Soll das ein Soundtrack für das Buch sein?
von Judith Niehaus
1.11.2022

Die Playlist zum Roman als Paratext

Am 2. Mai 2022 stellte ein:e User:in namens ‚rileyross‘ im Forum der Literaturcommunity Vorablesen folgende Frage:

„Hey Leute, da mir in letzter Zeit verstärkt aufgefallen ist, dass in Büchern zu Beginn immer öfter Playlists abgedruckt werden, würde mich mal interessieren, wie ihr dazu steht. […] Bisher hab ich mir die Musik noch nie angehört, aber vielleicht ist das bei euch anders? Ich verstehe auch ehrlich gesagt nicht, was die Intention dahinter ist. Soll das ein Soundtrack für das Buch sein, den ich während des Lesens höre?“

Die Forumsdiskussion, die sich daraufhin entwickelt, ist durchaus aufschlussreich – nicht nur für rileyross, sondern auch für die zentrale Frage meines Beitrags: Die Frage nach den unterschiedlichen Funktionen und den verschiedenen Erscheinungsformen der Playlist im oder zum Buch.

Das von rileyross identifizierte Phänomen ist gar nicht so neu, wie es die Formulierung der Frage vermuten ließe. Musikalische Referenzen gibt es in der Literatur schon lange. Verschiedene Spielarten und historische Beispiele des „Erzählens über Musik“ führt etwa Christine Lubkoll entlang der Trias ‚E.T.A. Hoffmann – Thomas Mann – Ingeborg Bachmann‘ vor (Lubkoll 2017). Die in einem literarischen Werk enthaltenen musikalischen Referenzen zu kompilieren, geht allerdings einen Schritt weiter. Unternommen hat diesen Schritt beispielsweise Ed Pavlić für das Werk von James Baldwin. Inspiriert von den Songs vor allem Schwarzer Musiker:innen, die Baldwin selbst gehört hat, in seinen Werken referenziert oder die für Pavlić (auch über den Tod des Autors hinaus) mit Baldwins Texten resonieren, hat er „Jimmy’s Songs Playlist“ zusammengestellt (Pavlić 2016).

Ursula K Le Guin hingegen hat, als Pionierin nicht nur auf diesem Gebiet, zu einem ihrer Romane selbst eine Kompilation von Songs veröffentlicht: 1985 erschien zu „Always Coming Home“ das gemeinsam mit dem Musiker Todd Barton aufgenommene Album „Music and Poetry of the Kesh“. Dafür wurden die von Le Guin imaginierten Instrumente nachgebaut und Texte der Kesh, einem im Kalifornien der fernen Zukunft lebenden Volk, vertont, um die Referenzen des Science-Fiction-Romans zu materialisieren (vgl. Dayal 2018).

Im Gegensatz zu Le Guin und Barton steht Thomas Pynchon, der für seine zahlreichen musikalischen Referenzen bekannt ist (vgl. Hänggi 2018) im Jahr 2009 andere technische Möglichkeiten zur Verfügung als die Veröffentlichung einer Schallplatte zum Buch: Für „Inherent Vice“ hat Pynchon in Kooperation mit Amazon eine Playlist der im Roman erwähnten (und real existierenden) Songs zusammengestellt, die über Links zu einzelnen MP3-Downloads zugänglich ist (vgl. Smith 2020).

So innovativ dieses Publikationsformat 2009 wirken mochte, so überholt ist es heute im Zeitalter von Streamingdiensten. Vor allem Spotify, das von 433 Millionen Menschen (Stand: 2. Quartal 2022) genutzt wird und damit den Markt mit großem Abstand vor Mitbewerbern wie Apple Music, Amazon Music und Deezer dominiert, hat die Praxis der Distribution und Rezeption von Musik nachhaltig verändert. Ermöglicht wird erstens ein scheinbar universeller Zugriff auf Musik (aktuell mehr als 80 Millionen Tracks) und zweitens die selbstständige Kompilation von Songs zu Playlists. Damit wird Spotify zu einem zentralen Faktor der Playlist im oder zum Buch und trägt zur Konjunktur dieses Phänomens maßgeblich bei.

