Geld werden
von Jacob Birken 13.12.2022

Crypto als Ästhetik und Identitätspolitik

 

„Our identities have no bodies, so, unlike you, we cannot obtain order by physical coercion.“ (Barlow 1996)

„Modern digital technologies have allowed the phallus to continue to stand in for the man in more realistic ways than ever before: Men are now able to showcase their own genitalia.“ (Oswald et al 2020: 597)

Santiago R. Santos, ein Finanzinvestor um die Dreißig, besitzt einen Punk. Er erwarb seinen Punk am 11. April 2021 für 79.99 Ether, heute etwas über 95.000 Euro wert, damals fast das Doppelte. Mit Brille, Kapuzenpullover und Dreitagebart ist der Punk seinem Besitzer und letztlich einer gesamten Generation männlicher IT-Profis und Unternehmer nicht unähnlich; ein Stereotyp, wenngleich nicht unbedingt derjenige eines ‚Punks‘. Freilich handelt es sich hier nicht um eine wirkliche Person, sondern ein sogenanntes NFT: Ein ‚non-fungible token‘, ein verschlüsselter Besitzanspruch auf eine Bilddatei. In diesem Fall ist das Bild – wie sämtliche der 10.000 von der Firma Larva Labs vertriebenen „CryptoPunks“ – ein niedrig aufgelöstes Portrait aus 24 mal 24 Pixeln, wie es vielleicht in einem Videospiel in den frühen 1990er Jahren zu sehen wäre. Wie die Bildchen des „Bored Ape Yacht Club“ sind „CryptoPunks“ eine der populären NFT-Sammlungen in einem mittlerweile unüberschaubaren Feld aus Derivaten – digitale Bildmedien und zugleich Geldanlage für eine Szene, die sich auch politisch als zukunftsweisend versteht, aber zumeist durch Krisen und Gaunereien wie zuletzt den Kollaps der Crypto-Handelsplattform FTX in die öffentliche Wahrnehmung rückt.

Für die meisten sind Kryptowährungen eine Sache der letzten Jahre, doch ‚digitales Geld‘ hat – wie Finn Brunton in seinem hervorragenden Buch „Digital Cash“ von 2019 herausarbeitet – eine Vorgeschichte. Sie ist von manchmal anarchischen, oft libertären Ideologien geprägt, die mitunter in Science-Fiction-Szenarien abdriften. Im Glauben daran, dass der durch sie initiierte Turbokapitalismus unweigerlich die Wissenschaften enthemmen würde, ließen so einige der Cryptopioniere ihre abgetrennten Köpfe einfrieren, um dann in einer besseren Zukunft für die Unsterblichkeit optimiert wiederbelebt zu werden (Brunton 2019: 135–40, 205). Crypto mag vor allem als Werkzeug für unregulierte Spekulation betrachtet werden, doch die Spekulation als Wette auf die Zukunft hat hier heilsgeschichtliche Züge.

Vor diesem Hintergrund muss ein weit und breit verlachter Tweet verstanden werden, den Santos im September 2021 veröffentlichte: „NFTs = Identity 2.0“, verkündete er zu einer Gegenüberstellung einer stilisierten Fotografie des eigenen Gesichts und des verpixelten Punks; er könne sich gar nicht mehr erinnern, wann er zuletzt das linke Bild verwendet habe. Das war durchaus politisch gemeint. Das Abbild habe schließlich negative Konnotationen – „Emphasis on physical traits / genetic lottery / Prone to bias and prejudice“ – von denen das NFT frei sei: „Identity by choice / Unique and digitally scarce / Representation of values and beliefs“ (Santos 2021b).

Damit schien sich Santos in zeitgenössische, aber auch spezifisch historische Identitätsdiskurse einzuschreiben. In von Rassismus, Sexismus, Ableismus und Lookismus geprägten Gesellschaften wird das eigene Abbild diskriminierend verwendet werden; sich so nicht per Gesicht öffentlich zu identifizieren kann sehr wohl dem Selbstschutz dienen. Die digitale Öffentlichkeit ermöglicht, dass die an ihr Teilnehmenden adressierbar, aber ansonsten anonym bleiben – körperlose Identitäten, die sich herrschaftlicher Gewalt entziehen (Barlow 1996).

