Fanfiction und das Multiversum der Franchise-Ära
von Dana Steglich
17.10.2022

Die großen Franchise-Entertainments gleichen in ihrer Struktur immer mehr Fanfiction. Und das ist ein Problem

Dass wir in der Ära des Franchise-Entertainments leben, diagnostizierte Medienwissenschaftler Henry Jenkins schon vor fast 20 Jahren (Jenkins 2006: 104). Seitdem hat sich die Anzahl von Sequels, Prequels, Spin-offs und Remakes, die in unseren Kinos jährlich Premiere feiern, vervielfacht. Und auch wenn die Auswirkungen der Pandemie auf die Filmindustrie für kurze Zeit hoffnungsvolle Stimmen laut werden ließen, die behaupteten, dass die Rückkehr der sogenannten Mid-Budget Movies bevorsteht, haben die Neuerscheinungen dieses Jahres den Franchise-Trend letztlich nur weiter bestätigt. Die finanzielle Stabilität, die garantierte Blockbuster-Franchises ihren Produzent:innen bieten, (Fritz 2018: 17) lässt sich einfach nicht durch eine längst wenig originelle Originalitätskritik entkräften.

Franchises sind aktuell weiter vorangeschritten als je zuvor: Auf der diesjährigen Comic Con in San Diego, der weltgrößten Messe ihrer Art, stellte der Hauptproduzent des Marvel Cinematic Universe (MCU) die bevorstehende fünfte und sechste Phase von Filmen und Serien vor, die in den nächsten drei Jahren produziert werden sollen. Mit ihnen erreicht die Liste von Filmen im MCU ihren 39. Eintrag; zählt man die Streaming-Serien auf Netflix und Disney+ mit, sind in den letzten 15 Jahren bereits über 60 von Marvel lizenzierte Adaptionen zustande gekommen. Die Produktion von Fortsetzungen führt das MCU damit eindeutig an. Marvel ist jedoch bei weitem nicht der einzige Gigant der Franchise-Ära: Neben dem MCU-Panel fanden in der legendären Hall H des Messegeländes im Juli unter anderem auch Programmvorstellungen von DC Films, „Star Trek“, sowie den Serien-Prequels zu „Game of Thrones“ und „Der Herr der Ringe“ statt.

Die 6.500 Fans, die tagelang für einen Platz in Hall H anstanden, feierten jedes neue Logo auf dem Zeitstrahl des MCU, applaudierten für Produzent:innen und Schauspieler:innen, die Antworten in Elbisch und High Valyrian gaben, und jubelten, weil Charaktere der „New Generation“ 30 Jahre später wieder zusammenkamen. Bietet die Franchise-Ära also nicht genau das, was jeder Fan will, nämlich einfach mehr?

„There has to be a breaking point beyond which franchises cannot be stretched“, spekulierte Henry Jenkins 2006, „[beyond which] subplots can’t be added, secondary characters can’t be identified, and references can’t be fully realized. We just don’t know where it [this breaking point] is yet.“ (Jenkins 2006: 127) Beinahe zwanzig Jahre später, mit dem sich weit in die Zukunft erstreckenden Zeitstrahl des MCU vor Augen, erscheint ein „breaking point“, ein Ende der Franchise-Ära, nahezu undenkbar.

Konkurrenzverhältnis zur Fanfiction

Doch parallel zu dem Jubel, der aus Hall H in die Welt hinaus hallt, sind es gerade die Fans – diejenigen also, die mit ihrer Begeisterung Comic Cons auf der ganzen Welt ins Leben gerufen und für Studiogiganten lohnenswert gemacht haben –, die zunehmend kritisch mit den neu produzierten Fortsetzungen umgehen. Denn zu dem ‚Mehr‘, das die großen Franchises in den letzten Jahren produzieren, haben Fans schon seit langem ein kompliziertes Verhältnis. Sie haben es längst selbst – und besser! – erschaffen. Das Perpetuieren der Fortsetzung, die ewige Weiterbenutzung von bereits etablierten Figuren, Plots und Welten hat Franchise-Produktionen daher nicht nur das viel diskutierte Originalitätsproblem eingebracht, sondern zudem auch ein Transformationsproblem – und damit ein Konkurrenzverhältnis zur Fanfiction.

Ebenso wie der seit ihren Anfängen vor rund 50 Jahren stark veränderten Comic Con in San Diego ergeht es vielen der Orte und Medien, in denen Fans zusammenkommen. Aus den Zines, die auf den Fankonventionen der 1960er Jahre noch in Person und unter der Hand verteilt wurden, hat sich durch Internetforen, tumblr-Kultur und Vidding bis heute ein weites Feld von Fanfiction-Gemeinschaften entwickelt. Durch tags können potentielle Leser:innen in Sekundenschnelle nicht nur Fandom und Hauptfiguren eines Textes auswählen, sondern auch Genre, Setting und Inhalte filtern. Im Kern ist Fanfiction jedoch noch immer das, was sie stets war: transformative Literatur.