Ein Buch in den Händen und Musik auf den Ohren

Bücher, in denen Playlists abgedruckt und/oder zu denen Playlists auf Spotify (oder vergleichbaren Plattformen) angelegt werden, sind der Gegenstand dieses Textes. Ein noch relativ junges Beispiel dafür ist Jan Wilms „Winterjahrbuch“ (2019). Zu diesem Roman wurde auf Spotify von einem Account namens „Winterjahrbuch“ eine Playlist ebenfalls namens „Winterjahrbuch“ veröffentlicht, auf die allerdings im Buch selbst nicht verwiesen wird. Sowohl musikalisch (Singer-Songwriter, Folk, Indie, Softrock) als auch textlich evozieren die Songs dieser Playlist eine Atmosphäre, die sich mit den Stichworten ‚Winter‘, ‚Schnee‘, ‚Einsamkeit‘ und ‚Liebeskummer‘ umreißen lässt.

Das zeigen schon die Titel, besonders demonstrativ: „Love is Hard Enough Without the Winter“ von Luke Sital-Singh. Den Protagonisten, der wie der Autor den Namen ‚Jan Wilm‘ trägt, beschäftigt tatsächlich eine verlorene Liebe, die eigene Einsamkeit und Schnee – dieser allerdings nur vermittelt, denn über einen Schnee-Forscher stellt der perspektivlose Geisteswissenschaftler Recherchearbeiten an, und zwar ironischerweise ausgerechnet in Los Angeles.

Die musikalischen Referenzen passen also trotz dieser Diskrepanzen thematisch durchaus zur Romanhandlung und zur Stimmung des Protagonisten, auch wenn dieser innerhalb der Diegese keine genau bezeichneten Songs hört. Die Lieder werden als Kapiteltitel in den Text integriert und es bleibt unklar, ob es wirklich der Track „Alone/With You“ der Band Daughter ist, den der Protagonist hört, als er zu Beginn des gleichnamigen Kapitels und „an einem frühvergoldeten Abend mit Musik in den Ohren den Santa Monica Boulevard hinuntergeh[t]“ (Wilm 2019: 47). Dafür stellt sich die Hauptfigur angesichts dieser „Musik in den Ohren“ die gleiche Frage wie ich bei der Lektüre des Romans und beim Schreiben dieses Textes: „Ist dieser traurige Soundtrack, den ich hier höre, eigentlich nur die Begleitmusik, die meine Stimmung ergänzt, oder ist er das Taktmaß, das mir diese Stimmung selbst in Herz und Gehirn schlägt?“ (ebd.)

Mit der Funktion der Musik beschäftigt sich nicht nur die Figur Jan Wilm, sondern auch der Autor Jan Wilm. In einem Interview wurde er nach der Playlist als „Musik zum Buch“, als „mediale Erweiterung“ gefragt. Wilm führt gleich mehrere mögliche Funktionen an: Erstens möge es sich bei der Playlist um einen „Stimmungs-Soundtrack beim Lesen“ handeln, wie es schon in der eingangs zitierten Frage vermutet wurde; zweitens könnten die Songs, die im Roman als Kapiteltitel auftauchen, als stummfilmartige „Zwischentitel“ dienen, „die unvermittelt die erzählerischen und essayistischen Teile des Romans partitionieren“; und drittens sei die Spotify-Liste „ein greifbares Beispiel“ davon, „wie eine literarische Fiktion in die Wirklichkeit verlängert wird“ (Wilm/Frank 2020: 14).

Diese drei Ideen Wilms korrelieren mit den Überlegungen, die in der von rileyross initiierten Forumsdiskussion auf Vorablesen geäußert werden. Die User:innen jedenfalls teilen dort verschiedene Beobachtungen und Meinungen dazu, was es mit den Playlists auf sich hat. Dominiert wird der Thread von der Annahme, dass die entsprechende Musik während der Lektüre gehört werden solle, um in die „passende Stimmung“ zu kommen – was allerdings die wenigsten Leser:innen als tatsächlichen Gebrauch der Playlists bestätigen können. Es wird außerdem die Vermutung geäußert, dass es sich bei den Songs der Playlists um Musik handelt, die den Autor:innen als Inspiration oder Begleitung des Schreibprozesses gedient hat – was einige User:innen für unsinnig halten: „Was interessiert es denn einen Leser, welche Musik der/die Autor/in gehört hat, als er/sie das Buch geschrieben hat?“ Oder sollen die Playlists vielleicht „die Figuren auf einer zusätzlichen Ebene charakterisieren?“

