Hintergrund, und auch bedingt durch ihre „Erfahrung des Übergangs von der Herkunftskultur zur akademischen Kultur“ (Lindner 2000: 33), rückten sie die Bedeutung von Kultur ins Zentrum ihres Interesses. Für Williams, Hoggart und Hall war es die „Konfrontation mit der Kultur der englischen Oberklasse“, so Marchart (2008: 29), welche „ihnen ihre eigene soziale Identität“ ins Bewusstsein rufen und „den Blick für die Kultur der eigenen Klasse“ schärfen konnte.

Wie vor allem diese erste Generation der britischen Cultural Studies (siehe etwa Thompson 1987 oder Hoggart 2009) herausgearbeitet hat, kommt in der Herausbildung sozialer Klassen der Kultur eine besondere Bedeutung zu. Die Vermittlung von Bildern über die Massenmedien sowie deren spezifische Adaption durch die Subjekte hat von den Vertretern der Cultural Studies vor allem Stuart Hall untersucht. Wenn wir davon ausgehen, dass moderne Gesellschaften ihre kollektiven Probleme im Bereich der politischen Öffentlichkeit identifizieren, spielen Prozesse massenmedialer Repräsentation im Agenda-Setting mit Hall (1989: 126) „eine entscheidende ideologische Rolle“.

Über die Dynamiken medialer Öffentlichkeit und ihre Bedeutung für die soziale und politische Konstruktion von Klassen ist – vor allem im Bereich der Cultural Studies – viel diskutiert worden.[6] Ohne diese umfangreiche Debatte an dieser Stelle wiedergeben zu können, möchte ich auf folgende Darstellung von Haller und Niggeschmidt (2012: 7) verweisen, die die Dynamiken gesellschaftlicher Stigmatisierungsdiskurse veranschaulichen:

„In der Mediengesellschaft sind gesellschaftliche Diskurse kein Selbstgespräch der Eliten, sondern Transformationsprozesse: Ängste, Wut, Empörung oder Frust werden zunächst in Gruppen oder Teilen der Gesellschaft artikuliert, dann von den sogenannten Leitmedien kontrovers aufgegriffen und als großes Meinungsspektakel inszeniert, ehe sie vom Denkstrom des Mainstreams aufgesogen und zur ‚verbreiteten Meinung‘ transformiert werden.“

Bildern des Urbanen kommt in solchen Diskursen eine besonders wichtige Bedeutung zu. Repräsentationen der und Referenzen an die (Groß-)Stadt finden sich in der Populärkultur haufenweise. Kim Wildes „Kids in America“, Udo Jürgens „Ich war noch niemals in New York“, und vor allem Herbert Grönemeyers „Bochum“ können als Beispiele für die Inszenierung städtischen Lebens als Synonym für (die Hoffnung auf) ein bestimmtes Lebensgefühl dienen. Entsprechend aufgeladen fällt hier häufig auch die Metaphorik aus. Bilder wie die des Dschungels oder der Wildnis bezeichnen von außen betrachtet die „schichtspezifisch als verwirrend und bedrohlich erfahrenen“ (Rolshoven 2021: 77) Räume: „Sie geben Aufschluss über Ängste und Abwehraffekte gegenüber Armut und Fremdheit, die in starkem Maße die armen, proletarischen Innenstadtquartiere der sich vergrößernden Städte in Europa geprägt haben“ (ebd.). Gleichzeitig, so ließe sich vor allem am Beispiel Grönemeyers hinzufügen, können Lieder auch Heimatverbundenheit oder sogar Stolz auf die Heimat ausdrücken, mit der man sich identifiziert und der man andere Städte, Länder oder sogar Kontinente (man denke an das Genre des Rechtsrock) unterordnet.

