Mehr als nur Symbolpolitik
von Marius Reisener
29.11.2022

Zu den medialen Protestformen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und der Letzen Generation

Angesichts der jüngsten Attacken auf prominente Kunstwerke der europäischen Moderne, aber auch auf den Flughafen Berlin-Brandenburg oder die Elbphilharmonie spalten sich die journalistischen Lager in diejenigen, die den Aktionen nur mit Häme begegnen – was sei schon dran am Protest. Andere wiederum sehen ‚unsere‘ Kunst, ja ‚unsere‘ Kultur in Gefahr. Es muss einigermaßen bizarr anmuten, wie Protestaktionen, die die nahende Klimakatastrophe zum Auslöser haben, zur Konstitution einer Volksgemeinde instrumentalisiert werden, deren Formation nicht selten über Sammlungsorte betrieben wird – Orte die, das sei nicht vergessen, große Mengen an Raubkunst in ihren Vitrinen und Kellern lagern. Doch was ist dran an der Kartoffelbrei-Attacke auf Monets „Getreideschober“, an dem Tomatensuppen-Angriff auf Van Goghs „Sonnenblumen“, an den Protesten, den Reaktionen darauf und der medialen Aufarbeitung? Welche Effekte haben Aktionen dieser Art, die sich in öffentlichen, jedoch vor allem für das Bürgertum reservierten Räumen vollzieht und dabei die Strukturen der Öl-, Kohle- und Gasindustrie völlig unberührt lassen? Welchen Einschlag kann Protest haben, wenn sein Zielobjekt materiell unbeschadet davonkommt?

Das Mediale der Kunst

Kunstwerke sind ihre eigenen Medien, sie vermitteln, wie und unter welchen Umständen sie zustande gekommen sind und wahrgenommen werden können. Dieser Status kommt ihnen seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu, insofern als die Ästhetiken zu dieser Zeit beginnen zu definieren, was erstens das Kunstschöne überhaupt sei, zweitens wie dieses Kunstschöne erkannt und drittens, wie diese Technik des Erkennens vermittelt werden kann. Sofern Kunstwerke zugleich die Möglichkeitsbedingungen davon, wie sie zustande gekommen sind, reflektieren und in sich aufnehmen, kommt ihnen eine wesentlich vermittelnde Rolle zu. Kunstwerke sind medienästhetische Medien.

Was mit deren Beschädigung dann auf dem Spiel steht, ist entschieden mehr als reine Symbolpolitik. In diesen Gesten zivilen Ungehorsams bündelt sich das Interesse daran, Kanäle der Informationsvermittlung zu stören. Hierin zeigt sich eine Parallele mit den Demonstrationen der Fridays for Future-Bewegung. Wurde hier wie dort zunächst der direkte Impact solcher Aktionen kritisch befragt, entfesselte sich das Unruhepotenzial der freitäglichen Großdemonstrationen vor allem dort, wo der Protest unter der Oberfläche soziale Institutionen und deren Zwecke zu erodieren begann: Die aufbegehrenden Schüler:innen drohten aufgrund der Fehlstunden vermeintlich zu verdummen, ja nutzlos zu werden.

Angesichts möglicher Folgen geraten vor allem die konservativen Agent:innen der öffentlichen politischen Debatten in Aufregung. Wie sollte diese Generation dazu in der Lage sein, die Gesellschaft am Laufen zu halten, weiterhin wirtschaftliches Wachstum zu garantieren und den Generationenvertrag einzulösen? Wer sich selbst dem Zugang von Informationen verwehrt, der stelle eine Gefahr für den sozialen Zusammenhang dar. Was diese Form antizipierender Sorge um den Bestand des Volkskörpers vor allem zeigt, ist, dass mit Protesten dieser Art auch die hergebrachten Formen der Wissens- und Informationsvermittlung angegriffen wurden. Zwar waren die Proteste in allen Fällen auf mediale Vernetzung angewiesen, im Bereich der Organisation wie dem der Berichterstattung. Doch durch ihren temporären Rückzug aus dem Bildungssystem, dessen institutionellen Zwängen und Formen der Wissensvermittlung – durch ihre Art des „I’d prefer not to“ – rüttelten sie (und rütteln noch immer) am Status quo der auf Vermittlung angewiesenen Bildungsanstalten.

Ähnliches spielte sich im holländischen Fernsehen ab. Dort sollte kürzlich der Extinction Rebellion Vertreter Jelle de Graaf in der Live-Talkshow Jinek über Formen extremer Protestkulturen sprechen – und klebte sich mit den Händen auf dem Studiotisch fest. Diese Aktion wurde von de Graaf mit dem Appell an die Medien verbunden, dass sie die Pflicht hätten, ehrlich über Klima- und Umweltkrisen zu berichten. Wenig überraschend fielen die Reaktionen des Moderators und der Gäste aus, da man nicht mehr richtig zum Gespräch gekommen sei. Beau van Erven Dorens, Host der Show, beschwerte sich über die unsympathische und unzivilisierte Weise des Protests, der keinen Dialog mehr zuließ.