Antworten und Aufräumen mit Genette

Dass es sich bei den Playlists um paratextuelle Elemente handelt, ist offenkundig: Sie sind ein Teil des ‚Beiwerks‘ eines Textes, durch das – wie Gérard Genette in seiner Studie von 1987 (dt. 1989) definiert – der Text „vor die Öffentlichkeit tritt“ (Genette 1989: 10). Zu der „vielgestaltigen Menge von Praktiken und Diskursen“, aus denen sich der Paratext zusammensetzt, gehören Vorworte, Titel und Widmungen, aber auch Interviews oder Kritiken – und schließlich auch Playlists. Wenn diese Playlists sich materiell in unmittelbarer Nähe zum Text befinden, also im Buch mit abgedruckt werden, kann diese mit Genette als ‚Peritext‘ bezeichnet werden; eine solche peritexuelle Playlists findet man zum Beispiel in Laura Kneidls Liebesroman „Someone to Stay“ (2020). Wenn ein Paratext oder eine Playlist hingegen in „respektvollerer […] Entfernung“ und „ursprünglich außerhalb des Textes angesiedelt“ ist (Genette 1989: 12), wie im Falle von Wilms „Winterjahrbuch“, handelt es sich um einen ‚Epitext‘.

Neben der Unterscheidung in Peri- und Epitext entwirft Genette noch verschiedene weitere Achsen zur Differenzierung und Kategorisierung von Paratexten. Eine erste dieser Achsen ist an der Frage nach der Urheberschaft orientiert: Da peritextuelle Playlists stets als auktorialer Paratext gelten können, stellt sich diese Frage vor allem angesichts der auf Spotify veröffentlichen Kompilationen. Auf dieser Plattform agieren Autor:innen sehr unterschiedlich.

Die Autorin Stephanie Schuster beispielsweise hat die Playlists zu ihrer Trilogie „Die Wunderfrauen“ (2020–2021) mit einem privaten Account erstellt, unter dem auch Inhalte zu finden sind, die nicht mit ihren Romanen zusammenhängen und sogar teilweise eher intimen Charakter besitzen. Immer noch sehr persönlich, aber deutlich medienbewusster stellt sich der Account der Musikkritikerin, Publizistin und Autorin Paula Irmschler dar, auf dem man neben nach thematischen oder politischen Kriterien zusammengestellten Listen auch eine Playlist mit der Musik findet, die in ihrem Roman „Superbusen“ (2020) vorkommt.

Die bereits erwähnten Playlists zu „Someone to Stay“ und „Winterjahrbuch“ weisen schon in die Richtung des vom auktorialen Paratext zu unterscheidenden verlegerischen Paratext: Kneidl pflegt einen auf ihren Beruf als Autorin ausgerichteten Spotify-Account mit dem Nutzername ‚laurawrites‘, unter dem weitere Playlists zu ihren anderen Romanen zu finden sind; die Playlists zu Wilms Roman wurde von einem eigens für diesen Zweck angelegten und nach dem Roman benannten Spotify-Account angelegt. Kneidls Romane erscheinen im Lyx-Verlag, in dessen Programm einige Bücher mit inkludierten oder zugehörigen Playlists zu finden sind. Davon werden einige auch vom offiziellen Spotify-Account des Verlags präsentiert.

Die Grenzen zwischen der Playlist als auktorialem und als verlegerischem Paratext sind in vielen Fällen fließend: Mal werden die Playlists von Autor:innen zusammengestellt und vom Verlag publiziert, mal übernimmt eine Instanz sämtliche Veröffentlichungsfunktionen. Von diesen beiden Urheberschaftstypen ist jedoch ein dritter von Genette identifizierter Paratext-Typus fundamental verschieden: der allographe Paratext. Diese ‚dritte Instanz‘, die für die paratextuelle Playlist verantwortlich zeichnen mag, kann zum Beispiel ein beauftragter Musiker sein – im Falle von Leif Randts „Allegro Pastell“ (2020) hat der DJ ‚Eastenders‘ eine zum Roman kuratierte Playlist veröffentlicht.

Die interessantesten Fälle allographer Playlists sind allerdings jene, die eben nicht von professionellen Akteur:innen des Kulturbetriebs zusammengestellt werden, sondern von Leser:innen und Fans. Playlists, die beispielsweise aus einer aufmerksamen Lektüre von Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“ (2016) hervorgehen und sämtliche darin referenzierten Songs versammeln, möchte ich als Teil des ‚inoffiziellen‘ Paratexts bezeichnen. Diesen Begriff führt Genette selbst nicht ein, er liegt aber als Ergänzung der von ihm vorgenommene Differenzierung von ‚offiziellem‘ und ‚offiziösem‘ Paratext auf der Hand.

