Rezensionsessay: Leif Randt, Joshua Groß, Sally Rooney, Scott McClanahan
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 10-15]
Everyone says: I love you. Doch Liebe ist – zumindest in Literatur – immer auch eine Funktion des literarischen Geschmacks. »Klopstock«, hauchen sich Werther und Lotte zu. Würden sie ›Lammkotelett‹ sagen, wäre das, Liebesmahl hin oder her, eine Parodie. Obwohl natürlich auch Objektgaben und Fetische in Liebesverhältnissen eine Rolle spielen – die blassroten Schleifen, die Lotte Werther zum Geburtstag schenkt (zusammen mit einer Homer-Ausgabe), die Orangenschnitze, die sie bei einem Fest an die Anwesenden verteilt (wobei es Werther stets einen Stich gibt, wenn nicht er der Adressat der süßen Gabe ist). An Liebesgeschichten lässt sich somit geradezu die Logik ästhetischer Urteile ablesen: Lust entsteht, indem konkret Sinnliches, Gefühltes und Imaginiertes in Begriffe, also in Allgemeines transferiert wird. Nach Ausweis unserer Gegenwartsliteratur wird dieser ästhetische Grundprozess keineswegs bloß von autonomer, zweckfreier Kunst, sondern auch und gerade in alltäglichen, von Konsum geprägten Umgebungen ausgelöst. Was immer Liebende miteinander teilen, bringt uns auf diese Spur.
Als »pastellfarbenen Kapitalismus« hatten wir in dieser Kolumne bereits im Jahr 2012 die erzählte Welt in Leif Randts »Schimmernder Dunst über Coby County« charakterisiert. Im Frühjahr 2020 ist Randts neuer Roman erschienen, sein Titel: »Allegro Pastell«. »Manchmal fühlt man sich bei der Lektüre geblendet, als schaute man ohne Sonnenbrille direkt ins Licht der Gegenwart«, schreibt die »Zeit«. Vor allem aber seien die Hauptfiguren des Romans, der Webdesigner Jerome Daimler und die Schriftstellerin Tanja Arnheim (sprechende Namen, natürlich), »Distinktionsvirtuosen«. So weit, so Pop. Doch was in den 90er Jahren noch der Egomanie junggesellenhafter Selbstdefinition diente, gerät hier zur Anmutung einer Stil- als Liebesgemeinschaft. Nichts überlassen die beiden dem Zufall, nicht einmal die Wahl der Badmintonschuhe (Tanja bevorzugt die billig-stylishen von Décathlon). Solche Outfit-Akribie Verliebter kennen wir auch schon vom »Wertherkostüm«. »Wenn ich mich herrichte, schmücke ich das, was von der Begierde verunstaltet wird«, schreibt Roland Barthes. Alles wird zum ästhetischen Zeichen einer Liebeskommunikation; und das Paar in »Allegro Pastell«, das in einer Fernbeziehung (Berlin-Frankfurt) lebt, tariert diese im Wortsinn minutiös via Telegram, Snapchat und iMessage nach Nähe und Distanz aus.
Als Jerome Tanja am Frankfurter Bahnhof abholt, »überlegte er für einen Moment, ob er ihr entgegenlaufen sollte, aber dann fand er es charmanter, einfach stehen zu bleiben.« Charmanter? Während ein Hund oder ein Kind der geliebten Person fröhlich entgegenspringen würden, entscheidet sich Jerome für die distanziertere Variante und öffnet so das zwischenmenschliche Begehren für die Ästhetik. »Das Nicht-Habenwollen sollte also durch die folgende gewagte Regung von der Begierde durchpulst bleiben: ›ich liebe dich‹ ist zwar in meinem Kopf, ich bringe es aber nicht über die Lippen. Ich spreche es nicht aus. Stumm sage ich zu dem, der nicht mehr oder noch nicht der Andere ist: ›ich halte mich zurück, Sie zu lieben‹«, heißt es bei Barthes unter der Überschrift »Sobria ebrietas«. Etwas später hat sich diese Distanz dann reduziert: »Sie gingen Hand in Hand Richtung U4. Jerome hatte sich nur selten zuvor dafür entschieden, an der Hand eines Girlfriends durch Menschenansammlungen zu gehen. An der Seite von Tanja hinterfragte er dieses Bild nicht einmal mehr.« Die Stimmenvermischung zwischen Figur und Erzählinstanz – »charmanter«, »Girlfriend« und »hinterfragen« sind Wörter aus Jeromes Thesaurus – macht allerdings deutlich, dass Jeromes Händchenhalten mit Tanja keineswegs irgendwie ›natürlich‹ geschieht, sondern eine reflektierte, nüchtern-trunkene Stilentscheidung ist.