Genau darum dürfte es de Graaf wohl gegangen sein . Mit diesem Aufruf verbindet sich eine zweite Ebene der Disruption. Wo sich die Sehgewohnheiten in Bezug auf visuelle Unterhaltungsformate in den vergangenen zehn Jahren drastisch verändert und sich auf video-on-demand-Formate verlagert haben, stellt der niederländische Aktivist angesichts der Störung linearer Fernsehformate auch Formen linearer und das heißt kontinuierlicher Geschichtenerzählung zur Disposition. Es handelt sich um eine Aktion, die sich gegen das Medium und damit gegen formatierte Medialität selbst richtet, deren Lückenlosigkeit und Übergänglichkeit nicht im geringen Maße zum universellen Verblendungszusammenhang beigetragen hat, den Theodor W. Adorno der modernen Unterhaltungsindustrie vorgeworfen hat, und der nicht unschuldig ist am Zustand der gegenwärtigen Informationslage.

Proteste dieser Art entfalten also, so ineffektiv sie in Bezug auf die ‚wirklichen‘ Problembereiche aktueller Klimadebatten auch zunächst erscheinen mögen, ihre Wirkkraft vor allem dort, wo es um Medialität selbst und die damit zusammenhängenden Formen des Geschichte-Machens geht. Mit Blick auf den öffentlichen Umgang mit diesen Protestformen zeigt sich indes noch etwas anderes: Denn dieser Blick offenbart Einsichten in die politischen und diskursiven Beißreflexe, die angesichts von vermeintlichen Unruhen im Betrieb zutage treten. Es geht um Affekt-Politik – und auch diese ist wesentlich an ‚ihre‘ Orte gebunden.

Museale Praktiken

Ein Ort, wo sich diese Konflikte abspielen, ist naheliegenderweise die Institution ‚Museum‘. War mit dem Auftauchen von Museen noch die Hoffnung auf einen demokratischen und das heißt einen Ort des freien Zugangs sowie des Verzichts auf Machtausübung verbunden, für den sich etwa Hans Belting (2002) interessierte, verkehrte sich diese Institution im Gleichschritt mit den Vorgängen sozialer Re-Hierarchisierungen des 19. Jahrhunderts in ein Biotop bildungsbürgerlicher Stabilisierungsversuche. Denn mit dem Museum als Proto-Institution verbindet sich das Geschichtlich-Werden seiner Gesellschaft.

Folglich kommt dem Museum eine Archiv-Funktion zu, und zwar vor dem Hintergrund der möglichen Vergänglichkeit der Zivilisation. Dass es nun gerade diese Orte sind, die zum Kampfplatz von Verdrängungs- oder Vergegenwärtigungsstrategien menschlichen Versagens angesichts des nahenden Desasters geworden sind, ist keineswegs paradox: Mit der Aneignung des Museums durch das Bürgertum verbindet sich die Entdynamisierung, Entkontextualisierung und damit auch eine Enthistorisierung musealer Praktiken. Das Museum will zum Ort eines Erzählers werden, das keinen Anfang kennt, das seine Objekte aus seinen Herkünften herauslöst und sie damit zugleich den Blick auf ihre Zukünftigkeiten versperrt.

Es geht um die Herstellung eines überzeitlichen Sammlungsortes, und getilgt werden sollen hier die historisch-kolonialen Spuren der Aneignung seines Ausstellungsmaterials. Die Objekte solcher „Erinnerungshort[e]“, als die sich mit Jürgen Osterhammel Museen bezeichnen lassen, werden re-kontextualisiert, die Vergangenheiten, aus denen das Museum schöpft, werden im Aggregatzustand der Möglichkeit nur ihres neuen Ortes aufbewahrt, und zwar „als virtuelle Gegenwart“ (Osterhammel 2011: 32). „Nur gehortet, also ungelesen und unangeschaut, bleibt die kulturelle Vergangenheit tot, allein im Akt des Nachvollzugs wird sie lebendig. Die Bereitschaft zu solchem Nachvollzug nennt man Bildung.“ (ebd.) Wo die Exponate aber aus ihren Zusammenhängen gerissen wurden, vollzieht das Museum dann eine Arbeit an der Umschrift ihrer Herkünfte. Entsprechend handelt sich um eine Bildung, die elementar auf die Ent- und gleichzeitige Redynamisierung ihrer Objekte angewiesen ist, damit ihr neues Träger-Milieu sich an diesen Orten vor allem seiner selbst vergewissern und ihre Agent:innen einer (ideologischen) Dressur unterziehen kann.