Die Frage nach der Urheberschaft der Playlist als Paratext überlagert sich nicht nur mit der Skala vom  offiziellen über den offiziösen hin zum inoffiziellen Paratext, sondern auch mit einer zeitlichen Achse. Genette differenziert den frühen, den originalen und den nachträglichen Paratext. Bei den meisten, insbesondere auktorialen und offiziellen, Playlists handelt es sich um originale Paratexte. Die allographen Fan-Playlists hingegen wären als nachträgliche Epitexte einzuordnen. Auch frühe Playlist-Paratexte gibt es, nämlich jene, die zur Inspiration dienen und beim Schreiben gehört werden. Diese werden jedoch meist nicht veröffentlicht – oder nur mit großen Bedenken seitens der Autor:innen, wie beispielsweise ein Gespräch zwischen Till Raether und Alena Schröder in ihrem Podcast „Sexy und bodenständig“ offenlegt.

Dort spricht Raether mit einer gewissen Ablehnung über „Spotify-Listen mit so Songs“, die Autor:innen (womöglich auf Anraten ihrer Verleger:innen) ihren Romanen anhängen können, um „ein bisschen die Tür zur Werkstatt“ zu öffnen (Raether/Schröder 2019). Diese Werkstatt ist eigentlich, um eine weitere Differenzierung Genettes zu bemühen,  ein privater, vielleicht sogar ein intimer Raum, wie auch die Playlist ein eher privates oder gar intimes Format darstellt.  Es handelt sich um ein Format, das, wie Genette über den ‚intimen‘ Paratext schreibt, „an die eigene Adresse gerichtet“ ist (Genette 1989: 16).

Mit Musik schreiben, von Musik erzählen

Eine weitere wichtige Differenzierung der musikalischen Referenzen wäre entlang ihrer narrativen Verankerung zu treffen: Auf welcher Erzählebene spielt die Musik? Diese Frage ist mit dem Begriff des ‚Soundtracks‘ verknüpft, mit dem die Playlists schon von verschiedener Seite in Verbindung gebracht wurden. Die Playlists wurden dabei nicht nur als Soundtrack des Lesens und/oder des Schreibens gedeutet, sondern auch als Soundtrack „für das Buch“ betrachtet. Diese Soundtrack-Funktion lässt sich entlang der grundlegenden Unterscheidung von Filmmusik in zwei Kategorien differenzieren: Während intradiegetische Musik von den Figuren selbst gehört wird, ist extradiegetische Musik nur für die Rezipient:innen zugänglich (vgl. z.B. Buhler 2010: 65–91).

Auf den Film bezogen leistet die Musik in beiden Fällen einen relevanten Beitrag zur Stimmung eines Films: Intradiegetische Musik vermag die Atmosphäre eines Raumes zu prägen oder die Gefühle einer Figur zum Ausdruck bringen; extradiegetische Musik wird zur Steuerung von Affekten und Emotionen der Zuschauer:innen eingesetzt. Im Falle einer Playlist zum Buch wird die Musik allerdings nicht unbedingt parallel zur Lektüre rezipiert und entsprechend tritt die Musik nicht unbedingt in ein Wechselverhältnis mit der Handlung. Einen mit einem Filmsoundtrack vergleichbaren affektsteuernden Effekt kann diese Musik nur dann erzielen, wenn sie den Leser:innen wohlbekannt ist, also die Referenz auf ein Musikstück genügt, um damit eine spezifische Stimmung oder Atmosphäre zu evozieren.

Insgesamt kann im literarischen Text die Musik nicht inkludiert, sondern nur auf sie referiert werden – von der kurzen Erwähnung eines Songtitels, über das Zitat von Lyrics bis zur ausschweifenden Beschreibung eines mit einem Musikstück verbundenen Lebensgefühl, vom Aufrufen kulturell-musikalischer Codes (vgl. Tieber 2020: 100) bis zur Wirklichkeitsreferenz (vgl. Niefanger 2014). Derlei Wirklichkeitsreferenzen und Realitätseffekte schlagen eine Brücke zwischen der Diegese und der Realität, zwischen der erzählten Welt und der Erzählwelt.