Die ästhetischen Mikrocodes verleihen der Liebesbeziehung stylishen Glamour: »Man stellt sich die beiden Protagonisten gut aussehend vor, weil alles, was sie tun, Ergebnis bewusster Entscheidungen ist«, schreibt Mangold. Gleichzeitig wirkt das Durchhalten von Hyperstyle und Berghain-Nächten mitunter auch ein bisschen anstrengend, und Jeromes Maintal-Existenz im Bungalow der eigenen Eltern als regelrechter Rückzugsort hiervon. Einerseits. Andererseits bildet Jeromes hessischer Normcore wiederum eine todschicke lokale Rahmung für den dort ausgetüftelten Entwurf von Tanjas pastellfarbener Webpage in lavalampenartig verlaufendem Blau-Orange (wie es auch den Buchumschlag ziert).
Ästhetische Urteile setzen Distanz voraus, und die muss man sich leisten können. So ist die erzählerische Konstruktion materieller Sorglosigkeit geradezu eine Voraussetzung für Randts Hyperstyle, für die durch und durch ästhetische Haltung der Protagonisten wie des Textes selbst. Dass Fragen der allgemeinen Verteilungsgerechtigkeit hier keine Rolle (mehr) spielen, wäre als realistisch-repräsentative Abbildung sicher falsch verstanden, beruht aber eben auch nicht auf einer pastellfarbenen Verblasenheit des Romans. Es ist ebenfalls eine bewusste, für das Projekt notwendige Stilentscheidung, die auch metaleptisch reflektiert wird. So ist Tanja durchaus abgestoßen von der Eitelkeit der homoerotischen Liebesgeschichte »Call Me By Your Name«, obwohl der Film in ihrer Clique als Kultfilm verehrt wird. »Die Spannung zwischen den beiden Hauptfiguren« – einem französischen Schüler und einem amerikanischen Doktoranden im Italien der stylishen Achtzigerjahre – »hatte auch sie zwar nicht völlig kalt gelassen, aber sie störte, dass der Film implizit erzählte, dass Glück, Toleranz und Menschlichkeit nur auf der Grundlage von Wohlstand und elitärer Bildung möglich waren«.
In der Darstellung ästhetischer Mikroentscheidungen und daraus resultierender Styles führt Randts Roman exakt das vor, was die Soziologin Eva Illouz »Emodities« nennt: die grundsätzliche Verknüpfung von Gefühlen mit dem Markt. Axel Honneth, als legitimer Erbe der Frankfurter Schule, bekommt bei dieser »steilen These« das Gruseln, weil es in einer solchen »Totalintegration kapitalistischer Gesellschaften« schlicht kein unentfremdetes Außen, keine Authentizität mehr gebe. Das hieße doch, so Honneth, »dass wir bereits jetzt in der grausigen Welt des Michel Houellebecq leben«. Aber stimmt das? So richtig grausig ist das, was wir bei Randt lesen, doch eigentlich gar nicht, auch greift Ekkehard Knörers Urteil in der Zeitschrift »Cargo« zu kurz, das »Einverständnis auch der impliziten Instanzen mit dem Erzähl(t)en« sei schlichtweg »komplett«. Gerade in der etwas umständlichen Sorgfalt, die die Figuren in der Herstellung des Ästhetischen bemühen, manifestieren sich vielmehr die impliziten Anführungszeichen des Pop, in denen sich, wie Susan Sontag wusste, stets auch Momente einer »psychopathology of affluence« artikulieren. Es geht also einmal mehr – wie so oft im Ästhetischen – um Mischungsverhältnisse.