Mit dem Gangsta- oder Straßenrap hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Genre etabliert, dessen häufig kontroverse Bildwelten oft in Bezug auf das Städtische als Sinnbild einer ungleichen und konfliktdurchdrungenen Gesellschaft auffallen (siehe Seeliger 2021). Mit Güngör und Loh (2017: 217) lässt sich konstatieren, dass Gangstarap „zu einem vielfältigen künstlerischen Medium“ geworden ist. Während es ihnen zufolge „auf der einen Seite die Folgen von Neoliberalismus, Globalisierung und Vertreibung offenlegt, indem es die Gesellschaft mit Bildern des „Gettos“ konfrontiert und damit die Erzählung von grenzenlosem Wachstum und Wohlstand irritiert“, präsentieren seine Protagonisten „sich oft provokant als selbstbewusste Hedonisten, die an den Versprechen des Kapitalismus teilhaben wollen. Auf der anderen Seite verstummt im Gangstarap der Ruf nach einer Überwindung der neoliberalen Ordnung“ (ebd.). Angesichts dieser genuinen Ambivalenzen habe ich Gangstarap an anderer Stelle (siehe etwa Seeliger 2013) als Genre „zwischen Affirmation und Empowerment“ bezeichnet.

Dass Straßen- und Gangstarap Ungleichheitsverhältnisse abbilden, haben in der Vergangenheit viele Beiträge herausgestellt (siehe exemplarisch Seeliger 2012 und die Beiträge in Seeliger/Dietrich 2017). Eine explizite Verbindung zur Prekarisierungsforschung habe ich gemeinsam mit John Lütten (2017) herausgearbeitet. In den Songs, Musikvideos, Interviews und sonstigen Inszenierungen finden sich starke Bezüge zu Phänomenen, die selbst auch Gegenstand der Auseinandersetzung mit Prekarität sind:

„Erfahrungen von Unsicherheit und Ausgrenzung, instabile soziale oder geschlechtliche Identitäten, Gerechtigkeitsansprüche und Oben-Unten-Wahrnehmungen, gescheiterte Anpassungsleistungen, Entkoppelung und Devianz, veränderte Wertestrukturen, ethnische Stigmatisierung, Absagen an die Mehrheitsgesellschaft sowie die Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt als System dauernder Bewährungsproben sind nur einige Themen, die hier künstlerisch verhandelt werden“ (ebd.: 89).

Im Spiegel der Forschung kommt der Wirkung dieser Inszenierungen – beziehungsweise der diese Wirkung erzeugenden Lesarten – ein variierender Stellenwert zu. Wie etwa Burkhart (2017: 173) bemerkt, kommt dem Genre eine „weit über szeneinterne Kreise hinaus“ reichende Aufmerksamkeit zu, die ihre Resonanz sogar im deutschsprachigen Feuilleton findet. Für die Thematisierung dort habe ich an anderer Stelle (Seeliger 2021; Kap. 9; Baum/Seeliger 2022) auf Grundlage mehrerer hundert Artikel vier Typen der Bezugnahme herausgearbeitet – die Darstellung als Bedrohung, die verwehrte Verbürgerlichung, die Exotisierung und das Empowerment der Genrevertreter:innen. Dementsprechend verweisen auch Fröhlich und Röder (2017: 148) in ihrem Text auf die „spielerische Unverbindlichkeit in der Deutung von Gangstarap-Images“. Gerade wegen explizit auf Stereotypen beruhenden Images sind die Bildwelten des Gangsta- und Straßenrap-Genres besonders offen für verschiedene Interpretationen und Formen der subjektiven Aneignung.

Gangstarap bildet also gesellschaftliche Verhältnisse ab und verzerrt sie dabei. Wie weiter oben ausgeführt, liegt ein besonderer Schwerpunkt der dort inszenierten Geschichten häufig auf der Repräsentation prekärer Lebenssituationen und deren Bewältigung (oder auch Nicht-Bewältigung). Die Analyse von „Mein Block“ weist jedoch über die auf Prozesse sozialer Prekarisierung verengte Perspektive hinaus. Neben Motiven von Prekarität spiegeln die im Song inszenierten Bilder eine weitere Dimension sozioökonomischen Wandels – die Sorge deutscher Eliten um die Substanz des ‚Standorts Deutschland‘ und sein Humankapital.

4. „Mein Block“ – Eine politökonomische Rahmenerzählung

Der deutsche Sozialkapitalismus hat mit seinem ‚Wirtschaftswunder‘ einen Gründungsmythos, der die Restitution der nationalen Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg als Wiedergeburt einer integren Friedensnation porträtiert. Bis zur Intervention im Kosovo im Jahr 1999 wurde das deutsche Militär nur ‚zu Hause‘ eingesetzt.[7] Entsprechend pazifistisch lautete auch die Doktrin sicherheitspolitischer Zusammenarbeit – „Wir liefern nur Geld, keine Waffen“.[8] Das Leitmotiv des „Wohlstand[s] für alle“ versprach eine nach oben flexible Sozialstruktur mit Aufstiegschancen und vergleichsweise komfortabler Sicherung ökonomischer Grundbedürfnisse (Butterwegge 2023: 84).