Dieser dystopischen Perspektive entspricht eine utopische, in der der digitale Raum zu einem Ort der selbstbestimmten Verkörperung wird. Die Verhältnisse zwischen der bewussten, emanzipatorischen Bestätigung der eigenen marginalisierten Identität und der schützenden Anonymität bleiben dabei außerordentlich komplex. Dass aus der Sicherheit der Anonymität heraus Selbstbilder gelebt werden können, die in der Gesellschaft sonst sanktioniert werden würden, ist noch keine Politik: Anonym können ebenso marginalisierte Menschen sein wie der rechtsradikale Troll. Dazu kommt, dass die wirtschaftlichen Interessen hinter den großen digitalen Plattformen des sogenannten Web 2.0 gerade die Eindeutigkeit der Identität einfordern, wenn die ‚Persönlichkeit‘ letztlich nur als Profil für den Onlinehandel relevant ist. „The idea that the virtual liberates you from your old self has collapsed“, stellte Geert Lovink bereits 2011 trocken fest. „There is no alternative identity.“ (Lovink 2011: 13)

Santos selbstbewusste Ankündigung (s)einer „Identität 2.0“ ist damit der Versuch, das alte Befreiungspathos des Digitalen zu reaktivieren. Der schwammige Freiheitsbegriff des frühen Internets – „On the Internet, nobody knows you’re a dog“, wie ein Hund im „New-Yorker“-Cartoon von 1993 zum anderen sagt – wird dabei stillschweigend durch das sehr konkrete Konzept des libertären Kapitals ersetzt. Das lässt es verfänglich ähnlich zu Vorstellungen emanzipatorischer Politik erscheinen: Essentialistische Biologismen werden zugunsten der Selbstbestimmung abgelehnt, Vorurteile ausgehebelt. Ein quasi-emanzipatorischer Enthusiasmus begleitet viele NFT-Projekte.

Angesichts der NFT-Sammlung „CryptoMutts“ des Künstlers und Kunstkritikers Kenny Schachter schrieb ein:e User:in mit dem Twitter-Namen AlwaysGood.ai: „Contemporary memes put through the NFT blender to produce a genuine commentary on diversity. We are all Mutts!“ (AlwaysGood.ai 2021). Wie Santos verwendet AlwaysGood.ai das NFT als Profilbild bei Twitter: Ein krakeliges Portrait einer Person mit blauem Froschkopf, Cowboyhut und Trenchcoat, #4496 unter den 10.000 von Schachter bereitgestellten CryptoMutts.

Im Gegensatz zu Santos, der in seiner Rolle als Crypto-Evangelist das eigene Gesicht regelmäßig ablichten lässt, bleibt AlwaysGood.ai jedoch ausschließlich durch das NFT repräsentiert. Innerhalb dieser Sphäre scheint sich das Versprechen der alternativen Identitäten einzulösen: „We are all Mutts“ lässt sich zumindest nicht falsifizieren, wenn „all Mutts“ ansonsten nichts anderes sind. Politisch ist dies ein gefährliches Missverständnis. ‚Identität‘ wird anhand von Unterschieden festgelegt, die zu rein ästhetischen verflacht werden. Unter den CryptoMutts ist der Unterschied zwischen einem Afro und einer Glatze der gleiche wie zwischen dem Hunde- und Menschenkopf oder zwischen schwarzer und blauer Haut; untereinander austauschbare Elemente, die zu einer von 10.000 unterschiedlichen Kombinationen montiert werden. Diese Austauschbarkeit auf ästhetischer Ebene entledigt sie jedoch nicht der Konnotationen, die sie im Alltag haben. Ein großer Teil der Häme für Santos’ Tweet entsprang folglich aus der Ähnlichkeit zwischen dem Punk und seinem Besitzer – der ‚Techbro‘ Santos schien mit großer emanzipatorischer Geste entschieden zu haben, sich durch das Pixelbildchen eines stereotypen Techbros am besten repräsentiert zu finden. Santos gab dies bereitwillig zu: Brille und Bart trage er selbst, während der Kapuzenpulli für Hacker-Kultur einstünde (Santos 2021a).

