Ohne Begriffe ist auch die pornografische Anschauung blind
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 16-20]
Was tun, wenn die Pest naht? Aufs Land fliehen und solange frivole Geschichten erzählen, bis der Tod doch Einzug hält? Oder bleiben und zusehen, wie die Gesellschaft ins Chaos stürzt, Erkrankte eingemauert werden, um den Rest der Bevölkerung zu retten? Zuflucht in der Religion suchen und sich für seine Sünden geißeln, um dem Elend im ewigen Leben zu entfliehen? Oder sich (schenkt man dem italienischen Chronisten Matteo Villani Glauben) »der Lust in die Arme werfen« und »es zügelloser und erbärmlicher [treiben] als jemals zuvor«?
Die Corona-Krise war keine drohende Katastrophe, sondern eher eine schleichende Freiheitsbeschränkung. Während des Lockdowns wurden die Fenster Betroffener nicht zugemauert, es wurden keine neuen Religionen gegründet und auch keine öffentlichen Selbstbestrafungen oder Sex-Orgien durchgeführt. Die Ruhe wurde bewahrt, trotz Kita-Schließungen und Kurzarbeit. Soziale Kontrolle wurde über die gesellschaftliche Ächtung von Isolationsbrüchen hergestellt. Vormals ausgehfreudige Menschen blickten nun kopfschüttelnd auf Unvorsichtige, die sich ohne den gebotenen Mindestabstand im Park trafen, rückten anderen die Maske zurecht und ermahnten zu nah Stehende im Supermarkt, doch bitte zurückzutreten. Und tatsächlich wurden die Ansteckungsraten zumindest hierzulande eingedämmt.
Der staatlich verhängte Hausarrest erwies sich aber als Nährboden für eine ganz andere Epidemie: Menschen hatten plötzlich Zeit. Sie lasen, buken Brot und kauften das Bauhaus leer, um ihre Heimwerker-Träume zu verwirklichen. Die Straßen waren gesäumt von »Zum-Mitnehmen-Kisten«, weil alle endlich mal Muße hatten, das wegzuwerfen, was ihnen keine Freude macht. In den Sozialen Netzwerken überschlugen sich insbesondere kinderlose Bürger*innen mit Ankündigen und Beweisen ihrer Errungenschaften. Und manche hatten auch mehr Sex, wie etwa das »Vice Magazine« mit Fallgeschichten nachweisen wollte.
Licht ins Dunkel der Schlafzimmer brachten insgesamt allerdings die mobilen Endgeräte. Jene Ära, in denen Stromausfälle die Geburtenrate flächendeckend in die Höhe trieben, scheint abgeschlossen zu sein. In Zeiten erzwungener Aufmerksamkeitsverschiebungen wecken heute nicht Partner*innen das gesteigerte Interesse des anderen, sondern neue Inhalte. Das wissen natürlich auch die Anbieter im Netz: Hörbücher für Kinder, Kindle- und Filmkollektionen, »Bravo«-Hefte und Rezeptsammlungen wurden hektisch hochgeladen, um den ständigen Bedarf nach aktuellem Content zu bedienen. Natürlich gab es auch extra Spannendes ›nur‹ für Erwachsene. Es handle sich um eine »solidarische Geste«, behauptete die Sexualtherapeutin Melanie Büttner im Zeit-Online-Sex-Podcast (13.04.2020), »in einer Zeit, in der […] Selbstbefriedigung tatsächlich auch eine stabilisierende Wirkung hat.« Der Anbieter Pornhub fand das wohl auch und zeigte seine Solidarität mit unseren besonders stark betroffenen südlichen Nachbarn, indem er seine expliziten Inhalte für italienische VPN kostenlos zur Verfügung stellte. Ob exzessiv durchgeführtes Selbst-Handanlegen den Italienern half, mit der Krise umzugehen, ist nicht belegt.
Was aber helfen kann, da sind sich zumindest die ein oder andere Sexualtherapeut*in und Filmemacher*in einig, ist ein neues Genre am Sexfilm-Himmel: Corona-Porn. »Ich glaube, die Leute mögen das, weil es einen Teil ihrer Ängste zeigt«, ventilierte Spicy, die eine Hälfte des Duos, das für den frühen Corona-Porn-Clip »Bodycam Footage (CDC Agent) Investigates Deserted Wuhan« verantwortlich zeichnet, in einem Interview mit refinery29.de. Psychische Belastungen, ausgelöst durch Ungewissheit und U-Boot-Krankheit, würden spielerisch aufbereitet und entschärft. Sich ihrer Verantwortung als mediale Vorbilder bewusst, lassen es sich Filmemacher*innen dann auch nicht nehmen, an die Maskenpflicht zu erinnern. In »Coronavirus: Horny Slut Has to Use Protection During Outbreak!« z.B. mansplained der Darsteller Chase Poundher seiner Sexpartnerin, wie man den obligatorischen Mundschutz richtig anzieht, bevor es schließlich ans Eingemachte geht.