Dafür auf musikalische Artefakte zu rekurrieren, ist nicht erst seit der Popliteratur, in der entsprechende Referenz-Verfahren besonders gehäuft eingesetzt werden, üblich, wie ich eingangs in dem kurzen historischen Abriss angedeutet habe. Einen solchen musikalischen Brückenschlag zwischen Realität und Fiktion können intradiegetische Playlists – wie zu „Superbusen“ besser leisten als extradiegetische – wie zum „Winterjahrbuch“. Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit, wie eine Playlist im Verhältnis zur Diegese stehen kann: eine metaleptische.

Auch der Begriff der Metalepse geht auf Genette zurück, der damit das Überschreiten diegetischer Grenzen und narrativer Ebenen bezeichnet (vgl. Genette 2010: 152). Einen metaleptischen Effekt können Playlists zeitigen, die auf Spotify angelegt wurden, aber einer fiktiven Figur zugeschrieben sind. Auch diese metaleptischen Playlists können allograph sein, wie im Falle des ‚Fanmix‘. Dieses Phänomen an der Schnittstelle von Fan Fiction und ‚fan-created paratexts‘ (Gray 2010: 144) oder ‚fan adopted paratext‘ (Jones 2012) hätte eine eigenständige Untersuchung verdient.

Eine Reihe von Beispielen für diese Fanmix-Playlists, die von begeisterten Rezipient:innen für einzelne Charaktere oder für eine fiktionale Welt im Allgemeinen erstellt werden, nennen bereits Mark Hooper (2014) und Lian Parsons-Thomason (2019), allerdings vor allem in Bezug auf Filme oder Serien. Eine besonders beliebte literarische Figur für Fanmixes ist Draco Malfoy aus dem (ohnehin ein riesiges Feld an Fan Fiction eröffnenden) Harry-Potter-Universum: So hat beispielsweise die Playlist „Draco Malfoy “ der Userin Bianca Berger über 5.000 Likes.

Fanmixes sind allographe, nachträgliche und inoffizielle metaleptische Playlists. Es gibt aber auch auktoriale, originale und offizielle metaleptische Playlists, beispielsweise von Benedict Wells zu seinem Roman „Hard Land“ (2021). Der Autor hat zu diesem in den 1980er Jahren spielenden Coming-of-Age-Roman gleich mehrere Playlists auf Spotify veröffentlicht. Eine davon trägt den Titel „Hard Land presents: BRIAN’S PARTY“. Bei der Feier zu Brian d’Amatos 18. Geburtstag tanzt der junge Protagonist Sam unter anderem zu „Take on Me“ von a-ha.

Diesen Song und viele andere, die nicht alle im Roman selbst genannt werden, hat Wells auf Spotify in der Party-Playlist versammelt. Natürlich ist das nicht ‚wirklich‘ die Playlist, die 1985 in Grady, Missouri, bei Brians Geburtstagsfeier abgespielt wurde, aber Titel und Beschreibung suggerieren doch eine Art metaleptischen Kurzschluss, wenn in der Spotify-Bibliothek der Leser:innen die Playlist einer fiktiven Party etwa neben der eigenen „Silvester 2022“-Musik auftaucht.

Nicht nur bei Brians Party, sondern auch darüber hinaus hören und referenzieren die Figuren in „Hard Land“ Musik. Mehrfach werden sogar im Roman Playlists erstellt, Mixtapes aufgenommen, verschickt oder vererbt. Dass das Buch außerdem seinen fast filmischen Charakter, über den Wells selbst in Interviews auch gesprochen hat, auch mit einem Abspann inklusive Musikreferenzen ausstellt, legt es mehr als nahe, einen „Soundtrack zum Buch“ zusammenzustellen.

Entsprechend werden auch als ‚Doppelalbum‘ zwei Soundtrack-Playlists im Buch bereits genannt – und sind auf Spotify veröffentlicht. Diese Playlists enthalten vor allem die von den Figuren erwähnten Songs, beispielsweise das „unvermeidliche Don’t You der Simple Minds“ (Wells 2021: 36). Allerdings sind nicht alle im Roman erwähnten Songs in den beiden Playlists enthalten, dafür aber überraschenderweise auch Songs, die erst deutlich nach 1985 veröffentlicht wurden, zum Beispiel „Falling“ der kalifornischen Band Haim aus dem Jahr 2013.