»Wer es nicht permanent schafft, gleichzeitig Ironie, Selbsthass, Nostalgie, Affirmation und Konterrevolution in sich selbst auszuhalten, ist ein Hurensohn, der die Schichtungsverhältnisse der Gegenwart nicht verstanden hat«, erklärt Joshua Groß dazu in einem etwas grelleren Register. Das ästhetische Programm, das daraus folgt, zielt auf eine »Extremgegenwart« aus »wechselnden Trending Topics«, auf die wir »mit Finesse, Witz, mit genialen Erwiderungen« reagieren. Boy meets girl liest sich in seinem Roman »Flexen in Miami« dann so: »Mein Sitzplatz war auf Höhe der Mittellinie. Die Frau, die neben mir saß, filmte mit ihrem Phone den Auftritt der Cheerleader. Auf dem Videowürfel wurden Saisonhighlights der [Miami] Heat gezeigt. Das Maskottchen Burnie, ein flauschiger Feuerball schlich am Spielfeldrand rum. Ich zog mir ein rotes Shirt über, das im Eintrittspreis inbegriffen gewesen war. Von der Hallendecke segelten Pizzakartons herunter, die an Fallschirmen hingen. Ich bemühte mich, einen davon aufzufangen […]. Die Frau neben mir fragte mich mit französischem Akzent, ob wir ein Selfie machen könnten, für irgendein Gewinnspiel«. Als die beiden »umgeben von einem rosa Herz, mitten in der Kiss-Cam« (28) medial erfasst werden, »kam es dazu, dass wir uns zum ersten Mal küssten. Ich schmeckte Popcorn und Parfum und Kreischen und Zunge und Finger in meinem Haar«. ›Klopstock‹ heute – im Gedröhne des Basketballstadions statt lauschig zu zweit am Fenster. Die sozialen Medien, die hyperkommodifizierten Oberflächen bilden nicht, wie es von unseren gängigen ästhetischen Theorien eigentlich zu erwarten wäre, den Widerstand, gegen den erst eine Ästhetik etabliert oder Emotionen generiert und prozessiert werden müssten, sondern sie bilden die konstitutive Prägung und Codierung für beide.
Die literarische Inszenierung der Cloudrap-Ästhetik, die »Flexen in Miami« prägt, führt dabei eben nicht nur in grausige Totalentfremdung. Anders als ihre Gangsta-Kollegen rappt die Romanfigur Jellyfish P zwar mit einer Stimme, die per Autotune verzerrt ist – ein Höchstmaß an Künstlichkeit, und, wenn man die Stimme im romantischen Sinn als Ausdruck der Seele begreift, natürlich auch der Entfremdung. Das Ganze ist zudem »durchzogen von einem synthetischen, elektrospiritistischen Hirnrauschen, als bewege sich alles permanent kurz vor dem Kollaps« – und doch geht es in den Songs von Jellyfish P stets um »aufrichtige Sehnsucht und haltlosen Liebestaumel«. Und diese Form der New Sincerity setzt sich auch in Handlung um: Das von der Kiss-Cam erwählte Liebespaar zeugt ein Kind, das der Held gemeinsam mit dem Rapper und seiner Entourage großziehen wird. Auch bei Leif Randt steuert der Webdesigner Jerome letztlich auf ein Leben mit Nachwuchs zu, hier allerdings in der hessischen Provinz und mit SUV. Tanja verbleibt indes Single und im ästhetischen Modus einer post-pragmatic joy. Ihr, der Autorin, und damit der Literatur gewährt »Allegro Pastell« das letzte Wort: »Ich liebe dich –«.
Nein, authentisch und unentfremdet kommt sie nicht daher, die Liebe. Ihre Darstellung in den Settings und Mikrostrukturen der Gegenwartsromane jedoch als bloß ›grausig‹ zu bezeichnen, bliebe unterkomplex. Nicht einmal unpolitisch ist sie, im Gegenteil: Sally Rooney etwa, linke Erfolgsschriftstellerin, lässt in ihrem zweiten Roman »Normal People« den Protagonisten Connell über das Literatursystem als »class performance« nachdenken: »Literature fetishised for its ability to take educated people on false emotions«. »The old beat of pleasure«, das geradezu körperliche Glück des Schreibens, hieße demgegenüber auch hier, das theoretisch Gewusste und ausdrücklich Vertretene immer wieder mit den konkreten, fühl- und sichtbaren Mikrostrukturen des Lebens abzugleichen, sprich: ästhetisches Verhalten einzuüben. Konkret wird das in der Konstruktion eines Plots wie dem in Rooneys Debüt »Conversations with Friends«. Hier gelingt es ohne den Hauch von Parodie, Bobbi, die Freundin und Exgeliebte der Erzählerin Frances, in studentischer Runde über die Monogamie als Machtstrategie weißer Männer theoretisieren zu lassen und zugleich die feministische, mittellose Literaturstudentin Frances in eine Liebesaffäre mit dem verheirateten Schauspieler Nick zu schicken. Wenn Nick vom Baden aus dem Meer kommt, sieht er für Frances aus »wie eine Parfümwerbung« (vielleicht wie das Davidoff Cool Water-Commercial des »Lost«-Stars Josh Holloway aka Sawyer). Einen Joanna-Newsom-Song, den Nick ihr sendet, kontert Frances mit Billy Holidays »I’m A Fool To Want You«; beim Sex sieht sie Nick einen voreiligen Höhepunkt als »sein finsteres Verlangen, mich zu schwängern« nach. Ganz anders als Randts Pastellwelt – und doch auch nicht. Denn auch bei Rooney gilt die Woody-Allen-Formel: »Everyone says: I love you« – so jedenfalls Nick in der angesprochenen Szene.