Ein Widerspruch ist dies dennoch nicht – schließlich bleibt es seine Entscheidung. Wir haben es also mit einer utopischen libertären Identitätspolitik zu tun, die Differenz zur persönlichen Wahl ummünzt. Die digitale Sphäre nimmt dabei die Funktion eines heilsgeschichtlichen Jenseits ein, in dem dies bereits möglich ist, während im Diesseits noch Vorurteile und Diskriminierung herrschen. Mit einer solchen Eschatologie sind NFTs als Identitätspolitik jedoch nur unvollständig erklärt; schließlich sind sie sowohl Bild wie Geldanlage.

Gerade dafür ist die Differenz nicht irrelevant. Der Preis eines NFTs bemisst sich sowohl an seiner Seltenheit wie am kulturellen Mehrwert. Letzterer kann in zweifacher Hinsicht biographisch begründet werden. Zum einen kann ein NFT die eigenen Interessen widerspiegeln (der Kapuzenpulli für die Hacker-Kultur), zum anderen wird sein Erwerb zum biographischen Ereignis. Der Verhaltensökonom und Crypto-Evangelist Matt Stephenson bezeichnet dies als „biographical indexicality“ – das Verzeichnen und Referenzieren von Ereignissen im eigenen Leben und dem anderer Menschen (Nguyen 2021).

Die Blockchain als beglaubigte Folge digitaler Transaktionen scheint sich dafür besonders zu eignen:  Aus den Kaufbelegen würde sich so eine Biographie fügen. Dies ist vielleicht die konsequenteste Selbstrepräsentation einer digitalisierten Konsumgesellschaft. Wo Instagram oder Facebook bereits dazu dienen, das eigene (und kollektive) Konsumverhalten öffentlich zu machen, würden NFTs dies sowohl automatisieren wie verifizieren. In diesem Moment gibt der libertäre Kapitalismus schließlich seine anarchistischen Ansprüche auf unbedingte Anonymität preis. Das biographische Element der Blockchain wird zu deren Schwäche. Da sämtliche Transaktionen einer Kryptowährungs-Adresse immer öffentlich sind, reicht es, nur eine einzige davon einer Person eindeutig zuordnen zu können. „The humans may try to conceal themselves, but their money has an identity, and it never forgets“, schreibt Finn Brunton (2019: 164). NFTs bauen gerade auf diesem Problem auf, indem die eindeutige Identität des Geldes gegebenenfalls die menschliche Biographie untermauert.

Clout und andere Währungen

Diese Hybridisierung von Mensch und Geld hat recht offensichtlich mit einer konventionellen Vorstellung von Status zu tun. In der CryptoSzene wird dies mit dem schwammigen Begriff des ‚clout‘ beschrieben, der nicht zufällig auch bisweilen riskantes kulturelles Kapital im Internet bezeichnet (Tiffany 2019). Was die konkreten Wertmaßstäbe dafür sind, bleibt offen, eine flüchtige Übereinkunft manchmal nur mikroskopischer Szenen darüber, welche Art von oft transgressivem Content zu Recht Aufmerksamkeit erzeugt. In diesem Sinne kann ‚clout‘ als Metapher auf ökonomische Prinzipien und ihre grundsätzliche Fiktionalität selbst verstanden werden. „When kids who believe themselves to be on top of the world use the term, they tip their hand, exposing their deep-seated knowledge of how temporary it all is, and how zero-sum“, schreibt Kaitlyn Tiffany (2019).

‚Clout‘ ist ein interessanter Anlass, grundsätzlich über Geld als eine mediale oder ästhetische Praxis nachzudenken; schließlich bezeichnet es den eigenen Marktwert innerhalb einer Aufmerksamkeitsökonomie. Auf gesellschaftlicher Ebene ist Geld ein Geflecht aus Konventionen: Wir stimmen zu, dass bestimmten Handlungen und Gütern ein numerischer Wert zugewiesen wird; wir stimmen zu, dass diese Handlungen und Güter für eine Währung zu ebendiesem Wert eingetauscht werden können.

Die technokratischen Utopien, aus denen sich heutige digitale Währungen entwickelten, boten Analysen und neue Ansätze für diese Konventionen. Welche Machtverhältnisse stehen hinter ihnen, und lassen sie sich unabhängig von staatlicher oder institutioneller Herrschaft denken? Welche Mechanismen bestimmen, was der jeweilige Preis von allem ist? Die radikalen Technik-Utopist:innen, die Brunton in „Digital Cash“ beschreibt, sahen die Lösung in einer vollständig digitalisierten Wirtschaft: „[T]he economy as a machine directed to unknowable ends, ungovernable and computationally irreducible, beyond human ability to steer or outguess, a machine made of whole populations of desires, impulses, fantasies, hungers, and other subjective drives that consumes and transforms everything set before it“ (Brunton 2019: 125).