Anschließend an die Chronologie von Beckmann und Spohr (2022: 126ff) lässt sich die Geschichte der deutschen Arbeitsmarktpolitik von 1945 bis heute in drei Etappen erzählen. In einer ersten Phase galt als primäres Ziel der Wiederaufbau der Wirtschaft auf Grundlage einer statussichernden Beschäftigungspolitik. Eine stetige Ausweitung der Massenkaufkraft gewährleistete hier ein lohngetriebenes Wachstumsmodell, das die unteren und mittleren Einkommensschichten am wirtschaftlichen Aufschwung beteiligte. Diese ersten frühen Jahrzehnte der Bundesrepublik gehen im Rückblick als ‚Trente Glorieuses‘ in ihre Geschichte ein (siehe etwa Streeck 2013). Mit nahezu allen Lohnabhängigen in Beschäftigungsverhältnissen, starken Gewerkschaften mit gut gefüllten Streikkassen, maoistischen Studierenden in den Hörsälen und auf den Straßen und einer Systemalternative in den Ostblockstaaten erkannte der Philosoph Jürgen Habermas zu Beginn der 1970er Jahre eine Reihe symptomatischer „Legitimationsprobleme“ des – wie er formulierte – „Spätkapitalismus“.[9]

Die Ölkrise des Jahres 1973 markierte das Ende dieser ersten Wachstumsphase der Nachkriegszeit. Zunehmende Inflation, Staats- und Privatverschuldung verengten den Handlungsspielraum der öffentlichen Verwaltung. Zunehmend unter Reformdruck gesetzt, wurden in den vier Legislaturperioden Helmut Kohls verschiedene Einschränkungen kollektiver Sicherungssysteme vorgenommen. Die Änderungen blieben jedoch auf graduelle Reformen beschränkt. Grundlegende Pfadbrüche fanden hingegen nicht statt (siehe Lessenich 2003).

Nachdem sich im Laufe der 1990er Jahre herausstellte, dass die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl den Bürger:innen aus den ‚Neuen Bundesländern‘ versprochen hatte, nicht recht gedeihen mochten, zog mit Gerhard Schröder ein ‚Anpacker‘ (erkennbar beim Auftritt am Zaun) ins Kanzleramt ein. Anschließend an die rot-grüne Regierungsübernahme unterbreitete das aus Kapital-, Gewerkschafts- und Regierungsvertreter:innen bestehende ‚Bündnis für Arbeit‘ einen Reformplan zur Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen, der Senkung von Unternehmenssteuern, einer Restrukturierung der Sozialversicherungen sowie der Schaffung eines staatlich subventionierten Niedriglohnsektors. Die Aufbruchstimmung eines ‚Dritten Weges‘ brachten in einem programmatischen Spiegel-Artikel mit Wolfgang Streeck und Rolf G. Heinze zwei Vordenker der ‚Marktsozialdemokratie‘ (Nachtwey 2009) auf den Punkt: „Ob diese Jobs prekär sind oder nicht, erscheint aus dieser Perspektive nebensächlich, denn ([f]ast) jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner“ (Streeck/Heinze 1999: 44).

In seiner Rede zur Agenda 2010 verkündete Schröder die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als Grundlage einer groß angelegten Reform des alten Wohlfahrtsstaates.[10] Wie Butterwegge (2019: 288) richtig bemerkt, ist bei genauerem Hinsehen nicht mehr so klar, was da eigentlich zusammengelegt worden sein soll. Die Abschaffung der Lohnersatzleistung für Millionen Erwerbslose senkte deren Lebensstandard in eklatanter Art und Weise. Der Topos einer „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ sollte – im neoliberalen-volkswirtschaftlichen Jargon – Effizienzreserven mobilisieren oder – marxistisch-politökonomisch formuliert – die Ausbeutung und Akkumulation erleichtern. Unter dem Leitsatz des „Förderns und Forderns“ (sozialdemokratisches Neudeutsch für ‚Zuckerbrot und Peitsche‘) angetreten, um den deutschen Kapitalismus zu modernisieren, etablierte das zweite Schröder-Kabinett eine praktische Umsetzung des Mottos in der vierten Welle der Hartz-Reformen. Neben der Verbindung der beiden Hilfe-Prinzipien sahen die Neuerungen eine höhere Zumutbarkeit vermittelter Jobs, zwangsförmige Fortbildungsmaßnahmen, eine striktere Prüfung der Ansprüche sowie zwangsförmige Integrationsmaßnahmen (Stichwort: „Ein-Euro-Job“) vor.