Gute Vibes und große Gefühle

In „Hard Land“ werden jedoch mittels der Musik nicht nur Figuren charakterisiert, sondern auch eine bestimmte Atmosphäre, ein spezifisches Lebensgefühl, eine besondere Stimmung. Auch auf Spotify werden Playlists häufig – sei es durch User:innen, sei es durch die Algorithmen – nach Stimmung, Atmosphäre oder vibe kompiliert. Als ästhetisches Urteil oder als Beschreibungskategorie von Artefakten ist der Begriff des ‚vibes‘ derzeit (auch umgangssprachlich) sehr präsent (vgl. z.B.  Therieau 2022). Für die Frage, ob auch literarische Texte einen vibe haben, und ob – im Zuge eines intensiven Rezeptionsprozesses – mit ihnen gevibet wird, könnten gerade Romane mit zugehöriger Playlists besonders aufschlussreich sein.

Die Funktion der Musik im Sinne eines extradiegetischen vibe- und affektsteuernden Soundtracks, dessen Songs gar nicht unbedingt Teil der Diegese sind, illustriert die ebenfalls von Wells angelegte Playlist „Euphancholie“ sehr treffend. Diesen Neologismus trug die Playlist schon lange vor der Arbeit an „Hard Land“ im Namen, wie Wells auf seinem Blog erklärt. Im Roman legt er dann der Figur Kirstie eine Definition in den Mund:

„‚Es sollte echt ein Wort für dieses Gefühl geben‘, sagte sie. ‚So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird.‘“ (Wells 2021: 99)

Für dieses Gefühl hat Wells also zuerst passende Musik in einer Playlist gesammelt und dann  einen Roman geschrieben, in dessen Zentrum es steht. Damit die Leser:innen den umgekehrten Prozess durchlaufen können, stellt er eine Playlist als Auswahl aus seiner „Ur-Playlist“, die er jahrelang gehört hat, zur Verfügung. Diese enge Verknüpfung eines spezifischen Lebensgefühls mit Musik wirft natürlich auch die Frage auf, ob mit den Playlists für die Erzeugung einer Stimmung anstelle auf literarisch-erzählerische Verfahren zu vertrauen auf musikalische Referenzen ausgewichen wird, ob die Playlist nicht nur ein Paratext, sondern auch ein  Supplement für etwas ist, das der Autor sich nicht in der Lage sah zu erzählen.

Dass in „Hard Land“ die ‚euphancholische‘ Stimmung als spezifisches Gefühl des Erwachsenwerdens entworfen wird, lenkt den Blick auf eine weitere strukturelle Frage zum Phänomen der Playlists: Bei Wells’ Bestseller handelt es sich um einen Coming-of-Age-Roman und um eines der wenigen Beispiele, die in der eingangs zitierten Forumsdiskussion explizit erwähnt werden. Auf die Frage, wo denn die besagten Playlists zu finden wären, bietet der Thread aber nicht nur Wells’ Roman als konkretes Beispiel, sondern auch eine gattungstheoretische Verortung des Phänomens an: „Oft findet man die Listen in Young & New Adult Büchern und auch im Bereich der Jugendbücher.“ Allerdings gibt es natürlich auch Romane ganz anderer Genres, zu denen Playlists vorliegen. Davon zeugen Dörte Hansens „Mittagsstunde“ (2018) und viele der in diesem Beitrag genannten Texte.

Lesen im Spotify-Zeitalter

So lässt sich also – mit den Mitteln der Gattungstheorie, Narratologie und Paratextualität – etwas Ordnung in das Phänomen der Playlists im und zum Buch bringen. Offen blieb dabei und bis hierhin die Frage nach der Einordnung des Phänomens in den breiteren medialen Kontext. Dass die Streaming-Plattform Spotify mit ihrer hohen Zahl an Nutzer:innen und bereitgestellten Musiktracks für die Konjunktur der Playlists von gravierender Relevanz sein dürfte, habe ich schon eingangs angedeutet.

In der Forschungsliteratur steht Spotify als soziales Netzwerk im Schatten von Plattformen wie YouTube, Twitter und vor allem Instagram. Diese dominieren auch Untersuchungen der Rolle von Literatur in Online-Kultur und sozialen Medien (vgl. z.B. Tolstopyat 2018, Birke 2021). Professionelle Accounts seitens der Autor:innen und Verlage zeigen, dass auch Playlists als zusätzliche Werbestrategie und Mittel der Leser:innen-Bindung genutzt wird. Die Beispiele von Fanmixes und allographen Leser:innen-Playlists aber beweisen, dass das Zusammenstellen von Musik zum Buch zu einer interaktiven, gemeinschaftlichen Rezeptionshandlung werden kann.