»Eine klassische Liebesgeschichte« (Insa Wilke) erzählt auch Scott McClanahans Roman »Sarah«, eine komische und eine traurige dazu, denn die Ehe zwischen Scott und Sarah scheitert hier an Scotts Trinkerei. Nachdem Sarah ihn rausgeworfen hat, liest Scott Ovid: »›Zu singen kommt mir der Mut von all dem, das sich verwandelt‹«. Konkret ist das ein Karton mit Chicken Wings auf einem Walmart-Parkplatz: »Ich zog die Haut herunter und kaute und schluckte und fühlte, wie ich fetter und fetter wurde, und auch die Welt wurde fetter und fetter. […] Ich begann ein Gespräch mit den Chicken Wings, als wären sie noch am Leben. Ich fragte mich, was die Zukunft für mich bereit hielt. Und die Chicken Wings lachten und sagten nur ein Wort: ›Schmerzen‹«.
In ihrem Buch »Warum Liebe wehtut« stellt Eva Illouz einen »variety drive«, der in kapitalistischen Konsumsphären aufgrund eines Übermaßes an Auswahlmöglichkeiten kultiviert werde, als Grund einer grassierenden hedonistischen, insbesondere männlichen Bindungsangst dar. Bei Scott McClanahan begleitet die Krankenschwester Sarah die Achtzigjährige Miss K. (ihr Geheimnis einer guten Ehe: »Ficken, ficken und noch mehr ficken«) in den Tod. Eine Reihe angegrauter, aber deutlich jüngerer Männer pflegt die alte Dame und wacht über ihren Schlaf. Anders als Sarah zunächst denkt, handelt es sich nicht um ihre Söhne – Kinder hat sie nie gehabt – sondern um ihre sechs Ex-Ehemänner. In Miss K.s Sterbestunde halten sie sich, nach der letzten Verabschiedung ums Bett stehend, an den Händen: »Einige weinten, andere flüsterten ›Ich liebe dich‹«.
Literatur
Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe [1977]. Frankfurt am Main.
Groß, Joshua (2020): Flexen in Miami. Berlin.
Groß, Joshua (2018): Die Zauberberg-Bubble. In: Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Hg. v. J.G. u.a. Fürth, S. 300-309.
Illouz, Eva (2018): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Mit einem Vorwort von Axel Honneth. Berlin.
Illouz, Eva (2011): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Berlin.
Knoerer, Ekkehard (2020): Allegro Pastell. In: https://www.cargo-film.de/anderes-kino/routine-pleasures/notizen/notizen-2020/.
Mangold, Ijoma (2020): Das absolute Jetzt. In: Die Zeit. 5.3.2020. https://www.zeit.de/2020/11/leif-randt-allegro-pastell-rezension-buch-literatur.
McClanahan, Scott (2020): Sarah [engl.: The Sarah Book, 2017]. Übersetzt von Clemens Setz. Cadolzburg.
Randt, Leif (2020): Allegro Pastell. Köln.
Rooney, Sally (2019): Gespräche mit Freunden [engl.: Conversations with Friends, 2017]. Aus dem Englischen von Zoë Beck. München.
Rooney, Sally (2018): Normal People. London.
Sontag, Susan (1966): Notes on ›Camp‹ [1964]. In: Dies.: Against Interpretation. New York. S. 275-292.
Wilke, Insa (2020): Zwiegespräch mit Mops. In: Süddeutsche Zeitung. 1.4.2020. https://www.sueddeutsche.de/kultur/buchtipp-scott-mcclanahan-sarah-1.4863484.