Von dieser bereits dubiosen Fantasie scheint heute eine noch fragwürdigere Schwundform geblieben zu sein. Tatsächlich ist der ‚dezentralisierte Finanzmarkt‘ mittels Blockchains heute unregierbar, aber weniger aufgrund der transhumanen Rechenleistung der Maschine dahinter, sondern wegen der erstaunlichen Inkompetenz und kriminellen Energie der beteiligten menschlichen Akteur:innen. Trotzdem haben digitale Medien verändert, wie wir heute über ‚Währungen‘ denken. Dies hat einerseits damit zu tun, dass Computer ohnehin alles quantifizieren und damit auch ästhetisch marktförmiger machen; andererseits damit, dass digitale Vernetzung diese Marktförmigkeit auf immer mehr Bereiche überträgt. Das offensichtlichste Beispiel ist die Quantifizierung und Monetarisierung von Aufmerksamkeit durch große Social-Media-Plattformen.

In einem alarmistischen Artikel zum Niedergang Twitters schreibt Eve Fairbanks: „The amount of reputational and social wealth that stands to be lost if Twitter collapses is astounding. Twitter currently functions as perhaps the world’s biggest status bank, and the investments stored in it are terrifyingly unsecured“ (Fairbanks 2022). Das auf der Microblogging-Plattform angehäufte ‚clout‘ wird hier für bare Münze genommen. Dies ist nicht per se falsch, doch lässt aus, dass es sich dabei auch um ein Geschäftsmodell handelt. Auf Twitter wurde ‚Status‘ akkumuliert, weil eine bestimmte Klientel das unter sich als Konvention etablierte. Das heißt nicht, dass dieser Status nicht politisch oder wirtschaftlich wirksam sein kann, aber ebenso wenig, dass es nicht in vielen Fällen auf ein Nullsummenspiel herausläuft.

Dass es sich bei alledem um ein Spiel handeln kann, ist genug Akteur:innen im Internet bewusst. Vor einiger Zeit etablierte sich auf TikTok die fiktionale Währung „Dabloons“ – Zuschauer:innen bekamen diese in Videos überreicht, konnten in anderen die Marktpreise für allerlei Waren erfahren oder wurden ausgeraubt. „Dabloons“ sind eine Parodie auf oder zumindest das Gegenmodell zur Blockchain, in der alle Transaktionen öffentlich sind, wenngleich die Handelspartner:innen anonym bleiben (können). „In principle, it is just a matter of everyone keeping track of how much money everyone else has“, schrieb Bitcoin-Pionier Hal Finney 2002 zu einem frühen Kryptowährungs-Projekt; „B-money doesn’t rely on scarcity of any commodity, or discipline on the part of a money issuer. Rather, the collective behavior of the entire society produces a consensus definition of how much each person has“ (Finney 2002).

Diese kollektive Kontrollfunktion fällt bei „Dabloons“ weg: Hier wissen ausschließlich die TikTok-Nutzer:innen selbst, wie viel sie jeweils besitzen – falls sie es sich notiert oder gemerkt haben. Damit wäre es ohne weiteres möglich, sich ein Millionenvermögen an „Dabloons“ anzudichten, doch damit wäre nichts gewonnen; stattdessen begannen Spieler:innen, innerhalb dieser Fiktion eine Steuerverwaltung für „Dabloons“ einzurichten und wiederum als Reaktion darauf eine revolutionäre Befreiungsbewegung zu starten (Boseley 2022).