Nicht nur für erweiterte Formen der Rezeption im Anschluss an die eigentliche Lektüre, sondern auch für den Leseprozess selbst sind Playlists interessant: In den Antworten auf die im Vorablesen-Forum gestellte Frage herrscht eine Tendenz zum ‚stillen Lesen‘ vor. „Es muss still sein, weil ich mich sonst nicht auf mein Buch konzentrieren kann“, schreibt ein:e User:in. Doch das Lesen ist einem Wandel unterworfen, wie in den letzten Jahren immer wieder festgestellt wurde: Texte, Tagungen und Forschungsprojekte, deren Titel die Frage nach der „Zukunft des Lesens“ stellen, erscheinen im Jahresrhythmus (z.B. Literaturhaus München 2017, Bickenbach 2018, Stavanger Erklärung 2019, Lauer 2020, Schweizer Bundesamt für Kultur 2021 ). Viele Texte, gerade im Bereich der Young und New Adult-Literatur, werden mittlerweile digital rezipiert, womöglich sogar auf Geräten, die es ermöglichen, gleichzeitig Musik zu hören, den Kopfhörer ‚am Buch anzuschließen‘.

Bezogen auf das 2008 gegründete Unternehmen Booktrack, das mit der Produktion von Soundtracks zu Büchern begonnen hat und inzwischen stärker auf Audiobooks spezialisiert ist, schreibt Betsy Morais: „[I]t seems that at some point, these books will have changed into something else entirely.“ (Morais 2011) Dazu zitiert sie David Gutowski, den Betreiber des Blogs Large Hearted Boy, in dessen Sektion Book Notes Autor:innen die Gelegenheit haben, Playlists zu ihren Texten zusammenzustellen. „Once you add music to a book and as one piece of art, I don’t know if you can call that a book anymore. It’s more of a multimedia experience“, so Gutowski (Morais 2011).

Als multimediale oder multimodale Artefakte stellen die Bücher mit Playlist eine Steigerung der Intermedialität und Intertextualität dar, die durch das Nennen und Zitieren von Songs und Songtexten gegeben ist. Mit seiner Formulierung fokussiert Gutowski aber nicht nur die Multimedialität, sondern auch den ‚Erfahrungs-Charakter‘ des Buches: Lesen als (immersive) „experience“. Auch Morais reflektiert über das Lesen als stille oder musikalisch begleitete Erfahrung:

„What plays on inside a reader’s head might be the ultimate value of reading. […]  In silence, the mind can parse through a phrase without distraction, and attention can be paid to meaning more than pace. […] Then again, a soundtrack that performs the words on the page might shut out the incessant whirring of the world to provide, for those who want it, a way of plugging yourself into a book.“ (Morais 2011)

Playlists zu Büchern können für eine Vielzahl literatur- und kulturwissenschaftlicher Fragestellung relevant werden: Fragen aus Perspektive der Leseforschung, der Literatursoziologie, der Narratologie oder der Medientheorie, Fragen nach Intermedialität und Multimodalität, oder auch nach transmedia storytelling und convergence culture (Jenkins 2006).

 

Zum Weiterlesen und -hören – ein paar Romane mit Playlist:

Hansen, Dörte (2018): Mittagsstunde. München.

Irmschler, Paula (2020): Superbusen. Berlin.

Kneidl, Laura (2020): Someone to Stay. Köln.

Le Guin, Ursula K (1985): Always coming home. New York.

Pynchon, Thomas (2009): Inherent Vice. New York.

Randt, Leif (2020): Allegro Pastell. Köln.

Schuster, Stephanie (2020): Die Wunderfrauen – Alles, was das Herz begehrt. Frankfurt am Main.

Stuckrad-Barre, Benjamin (2016): Panikherz. Köln.

Wells, Benedict (2021): Hard Land. Zürich.

Wilm, Jan (2019): Winterjahrbuch. Frankfurt am Main.

 

Literatur

Birke, Dorothee (2021): Social Reading? On the Rise of a ‚Bookish‘ Reading Culture Online. In: Poetics Today, 42/2, S. 149–172.

Bickenbach, Matthias (2018): Buch oder Bildschirm? Versuch über die Zukunft des Lesens. Stuttgart.

Buhler, James/Neumeyer, David/Deemer, Rob (2010): Hearing the movies: music and sound in film history. New York.