Mit ‚seinen‘ Gegenständen, so ließe sich folgern, lässt das Museum auch den Betrachtungsmodus, der dort eingeübt und performiert wird, erstarren. Was Jean Baudry 1975 in seiner Studie Le dispositif zunächst für das Kino und dessen Besucher:innen formuliert hatte, gilt auch für das Museum. Um Dispositive (zu Deutsch etwa ‚Apparat‘ oder ‚Vorrichtung‘) handelt es sich in beiden Fällen, insofern sie Sehgewohnheiten einüben, das Verhältnis zu den dort versammelten Objekten steuern und die Betrachter:innen dazu anhalten, zu deren verdeckten Herkünften eine spezifische Haltung einzunehmen – eine Haltung, die wesentlich ideologisch-verblendet und das heißt unethisch erscheint.

Haltungsfragen

So ist mit dem Begriff der ‚Haltung‘, die qua Dispositiv gestreut wird, schließlich die Rückseite derselben Medaille benannt, deren Vorderseite Grund und Ziel der jüngsten Proteste war: Denn lesbar werden diese Aktionen als ethische Handlungen, genauer: Zugrunde liegt etwas, das sich mit Michel Foucault (2010) als parrhesia bezeichnen ließe: der Mut, die Wahrheit zu sprechen, und zwar um keinen geringeren Einsatz als das Subjekt selbst. Wenn Nancy Faeser (SPD) die Blockade des BER durch Die Letzte Generation damit quittiert, dass Aktionen wie diese die „wichtige gesellschaftliche Akzeptanz für den Kampf gegen den Klimawandel“ zerstöre, dann mag das eingedenk der seit Jahren ergebnislos sich wiederholender Weltklimakonferenzen zunächst einigermaßen zynisch anmuten; dass die Bundesinnenministerin aber angesichts der, so Faeser weiter, „kontraproduktiv[en], anmaßend[en] und potenziell gefährlich[en]“ Aktion „konsequente Strafen“ fordert, da Flughäfen „keine Bühne für politische Aktionen“ seien, wirft nicht nur Licht auf die Ignoranz politischer Akteure bezüglich der globalen Krise, auf die wir offenen Visiers zulaufen. Es wird auch klar, dass die Protestierenden ihre Existenz aufs Spiel setzen.

Bei den Protesten handelt es sich somit um Provokationen ethischen Profils, und zwar vor allem mit dem Zielort ‚Rezipient:in‘. Denn was diese Proteste vor allem offen zutage gefördert haben, sind die unbedingten Abwehrmechanismen einer Wohlstands- und Sicherheitsgesellschaft, wenn es darum geht, Anspruchsberechtigungen (entitlement) zu überdenken, solidarisch handlungsfähig zu bleiben – und überleben zu können. Es geht anders ausgedrückt darum, Rechenschaft zu geben, und zwar der Haltung den Protesten und ihren Ursachen gegenüber. Rechenschaft geben (giving an account), so hat es Judith Butler in ihren Adorno-Vorlesungen formuliert, meint, dass „wir uns dort aufs Spiel setzen, in diesem Moment des Unwissens, wo das, was uns bedingt und vorausliegt, voneinander abweicht, wo in unserer Bereitschaft, anders zu werden, als dieses Subjekt zugrunde zu gehen, unsere Chance liegt, menschlich zu werden, ein Werden, dessen Notwendigkeit kein Ende kennt.“ (Butler 2001: 144) Was dieses Zugrundegehen meint, ist eines im Zeichen der Menschlichkeit. In der aktuellen Gemengelage heißt das, im Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Zukunft auch die Vehemenz staatsrechtlicher Reaktionen zu reflektieren. Mit Blick auf die Verhaftungen von 13 Protestierenden im Freistaat Bayern lässt sich in aller Kontur erahnen, dass es gegenwärtig um Rechenschaft und Veränderungswillen auf Seiten des Staates nicht gut bestellt ist.

Wo sich eine neue Generation von Aktivist:innen in den Randbereichen herkömmlicher medialer Strukturen formiert und vernetzt, attackiert sie aus der Peripherie den Kern eingespielter Informationsproliferation. Sie tut das, weil sie ihrer Stimme beraubt wurde, weil sie vor der Katastrophe steht. Die Objekte ihres Protestes sind dabei keineswegs nur symbolpolitischer Natur. Es geht um eine fundamentale Störung des Wesens der Medien, deren Institutionen und unserer Haltung zu ihnen. Was Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Die Letzte Generation betreiben, ist, diejenigen medialen Kanäle in ihrem tiefsten Wesen zu stören, deren Betreiber:innen zu lange weghört haben.

 

Literatur

Baudry, Jean-Louis (1975): Le dispositif. In: Communications, 23. Psychanalyse et cinéma. S. 56-72.

Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Aus dem Engl. v. Reiner Ansén. Frankfurt a.M.

Belting, Hans (2002): Das Museum. Ein Ort der Reflexion, nicht der Sensation. In: Merkur 640, S. 649-662.

Foucault, Michel (2010): Der Mut zur Wahrheit – Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am College de France 1983/84 [Le gouvernement de soi et des autres: le courage de la vérité (1984)], aus dem Frz. von Jürgen Schröder. Frankfurt a.M.

Osterhammel, Jürgen (2011): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München.

Schreibe einen Kommentar