Alles auf Müll gesetzt

Mit NFTs können Menschen auch jenseits des Internet Reichtümer anhäufen oder sich in den Ruin treiben, doch der agonistische Charakter – das Spiel um ‚clout‘ – steht hier ebenso im Vordergrund.  Dies bringt uns zur abschließenden Diskussion um die formalästhetischen Aspekte von verpixelten Punks oder Affen-JPEGs. In einem unlängst erschienenen Artikel vergleicht Rechtswissenschaftler Brian L. Frye NFTs mit dem Kunstmarkt: „[T]he art market was always essentially an NFT market. Art collectors want to own works with clout“ (Frye 2022: 348). Seine Argumentation ist derjenigen einer biographischen Verwicklung von Menschen und Gütern verwandt: „When collectors buy NFTs, they don’t expect control of the works represented. […] They want those works to circulate as widely as possible. They want people to talk about and admire or despise those works. They want those works to be important.“ Dies hebelt für Frye zum einen das Problem des Copyrights aus – ein Werk akkumuliert umso mehr ‚clout‘, je öfter es reproduziert wird. Zum anderen erklärt es die oft triviale oder stumpf transgressive Ästhetik von NFTs. Die NFTs des „Mutant Ape Yacht Club“ etwa zeigen die Affen aus der vorangegangenen „Bored Ape“-Sammlung in unterschiedlichen Zuständen des Verfaulens oder Schmelzens.

Gerade ihre Anspruchslosigkeit oder offensichtliche Scheußlichkeit markiert das Potential ihrer Wertsteigerung. Wären dies formal anspruchsvolle Bilder, läge bereits darin ein kulturell festgelegter Wert, der ihrem reinen Potential als Spekulationsobjekt im Wege stehen könnte. „Ein weggeworfenes Ding ist einerseits eine höchst wertlose, profane, unnötige Sache“, schreibt Boris Groys (1999: 110) über frühere Praktiken der Wertsteigerung. „Seine Valorisierung in der Kunst demonstriert deshalb auf den ersten Blick die ganze Stärke und Freiheit der Kunst, die dem hierarchisch Wertlosesten höchste kulturelle Bedeutung verleihen kann.“

Es gibt zwei vielleicht komplementäre Möglichkeiten, dies im Zusammenhang mit NFTs als identitätspolitischem Instrument weiter auszuführen. Die erste ist eher eine Pathologie: Das ‚profane‘ Bild – der verwesende Affe als Profile Pic auf Twitter – ist zwar eine strategische Transgression für ‚clout‘, doch in der digitalen Öffentlichkeit übergriffig, sobald es letztlich jede soziale Interaktion begleitet. Wenn Frye schreibt, dass NFT-Besitzer:innen von anderen möchten, dass sie deren NFTs „bewundern oder verachten“, unterschlägt er, dass es sich hier um komplexe Vorgänge des Begehrens handelt. Die Selbstidentifikation mit dem zu Bewunderns- oder Verachtenswerten kippt hier ins Narzisstische.

Dass das ‚Profane‘ eine für die NFT-Besitzer:innen aufwertende Erfahrung sein soll und für deren unfreiwillige Betrachter:innen eine bestenfalls ambivalente bleibt, erklärt die Abneigung gegen ihre Verwendung auf Social Media. Als Twitter im Frühjahr 2022 eine Funktion einführte, die NFT-Profilbilder mit der dazugehörigen Wertanlage verknüpfte und in einem achteckigen Rahmen darstellte, fluteten augenblicklich hämische Memes die Plattform (Know Your Meme 2022). In dieser narzisstischen Fehleinschätzung oder Ignoranz des Interesses, die andere dem NFT-Profilbild entgegenbringen sollten, erinnert letzteres beinahe an eine entsexualisierte Variante des Dick Pics, dessen Sender – so zumindest eine Studie – ernsthaft davon auszugehen scheinen, dass die ungefragte Zusendung zu positiven „Transaktionen“ führen würde (Oswald et al 2019: 603f). Dieser Vergleich mag frivol erscheinen, ist angesichts der maskulin geprägten Techbro-Kultur aber nicht unbedingt abwegig.

Die andere Perspektive betrifft die Struktur der großen NFT-Sammlungen wie CryptoPunks, BAYC oder Schachters Cryptomutts. Wie erwähnt werden diese Bilder jeweils als Unikat aus vorgefertigten Elementen erzeugt. Santiago Santos’ Punk (#9159) ist einer von 259 mit einem Kapuzenpulli, von 526 mit einem Dreitagebart, von 572 mit einer Nerdbrille – und eben der einzige mit genau dieser Kombination. Er teilt diese Eigenschaften aber mit Punk #6529, der dazu als vierte Eigenschaft einen heruntergezogenen Mundwinkel aufweist. #6529 gehört einem anonymen NFT-Sammler, der konsequenterweise nur als „Punk6529“ bekannt ist und gerade erst von der Website Coindesk zu einem der einflussreichsten Akteure der Branche gekürt wurde. Seine auf 20 Millionen Dollar geschätzte NFT-Sammlung stellt er in einem eigenen „Museum“ auf der 3D-Plattform Oncyber.io aus, plant aber bereits eine um den Museumsbezirk angelegte digitale Großstadt, das „Open Metaverse“. Während Punk6529 anonym bleibt, ist der CryptoPunk seiner Wahl ihm wohl nicht unähnlich. “There’s a reason I didn’t choose a Mohawk Punk with a gold chain,” sagt er dem Coindesk-Reporter. “This is nerd-ville central” (Kuhn 2022).