Man muss fairerweise zugeben, dass den Reformen ein reales Wachstum der Erwerbslosenzahlen vorangegangen war. Mit knapp vier Millionen überstieg die Arbeitslosenquote 1996 die Zehn-Prozent-Grenze und steigt bis zum Jahr 2005 auf knapp 4,38 Millionen (11,7 Prozent). Dass sie anschließend kontinuierlich sinkt, ist neben dem Rückbau der sozialpolitischen Institutionen auch mit Reformen der Beschäftigungspolitik verbunden. Atypische Erwerbsformen wie Teilzeit-Tätigkeiten finden sich im gleichen Zeitraum immer häufiger und steigen von 4,99 Millionen (1996) auf 6,85 Millionen (2005) auf 7,95 Millionen (2010). Die Erwerbslosigkeit geht zeitgleich stetig zurück und liegt 2007 nur noch bei neun Prozent. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch die institutionelle Herbeiführung teilweise zwangsförmiger und schlecht entlohnter Erwerbsverhältnisse.[11]

Die grundlegende Veränderung in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stellt letztlich nicht weniger dar als eine Reform des sozialkapitalistischen Gesellschaftsvertrages. Zur Entlastung der ‚Leistungsträger‘ und der Modernisierung des ‚Standorts‘ verkehrte Rot-Grün die Begründungslogik staatsbürgerlichen Anspruchsdenkens ins Gegenteil, nach dem Motto: ‚Frag nicht, was das Sozialsystem für Dich tun kann, sondern, was Du für das Sozialsystem tun kannst!‘ Um die ‚Employability‘ Erwerbsloser zu verbessern (im modernen HR-Diskurs spricht man auch von „Personalentwicklung“ oder „Capacity Building“), die zu spät zum montagmorgendlichen Power-Point-Kurs erscheinen, kürzt der aktivierende Sozialstaat deren Transferzahlungen. Als arbeitsmarktpolitisches Druckmittel speist sich Hartz IV aus den Ängsten der Deutschen vor dem sozialen Abstieg.

Aber wie genau war es dazu gekommen? Groß angelegte Reformprojekte sind in politischen – zumal teilweise demokratischen – Systemen umkämpfte Angelegenheiten. Entsprechend war die Einführung der zu Beginn des Jahres 2005 in Kraft getretenen Gesetzesreform Resultat einer anhaltenden Auseinandersetzung. Mit dem weiter oben zitierten Stuart Hall wollen wir auf die symbolisch-repräsentative Dimension dieses Wandels abheben.[12] Eine diskursive Dynamik, die Butterwegge (2023: 88) auch als „öffentliche Meinungsführerschaft des Neoliberalismus“ bezeichnet, ist hierbei vor allem seit den 1990er Jahren in der Debatte um die Performance der deutschen Volkswirtschaft und deren Reformfähigkeit zutage getreten.

Diese Debatte verlief entlang einer Reihe emblematischer Wegmarken. Ein Dauerbrenner in diesem Diskurs war die Debatte um Arbeitskosten und öffentliche Güter. Überhöhte Löhne, eine strukturelle Sockelarbeitslosigkeit und ein in der Konsequenz mit Fürsorgeerwartungen überfrachteter Wohlfahrtsstaat lähmten die deutsche Ökonomie, indem sie eine „sozialstaatliche und tarifliche Politik der planmäßigen Stilllegung von Arbeitskraft“ (Streeck 2004: 56) bewirkten. Das immobile Deutschland war, wie der Münchener Ökonom Hans-Werner Sinn (2003) in seinem Buch ‚Ist Deutschland noch zu retten?‘ formulierte, zum ‚Kranken Mann Europas‘ geworden.[13]