Aufschluss über das breite Interesse an der potenziell heilsamen Wirkung von Corona-Porn gibt die notorisch transparente Plattform Pornhub, wie »Forbes« im April 2020 aufzählte: »In mid-April, a search for ›coronavirus‹ on Pornhub resulted in 1,292 videos. The number is now at 1,528. Around the same time, the term ›quarantine‹ turned up 5,273 results. Two weeks later it produces 7,132. Search terms such as ›COVID‹ and ›lockdown‹ result in fewer videos but they are there. Stats released by Pornhub showed over 6.8 million searches between the start of February and early March, with searches peaking on March 5 at 1.5 million.«
Neben den Feeds, in denen gerade Gepostetes von Algorithmen angeordnet wird, läuft die Suche nach bestimmten Inhalten stets über solche Kategorien- und Schlagwortsysteme. Sie regeln die Navigation innerhalb der Datenbankstrukturen des Netzes. Dabei ordnen sie nicht nur die Suche, sondern bilden laut Christine Hanke »überhaupt erst die Kategorien und Gegenstände«, von denen sie sprechen. Diese Regulierung ist allerdings nicht als lineare Top-Down-Bewegung zu verstehen, sondern als komplexer dynamischer Prozess, der auf der Eingabe, Auswertung und Wiedereinspeisung von Benutzer*innen-Informationen basiert. Vilém Flusser beschrieb bereits 1997 in seinem Buch »Für eine Philosophie der Fotografie« dieses Wechselverhältnis mit Blick auf die Entwicklung der Fotokamera: Die Veränderung der Kameramodelle sei Folge des Feedbacks, das die Fotoindustrie von den Fotoamateuren unablässig bekomme.
Auf Webseiten mit expliziten Inhalten sind es nun Schlagworte wie »Japanese«, »Big Ass«, »Lesbian«, »Ebony«, »Facial«, »Milf« oder »Teen«, die als Anhaltspunkte dienen, um zu den gewünschten Inhalten zu kommen, aber auch abseits von Pornoseiten benutzt werden, um Vorlieben zu benennen. Was auffindbar und damit auch begehrbar ist, wird gegenwärtig von einigen wenigen Anbietern entschieden, indem sie steuern, wieviel Aufmerksamkeit bestimmte Schlagworte bekommen, wobei die Prägung solcher Schlagworte und Genre-Angaben wiederum in Kenntnis der Suchaktivitäten der User*innen geschieht.
Das gilt für Kategorien basierend auf Race, sexueller Ausrichtung oder Age genauso wie für bestimmte Fetische oder aktuelle Trends wie den Corona-Porn. Schlagworte sind vor allem technische Vokabeln, die innerhalb der automatisierten Prozesse zu Suchergebnissen führen, weil sie ›eindeutige‹ Zuschreibungen wie Schwarz/Weiß, Asian/Latina etc. vorgeben, für die User*innen sich entscheiden müssen. Sie sagen deshalb nicht unbedingt etwas über den Inhalt der unter ihnen zu findenden Clips aus. Darauf wiederum reagieren manche User*innen, indem sie ihre Suchaktivitäten auf eine Weise durchführen, mit der die Defizite der Kategorien und die damit verbundenen vorherigen Suchenttäuschungen kompensiert werden sollen. Die Darstellerin Janice Griffith beschrieb 2015 in einem Interview auf der Internetseite »Splinter« z.B., wie User*innen nach einem »brown-skinned girl« suchen und deshalb »Latina« als Suchbegriff eingeben. Das tun sie nach Griffiths Beobachtung nicht etwa, weil sie auf ›Latinas‹ stehen, sondern »because they know that brown girls are [listed as] Latina.«
Grundsätzlich hat sich die einstige Techno-Utopie des Internets als Ort allseitiger Öffentlichkeit sowie unablässiger Quelle des Singulären und Neuen im heutigen Alltag, in dem die digitalen Medien tatsächlich Teil des Lebens (fast) aller geworden sind, auf eine andere Ebene verschoben. Wir folgen Trends, ersetzen regelmäßig unsere ›alten‹ Endgeräte und verbringen viel Zeit mit Seiten und Apps, die uns ständig auffordern, sie zu aktualisieren. Mit Blick auf Porno-Anbieter im Netz erweist sich das Versprechen des Internets, sich ständig zu erneuern und ständig neue Inhalte anzubieten, einerseits als richtig: Junge Frauen vor allem haben meist nur eine sehr kurze Halbwertszeit als Darstellerinnen, wie die Serie »Hot Girls Wanted« von Jill Bauer und Ronna Gradus verdeutlicht, weil sich ihr durch Neuheit erzeugter Wert schnell abnutzt. Andererseits werden auf Porn-Seiten aber auch sehr viele Inhalte recycelt und mehrfach beschlagwortet, was nicht nur einen trügerischen Eindruck von Vielfalt erzeugt, sondern auch deutlich macht, dass Kategorien sehr durchlässig sein können.
Jeder Porno im Krankenhaus-Setting, mit asiatisch aussehenden Frauen, dem Einsatz von Masken oder Schutzanzügen könnte demnach unter Schlagworten wie »quarantine«, »corona« oder »lockdown« zu Ergebnissen führen, die Menschen mit einem Fetisch für Doktor-Patient-Rollenspiele oder Ganzkörperanzüge interessieren. Corona-Porn stellt sich bei näherem Hinsehen deshalb nicht als neuer Trend, sondern eher als Manifestation eines Tricks bzw. einer Maßnahme heraus, die mit der Etablierung neuer Genre-Typologien Aufmerksamkeit und dadurch sozioökonomisches Kapital erzielen möchte.
»New Media, if they are new, are new as in renovated, once again, but on steroids, for they are constantly asking/needing to be refreshed. They are new to the extent that they are updated«, schrieb Wendy Chun 2006 im Vorwort des Readers »New Media/Old Media«. Angetrieben durch die Faszination an noch nicht Dagewesenem, gespeist von Social Feedback und aktualisiert durch Suchen, die auf Erfahrungswerten mit früheren Suchergebnissen aufbauen, versuchen Updates dabei das Gefühl einer Wiederverzauberung der Medien zu vermitteln. Wie auch immer es um das Gelingen des Versuchs bestellt sein mag, sicher ist zumindest: Er bringt eine Fülle neuer Ad-Hoc-Genres hervor.