Dass für Santos oder Punk6529 eine Identifikation mit dem NFT-Bild qua Ähnlichkeit möglich ist, trifft ihren repräsentativen Anspruch nur unzulänglich. Tatsächlich geht es um die Möglichkeit selbst, die sich in der massenhaften Variation der gepixelten Punks ausdrücken soll. Wie Wolfgang Ullrich schreibt, ist eine Analogie von Kunst und Geld lange historisch angelegt – bereits Schlegel sah wie über zwei Jahrhunderte später Frye den Wert der Kunstobjekte in ihrer „Zirkulation“ und kontinuierlichen Re-Interpretation in neuen Diskursen (Ullrich 2007: 201f). Gerade eine interpretationsoffene moderne und zeitgenössische Kunst wird zunehmend ‚geldähnlich‘, da sie für die jeweiligen Betrachtenden immer neue Bedeutungen annehmen kann. Zugleich hat sie einen Marktwert, der in Galerien oder auf Auktionen sehr konkret festgesetzt wird: „So quantifiziert man zumindest ihre spezifische Qualität der Unbestimmtheit“ (Ullrich 2007: 218).

NFT-Serien könnten als der Versuch verstanden werden, dies mit digitalen Mitteln zu formalisieren. Die spezifische Kombination der ‚Eigenschaften‘ eines CryptoPunks mag einen formalen oder sentimentalen Wert haben, verweist aber vor allem auf die Summe der potentiellen Kombinationen. Auf wirtschaftlicher Ebene dient dies der Verknappung und Wertsteigerung (Punks mit Kapuzenpullis und Brille sind aktuell nur mit Backenbart oder Goatee auf dem Markt); ideologisch fügt sich das in eine neoliberale Vorstellung von Diversität ein, in der jede Differenz nur ästhetisch ist. Im NFT wird Identität wird zum knappen Gut und behält dennoch das volle Potential ihrer Austauschbarkeit.

Dies eröffnet ein sehr postmodernes Spiel, in dem alles nur im Auge der Betrachter:in Bedeutung, aber auf dem Markt immer einen Wert hat. Vor diesem Hintergrund könnten wir sagen, dass sich Menschen mit NFT-Profilbild letztlich als Geld identifizieren. Hinter dieser kapitalistischen Ontologie verbergen sich jedoch sehr konkrete Mechanismen der (Um-)Verteilung und des Verbrauchs von Ressourcen. Das Risiko und die längerfristigen Kosten für die schnelle Spekulation tragen dann zumeist die anderen, zu denen hier auch unsere gemeinsame Biosphäre gehört. Finn Brunton schließt sein Buch mit einem ernüchternden Fazit: „It may well be the purest and most honest expression of a society that could not figure out what to do with its technological inventiveness – its energy, innovation, and abundance – except to squander it in creating new kinds of artificial scarcity“ (Brunton 2019: 201).

Brunton meint damit die strukturellen Funktionen von Kryptowährungen in unserer Gesellschaft, doch es trifft ebenso auf die Bildebene der NFTs zu. Entgegen aller Häme sind sie nicht unbedingt ein unehrlicher Ausdruck der Sehnsüchte ihrer Besitzer:innen. In einem Interview erwähnte Santos, der selbst in Mexiko aufwuchs, dass sein persönliches Investment in die Krypto-Welt auch aus der Unsicherheit heraus entstand, wie viel Zeit ihm selbst noch bliebe – seine Schwester sei an einer seltenen Form der Epilepsie erkrankt, womit sein Verweis auf eine „genetic lottery“ freilich einen ganz anderen Unterton annimmt (Levy 2021).