Wie die Schulleistungsuntersuchung der OECD ab 2000 bescheinigte, wiesen deutsche Schüler:innen vor allem in den für die deutschen Exportindustrien wichtigen Naturwissenschaften eklatante Defizite auf. Der aus dieser haarsträubenden Einsicht resultierende „Pisa-Schock“ prägte die Debatte um die Zukunft des deutschen Kapitalismus deutlich. Die Ereignisse an der Berliner Rütli-Schule, die – wie im zugehörigen Krisendiskurs kolportiert – aufgrund der Aufsässig- und Gewalttätigkeit ausländisch-stämmiger Schüler:innen – für den Lehrkörper unregierbar geworden war, nährten den öffentlichen Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des deutschen Standorts. Sollten DAS etwa die Dichter und Denker des 21. Jahrhunderts sein, die da Tische und Stühle aus den Fenstern des Schulgebäudes warfen und dabei weder wussten, wie tief der Tschadsee ist, geschweige denn einen korrekten Dreisatz rechnen konnten?[14]

Ein weiteres Element des diskursiven Bezugsrahmens stellt die Debatte um die „Neue Unterschicht“ dar – ein Begriff, den mit Kurt Beck (2006) im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ebenfalls ein Sozialdemokrat prägte.[15] Zwei Jahre vorher hatte schon der Berliner Historiker Paul Nolte (2004) erläutert, dass ein erheblicher Bevölkerungsteil den Großteil seiner Zeit an den Fliesentischen überheizter Hochhauswohnungen mit dem Konsum von Kartoffelchips, Zigaretten und Dosenbier in „fürsorglicher Vernachlässigung“ (Nolte 2003) verbringe. Während die normalen Leute – also sowohl der kleine Mann auf der Straße als auch die ehrbaren Bürger – ihr Tagewerk in der Fabrik oder ihrer Praxis für Kieferorthopädie verrichten, sitzen Arbeitslose zu Hause und steuern per Fernbedienung Videotextseiten an, während ihre Kinder auf dem Hof der Hauptschule randalieren. In Zeiten aber, in denen die Chinesen nur darauf warten, nach unserem schönen Steinkohlebergbau auch die Produktion unserer Autos und Einbauküchen zu übernehmen, können wir uns das aber nicht mehr leisten. Der Arbeitslose muss also ans Band und die Schüler:innen zur Nachhilfe.

Es ist im Rückblick bemerkenswert, mit welcher Inbrunst Politiker die Sachzwanglogik globalen Standortwettbewerbs als unumgängliche – und damit eben nicht politische – Tatsache dargestellt haben. Im Interview mit der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erläuterte der damalige Präsident Roman Herzog „Wir haben so viel Sozialstaat aufgebaut, dass er unsozial geworden ist. […] [F]ür viele ist es komfortabler, sich vom Staat aushalten zu lassen, als sich anzustrengen und etwas zu leisten. Das ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit für alle, die arbeiten.“[16] Besonders erstaunlich erscheint in diesem Zusammenhang auch die rückwirkende Rechtfertigung des alarmistischen Diskurses durch den ehemaligen IG Metall-Vorsitzenden Detlev Wetzel. Die Frage „Wer hat an der Uhr gedreht?“ beantwortet dieser in seiner Autobiografie: „Das Herbeireden eines Ausnahmezustandes war vor allem deshalb notwendig, weil es sich fünf vor zwölf besser reformieren lässt als um zehn Uhr. Also mussten die Uhren von Hand auf fünf vor zwölf gestellt werden, um ordentlich Druck im Kessel zu erzeigen“ (Wetzel 2012:103).

Es ließe sich an dieser Stelle noch viel, viel weiter ausholen. Unerzählt bleibt hier zum Beispiel die Geschichte, wie Thilo Sarrazin mal vorrechnete, was man von einem Hartz-IV-Satz eigentlich alles an Nahrungsmitteln kaufen und daraus zubereiten könne. Festzuhalten ist, dass es um die Jahrtausendwende einen Diskurs um Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsmodells sowie seine arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Ursachen und Konsequenzen gab.