Dayal, Geeta (2018): ‚Deeply weird and enjoyable‘. Ursula K Le Guin’s electronica album. In: The Guardian, 27. März 2018.  https://www.theguardian.com/books/booksblog/2018/mar/27/ursula-k-le-guins-electronica-album-music-and-poetry-of-the-kesh [30.08.2022].

Genette, Gérard (1989): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main.

Genette, Gérard (2010): Die Erzählung. Paderborn.

Gray, Jonathan (2010): Show Sold Separately. Promos, Spoilers, and Other Media Paratexts. New York.

Haenggi, Christian (2018): The Pynchon Playlist: A Catalog and Its Analysis. In: Orbit: A Journal of American Literature, 6 (1).

Hooper, Mark (2014): The best mixtapes in fiction. In: The Guardian, 5. September 2014. https://www.theguardian.com/books/2014/sep/05/the-best-mixtapes-in-fiction [30.08.2022].

Jenkins, Henry (2006): Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York.

Jones, Bethan (2012): The Fanmix as Fan-adopted Paratext. Vortrag bei der Tagung ‚Contemporary Screen Narratives‘ an der University of Nottingham. https://www.academia.edu/1725129/The_Fanmix_as_Fan_adopted_Paratext [30.08.2022].

Literaturhaus München (2017): Die Zukunft des Lesens. Jahrestagung der internationalen buchwissenschaftlichen Gesellschaft. https://www.literaturhaus-muenchen.de/reihen/tagung-die-zukunft-des-lesens/ [30.08.2022].

Lauer, Gerhard (2020): Lesen im digitalen Zeitalter. Darmstadt.

Lubkoll, Christine (2017): Musik in Literatur: Telling. In: Nicola Gess/Alexander Honold/Sina Dell’ Anno (Hg.): Handbuch Literatur & Musik. Berlin /Boston. S. 78–94.

Morais, Betsy (2011): Books With Soundtracks: The Future of Reading? In: The Atlantic, 31. August 2011. https://www.theatlantic.com/entertainment/archive/2011/08/books-with-soundtracks-the-future-of-reading/244344/ [30.08.2022].

Niefanger, Dirk (2014): Realitätsreferenzen im Gegenwartsroman. Überlegungen zu ihrer Systematisierung. In: Birgitta Krumrey/Ingo Vogler/Katharina Derlin (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg, S. 63–89.

Parsons-Thomason, Lian (2019): Inside the world of Spotify ‚fan fiction‘ playlists. In: Experience Magazine, 11. Dezember 2019. https://expmag.com/2019/12/inside-the-world-of-spotify-fan-fiction-playlists/ [30.08.2022].

Pavlić, Ed (2016): Jimmy’s Songs: Listening over James Baldwin’s Shoulder. In: James Baldwin Review, 2/1, S. 163–167.

Raether, Till/Schröder, Alena (2019): Von der Widmung bis zur Danksagung. Folge 15 des Podcast ‚sexy und bodenständig‘. https://podcast249787.podigee.io/15-neue-episode [30.08.2022].

Schweizer Bundesamt für Kultur (2021): Nationale Konferenz über die Zukunft des Lesens. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-85792.html [30.08.2022].

Smith, Kevin Burton (2020): Thomas Pynchon’s Inherent Vice Playlist. In: The Thrilling Detective Web Site. https://thrillingdetective.com/2020/07/20/thomas-pynchons-inherent-vice-playlist/ [30.08.2022].

Stavanger Erklärung (2019): Zur Zukunft des Lesens. https://www.faz.net/-hp7-9iyah [30.08.2022].

Therieau, Mitch (2022): „Vibe, Mood, Energy“. In: The Drift 6. https://www.thedriftmag.com/vibe-mood-energy/ [30.08.2022].

Tieber, Claus (2020): Musik im Film, Musik für den Film: Analysefelder und Methoden. In: Malte Hagener/Volker Pantenburg (Hg.): Handbuch Filmanalyse. Wiesbaden, S. 97–110.

Tolstopyat, Natalia (2018): BookTube, Book Clubs and the Brave New World of Publishing. In: Satura, 1, S. 91–96.

Vorablesen (2022): Playlists in Büchern. https://forum.vorablesen.de/t/playlists-in-buechern/114316 [30.08.2022].

Wilm, Jan/Frank, Dirk (2020): Fiktion darf (un)wahr sein. In: Unireport (Universität Frankfurt) 1, S. 14.

 

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