Irgendwo in Arizona wartet derweil der tiefgefrorene Körper Hal Finneys – des Empfängers der allerersten Bitcoin-Transaktion – darauf, in einer Zukunft aufgetaut zu werden, in der ALS nicht länger eine unheilbare Krankheit ist (Brunton 2019: 205). Selbst zu Geld werden könnte so Teil einer sehr modernen Sinnsuche sein. Dann steht zwar immer noch das Risiko – der Grundmodus unserer kapitalistisch-industriellen Gesellschaft – im Mittelpunkt, aber eben ‚nur‘ Geld auf dem Spiel, während wir im meatspace ganz anderen Kontingenzen ausgesetzt bleiben. „Is it infinitely good to do double-or-nothing coin flips forever?“, fragte sich die in den FTX-Crash verwickelte Caroline Ellison und bejahte; verlieren können wir nur unseren bisherigen Besitz, während der Gewinn potentiell unendlich sei (Levitz 2022). Das mag ein interessantes, sehr aktuelles Heilversprechen sein, doch wie in vielen anderen Religionen scheinen vor allem andere dafür den Preis vorausbezahlen.

 

Literatur

AlwaysGood.ai (2021): https://twitter.com/Ommane/status/1443308815932342275 [6.12.22]

Barlow, John Perry (1996): A Declaration of the Independence of Cyberspace,  https://www.eff.org/cyberspace-independence [6.12.22].

Boseley, Matilda (2022): What are dabloons?: Tiktok’s new imaginary economy explained. In: The Guardian, 25.11.2022. https://www.theguardian.com/technology/2022/nov/25/what-are-dabloons-tiktoks-new-imaginary-economy-explained [6.12.22].

Brunton, Finn (2019): Digital Cash. Princeton.

Fairbanks, Eve (2022): We’re in Denial About the True Cost of a Twitter Implosion. In: Wired, 2.12.2022. https://www.wired.com/story/musk-denial-true-cost-twitter-implosion/ [6.12.22]

Finney, Hal (2002): Re: Currency based on Energy. http://extropians.weidai.com/extropians.1Q02/3361.html [6.12.22]

Frye, Brian L. (2022): After Copyright: Pwning NFTs in a Clout Economy. In: The Columbia Journal of Law & the Arts, Vol. 45. Nr. 3.

Groys, Boris (1999 [1992]): Über das Neue. Frankfurt am Main.

Know Your Meme (2022): https://knowyourmeme.com/memes/twitter-hexagonal-nft-profile-pictures [6.12.22].

Kuhn, Daniel (2022): The Punk Fighting for an Open Metaverse, In: Consensus Magazine, 5.12.22. https://www.coindesk.com/consensus-magazine/2022/12/05/punk6529-most-influential-2022/ [6.12.22].

Levitz, Eric (2022): Is Effective Altruism to Blame for Sam Bankman-Fried? In: Intelligencer, 16.11.2022. https://nymag.com/intelligencer/2022/11/effective-altruism-sam-bankman-fried-sbf-ftx-crypto.html [9.12.22].

Levy, Adam (2021): When DeFi Meets The Creator Economy. https://adamlevy.io/2021/10/28/when-defi-meets-the-creator-economy-santiago-r-santos/ [9.12.22].

Lovink, Geert (2011): Networks Without a Cause. Cambridge.

Nguyen, Terry (2021): The value of NFTs, explained by an expert. In: Vox, 31.3.2021. https://www.vox.com/the-goods/22358262/value-of-nfts-behavioral-expert [6.12.22].

Oswald, Flora et al (2020): I’ll Show You Mine so You’ll Show Me Yours: Motivations and Personality Variables in Photographic Exhibitionism. In: The Journal of Sex Research, 57:5, 597-609.

Santos, Santiago R. (2021a): https://twitter.com/santiagoroel/status/1381428548020236291 [6.12.22]

Santos, Santiago R. (2021b): https://twitter.com/santiagoroel/status/1443319539241033734 [6.12.22].

Tiffany, Kaitlyn (2019): Why Kids Online Are Chasing ‘Clout’. In: The Atlantic, 23.12.2019. https://www.theatlantic.com/technology/archive/2019/12/clout-definition-meme-influencers-social-capital-youtube/603895/ [6.12.22]

Ullrich, Wolfgang (2007): Gesucht: Kunst! Das Phantombild eines Jokers. Berlin.

 

Schreibe einen Kommentar