5. „Mein Block“ zwischen Affirmation und Empowerment

Prekarität, das Leben in der Stadt und kapitalistische Modernisierung sind zentrale Motive sowohl in der Soziologie als auch im Straßen- und Gangstarap. Während die Soziologie für die Analyse dieser Motive Theorien und eine mal mehr und mal weniger verständliche Fachsprache verwendet, finden sich in den genannten Genres künstlerische Darstellungen wieder. Auf den vorangegangenen Seiten habe ich die These vertreten, dass Sidos Song „Mein Block“ seine spezifische Bedeutung vor dem Hintergrund einer politökonomischen Rahmenhandlung über den Wandel des deutschen Sozialkapitalismus gewinnt. Im Einklang mit früheren Arbeiten zum Thema (vgl. Seeliger 2013; 2021) möchte ich den Song dabei als Kulturform „zwischen Affirmation und Empowerment“ interpretieren. Zentrales Bezugselement ist hierbei der Topos der ‚Neuen Unterschicht‘ im Kontext der standortpolitischen Debatte. Dass die Figur der Neuen Unterschicht, wie Kessl (2012: 187) bemerkt, „in hohem Maße unscharf und unbestimmt“ ist, eröffnet einen Interpretationsspielraum, der zwei Lesarten besonders nahelegt.

Im Sinne der affirmativen Lesart stellt „Mein Block“ ein Element des Krisendiskurses um die Neue Unterschicht dar. Die klischeehafte Darstellung der Bewohner:innen des Blocks und ihres Alltags bedient stereotype Vorstellungen einer illegitimen Lebensweise von Unterklassenangehörigen. Sidos Inszenierung bedient die Vorstellung einer leistungsverweigernden Gruppe sozial Exkludierter, die den fleißigen Angehörigen der integren Mehrheitsgesellschaft zur Last fallen. „Wie sollen wir mit diesen Leuten unseren schönen Kapitalismus am Laufen halten?“[17] Unter den Tisch fällt in dieser Perspektive, dass die deutsche Exportweltmeisterschaft und der (scheinbare) Rückgang der Arbeitslosigkeit mit der Blockbildung im Märkischen Viertel unmittelbar zusammenhängen. Die absurde Idee, dass man die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Unterklasse verschlechtert, damit diese sich im Wege des sozialen Aufstiegs gewissermaßen von selbst auflöst, wird widerlegt durch die Verhältnisse im Viertel.

Die reißerische Darstellung der anomischen Verhältnisse in Sidos Block bedient gleichzeitig die Abstiegsängste der Mittelklassen. Dass es – zumindest theoretisch – den gut situierten Hörer:innen genauso gehen könnte, ist eine unangenehme Realität der vor allem nach unten flexiblen Sozialstruktur des liberalen Kapitalismus. Die affirmative Lesart bedient aus dieser Perspektive unterschichtenfeindliche Ressentiments, die gleichzeitig von der Angst motiviert sind, dass es einem genauso gehen könnte.

Demgegenüber lässt sich unter Aspekten des Empowerment eine zweite Lesart vermuten, die auf die Etablierung einer Gegenidentität der Bewohner:innen abzielt. Wie Hartmann (2008: 511) in Bezug auf die Ansässigen der Pariser Banlieues herausstellt, strukturiert deren Verhältnis zur Gesellschaft ein „Stigma“ der Andersartigkeit. Indem Sido nun eine hedonistische Lebensart, ein abwechslungsreiches Treiben, sexuell ausschweifende Alltagspraktiken und eine allgemeine Resilienz gegenüber den Verwerfungen des Lebens im Block in Szene setzt, greift er den Stigmatisierungsdiskurs auf, indem er einige dessen zentraler Momente reinterpretiert. Aus dieser Perspektive funktioniert der Song im Einklang mit der Hypothese von Loh und Göngür (2017: 219), denen zufolge Gangsta- und Straßenrap „für eine hybride, indirekte Form der Selbstermächtigung“ steht.[18] Die Angst herrschender Eliten um das Humankapital des Wirtschaftsstandorts Deutschland stellt auch in dieser Perspektive ein zentrales Moment der Inszenierung dar – nur eben nicht als Ausdruck der Besorgnis, sondern als Gegenstand der Provokation.[19]

„Exklusion“, so schreibt Siebel (2015: 365), „ist Verweigerung von Kommunikation. Sie blockiert jede Möglichkeit, die Verunsicherung durch den Fremden zur produktiven Irritation werden zu lassen.“ Diese Form der – bedingt durch räumliche Segregation beschränkten, selektiven Wahrnehmung hilft „Mein Block“ zu durchbrechen. Was danach passiert, so habe ich argumentiert, ist Gegenstand spezifischer Lesarten. Über den Ausprägungen dieser Lesarten habe ich – anschließend an mein älteres Verständnis von Gangstarap als Genre „zwischen Affirmation und Empowerment“ zwei Vermutungen angestellt. Wie bereits Janitzki (2012: 305) in ihrem Text zum gleichen Thema nahelegt, wären reale Existenz und Wirkungsweise dieser Lesarten in der sozialen Praxis der Akteure im Wege einer Rezeptionsforschung zu untersuchen.[20]

6. Anstelle eines Fazits

Cultural Studies sind Gesellschaftsanalyse. Die gesellschaftliche Ordnung, ihre Konflikte und ihre Beharrungskräfte, die progressiven Bewegungen und die Reaktion darauf sind kulturelle Phänomene, genau wie deren symbolischen Repräsentationen eine ökonomische Komponente innewohnt. Diese ökonomische, oder besser: polit-ökonomische, Komponente bleibt in den allermeisten Arbeiten aus dem Feld, das sich selbst als Cultural Studies (oder auch spezifisch: Soziologie der Popkultur) bezeichnet, unberücksichtigt. Das mag in einem geringen Interesse der betreffenden Kolleg:innen begründet liegen, wie auch in einer mangelnden Qualifikation. Wer die Kulturanalyse – gerade in einem klassenpolitisch so aufgeladenen Genre wie Gangstarap – effektiv betreiben will, muss aber die Bezüge zu den Verhältnissen von Leistungserstellung und Güterverteilung verstehen, auch wenn sie sich jenseits der im Genre besungenen Schwarzmärkte („Geld mit Schnuff“) bewegen. Eine Cultural-Studies-Analyse ohne Politische Ökonomie hätten die Begründer des Feldes – Hall, Hoggart, Thompson und all die anderen – kaum als inhaltliche Ergänzung verstanden – und das mit Recht. Ohne Politische Ökonomie ist die Hip-Hop-Forschung häufig nicht viel mehr als ein besserer (oder auch nicht besserer) Journalismus.

 

Anmerkungen

[1] Im Folgenden will ich die beiden Begriffe synonym verwenden. Strenggenommen stellt ‚Mein Block‘ eher einen genrebegründenden Song für den Straßenrap dar. Für Gangstarap besetzt eine ähnliche Schlüsselbedeutung das Lied ‚Ghetto‘ der Rapper Eko Fresh und Bushido.

[2] Mit Mayer-Ahuja (2003: 35) markiert das Normalarbeitsverhältnis zumindest eine „juristisch anerkannte und darum herrschende Fiktion“.

[3] Als Pionier der US-amerikanischen Stadtforschung hatte Park zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Georg Simmel in Berlin studiert und von diesem die Methode des Spazierengehens als Mittel zum Generieren sozialwissenschaftlicher Daten erlernt. Angeblich fand im Wissenstransfer zwischen Berlin und Chicago auch Simmels Begriff der Wechselwirkungen Eingang in den Fundus der Chicagoer Soziologie, wo er später – in englischer Übersetzung – als „symbolischer Interaktionismus“ zu Tage trat.

[4] In der Soziologie nennt man das einen rekursiven Zusammenhang. Stellen Sie sich etwa die Tätigkeit im Homeoffice in einer kleinen von Ihnen und Ihren Kindern bewohnten Hochhauswohnung in Hamburg Mümmelmannsberg vor und vergleichen Sie diese mit Dieter Bohlen in seiner Tötensener Villa einige Kilometer weiter südwestlich. Wer hat die bessere wirtschaftliche Ausgangsposition?

[5] Zusammenstöße mit oftmals hyperdominant und mitunter diskriminierend auftretenden Polizeikräften sind hier an der Tageordnung (vgl. Wacquant 2009: 107) – man erinnere sich an die Reaktionen auf den Tod zweier Jugendlicher auf der Auf der Flucht vor der Pariser Polizei im Herbst 2005. Ähnliche Dynamiken einer Gleichzeitigkeit rassistischer und klassenbezogener Diskriminierung erkennt Loic Wacquant auch in den immer wieder auftretenden Unruhen in von Schwarzen und Latinos bewohnten Stadtteilen der Metropolen der USA. Die Rodney King-Riots am 26. April 1992 in Los Angeles mit 45 Todesopfern, 2.400 Verletzte und 10.000 Festgenommenen sind das historische Paradebeispiel antirassistischer Reflexreaktionen, welche mit Schmidt gleichzeitig als Brotrevolten einer vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossenen Unterklasse deuten lassen.

[6] Stuart Halls Arbeiten sind hier vor allem zu nennen. Ausgewählte Schriften zum Thema finden sich in den Bänden von Hall (1989, 1994 2000), siehe außerdem Seeliger (2017).

[7] Nachdem man schon das erste verschuldet hatte, galt es dort allerdings, wie der damalige Außenminister Joschka Fischer dramatisch erläuterte, ein zweites Auschwitz zu verhindern.

[8] Auch hier wurde im Zuge des Ukraine-Krieges jüngst neu kalibriert. Die strategische NATO-Partnerschaft vor Augen bewältigt die Ampel-Koalition die bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung gleich noch einmal.

[9] Die Formulierung „Spätkapitalismus“ impliziert den optimistischen Zeitgeist. Anders als im Spätherbst, auf den im regulären Jahresturnus der Winter folgt, wissen wir allerdings bislang nicht, wie und wann der Kapitalismus endet. Insofern ist es auch schwer, anzugeben, wie spät es historisch gesehen ist.

[10] Auf dem Kongress der SPD-Bundestagsfraktion zur Sozialen Marktwirtschaft prognostizierte er im Wortlaut: „Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden.“ (Quelle: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/dokumentation-die-schroeder-rede-im-wortlaut/2512876.html, Abruf 13.12.2022)

[11] Ich berufe mich hier auf die ausführliche Darstellung bei Lütten (2023)

[12] Siehe ausführlich hierzu Brown (2015) oder auch Mausfeld (2015).

[13] Stichwortgeber im entsprechenden Krisendiskurs war außerdem der 1995 zum Chef des „Spiegel“-Wirtschaftsressorts beförderte Journalist Gabor Steingart, der die Debatte um „den Abstieg eines Superstars“ (2004) und einen „Weltkrieg um Wohlstand“ (2006) befeuerte.

[14] Weitere Beispielaufgaben finden sich unter: https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/9789264594272-de.pdf?expires=1670914532&id=id&accname=guest&checksum=632289AB4D1C0DA187200984A1F676A4 (Abruf (13.12.2022)

[15] Einen Vertreter dieser Gruppe sollte Beck gegen Ende desselben Jahres noch persönlich adressieren, indem er ihm nahelegte, sich mal zu „[w]aschen und rasieren, dann kriegen Sie auch einen Job“ (vgl. Hengst/Volker 2006).

[16] Man kann diese Form der Argumentation durchaus im Begründungsmodul neoliberal motivierter Ent-Demokratisierung der Demokratie betrachten (im Sinne von Thatchers „There is no alternative“) und damit als Vorbote verfassungsmäßiger Austerität im Rahmen der Schuldenbremse oder der später im Euroraum durchgesetzten Troika-Politik verstehen https://www.bz-berlin.de/archiv-artikel/alt-bundespraesident-roman-herzog (Abruf: 13.12.2022).

[17] Eine ähnliche Krisendiagnose verballhornt früh schon der 1994 erschienene Film „Voll Normal“ von Ralf Huettner mit Tom Gerhardt in der Hauptrolle.

[18] „Die Negatividealisierung des Lebens in benachteiligten Stadtvierteln“, so schrieb in Bezug auf „Mein Block“ schon Janitzki (2012: 300), „wird durch eine Art Umdeutung der Normen vorgenommen.“

[19] Mit seiner Darstellung des Blocks als sexuell aufgeladenem Sonderbereich schließt Sido schließlich an einen hybriden Diskurs an, in dem sich Elemente beider Zuschreibungsmodi wiederfinden. Seine Entsprechung fände diese exotisierende Lesart im offensiv durch den ehemaligen Bürgermeister Klaus Wowereit kultivierten Stadtmarketing-Slogan, Berlin sei „arm, aber sexy“.

[20] In diesem Zusammenhang ließe sich dann auch die empirisch zu beantwortende Anschlussfrage, ob in der Praxis nicht vielmehr eine dritte Lesart zu finden ist, die irgendwie voyeuristischer (oder wie auch sonst immer) ausfällt, empirisch beantworten.

 

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