Fanfiction sind Geschichten, die Figuren, Schauplätze oder Prämissen einer etablierten Quelle übernehmen, um mit diesen Elementen eigene Erweiterungen oder Variationen zu erzählen. Autor:innen dieser Geschichten sind, wie der Name bereits sagt, Fans und ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Original daher in erster Linie ein Ausdruck von Wertschätzung. Fanfiction geht es nicht um Profit, sie versteht sich vielmehr als eine Möglichkeit, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die Liebe zu einer fiktiven Figur oder Welt auszudrücken und alle „was wäre wenn“-Geschichten zu erzählen, die die Originalquellen in ihrem Publikum inspirieren. Wer etwa Doctor Strange und Wanda Maximoff schon immer interagieren sehen wollte, musste nicht auf die Premiere von „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ (2022) warten, sondern konnte jederzeit in Fanfiction-Archiven eine der Tausenden von Geschichten lesen, welche die beiden Figuren in einem Crossover zusammenbringen.

Doch während das Crossover-Potential von Fanfiction für zufriedene Leser:innen sorgt, hinterlässt es als Elemente der großen Franchise-Filme und ‑Serien bei Fans zunehmend einen schlechten Nachgeschmack. Als Folge ihrer langen Laufzeit nehmen die Fortsetzungen der großen Franchises immer mehr der Charakteristika von Fanfiction an, ohne verstanden zu haben, warum diese Elemente im Bereich der Fanfiction für Leser:innen funktionieren. Nähert man sich dem Transformationsproblem der Franchise-Ära also durch einen Vergleich mit drei Grundpfeilern von Fanfiction – OCs, Headcanons und AUs –, so zeigt sich, warum Franchises in diesem Vergleich den Kürzeren ziehen und was sie von der Fanfiction lernen sollten.

Die eigene Sprache der Fanfiction

Wie jede Gemeinschaft hat auch die Fanfiction-Community ihre eigene Sprache. Einer der ersten Begriffe, der einem beim Eintauchen in diese Welt begegnen wird, ist wohl der des OCs. OC steht für „Original Character“ und bezeichnet eine Figur, die von der Autor:in der Fanfiction erschaffen wurde und die damit in ihren Text als neues Element eingeht. Ein OC ist zum Beispiel der Neuzugang in Hogwarts, in den sich sofort das gesamte Gryffindor-Haus verliebt, oder die Schrottsammlerin, die Luke Skywalkers Lichtschwert findet und sich aufmacht, es ihm zurückzugeben.

Sie ist eine neue Figur, die in bestehende Figurenkonstellationen integriert wird, ein neues Element vor einem Hintergrund von existierenden Plots und Settings. Gerade an den Schreibpraktiken um OCs wird daher deutlich, dass in der Fanfiction nicht das Neue, das Eigene im Zentrum steht, sondern vielmehr die Nach- und Weitererzählung von bereits Bekanntem. Die neue Gryffindor-Schönheit oder die Schrottsammlerin muss – bzw. soll! – gar keine eigene Geschichte mitbringen, denn für die Leser:innen von Fanfiction steht die Interaktion mit den Ereignissen aus „Star Wars“ oder den Figuren aus „Harry Potter“ im Vordergrund.

Ebenso wie in der Fanfiction sind Charaktere in der Franchise-Ära die neuen Stars (Fleury/ Hartzheim/ Mamber 2019: 10). Nicht Robert Downey Jr., sondern Iron Man ist es, der Zuschauer:innen ins Kino lockt. Eine vergleichbare Praxis zur Fanfiction, die Unwilligkeit oder Unfähigkeit von den Ursprungsfiguren einer Franchise abzuweichen – man denke zum Beispiel an die zentrale Stellung der Skywalker-Familie in „Star Wars“ –, wird in Franchise-Fortsetzungen zunehmend mit der Einführung neuer Figuren kombiniert. Diese Neuankömmlinge agieren vergleichbar zu OCs in der Welt von und im Zusammenspiel mit bereits etablierten Charakteren und erlangen maximal – sofern sie beim Publikum gut ankommen – die Ehre, im nächsten Film selbst bereits zum Ensemble zu gehören. Ihr eigentlicher Wert liegt dabei weniger darin, eine eigene Geschichte in das Franchise-Universum mitzubringen, als darin, Interaktionen mit Publikumsfavoriten zu haben und Gelegenheiten für Cameos zu bieten.

Über Geschichten von OCs wie Rey in „Star Wars“ können alte Favoriten wie Han Solo oder Luke Skywalker auf unsere Bildschirme zurückgebracht werden. OCs wie Newt Scamander in der „Fantastic Beasts“-Reihe treten vor den Dumbledores ihrer Franchise zurück und werden zu Nebenfiguren in ihrer eigenen Geschichte. Und OCs wie America Chavez in „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ sind in Wahrheit nur MacGuffins, die etablierte Held:innen in Konflikt miteinander bringen. So wächst das Figurennetzwerk von Film zu Film, Serie zu Serie und potentiell in die Unendlichkeit weiter. Neue Held:innen bringen immer neue Sidekicks oder Bösewichte mit, deren Vorgeschichten ebenfalls in Fortsetzungen ausgebreitet werden können (siehe etwa Marvels „Echo“ und „Agatha: Coven of Chaos“ oder die Flut neuer figurenzentrierter „Star Wars“ Prequel-Serien) und wenn alle Franchises erst wie das MCU ihre Multiversum-Phase erreicht haben, bekommen sie Zugriff auf ihre eigene bodenlose Fundgrube von „was wäre wenn“-Konstellationen, in denen jede einzelne Figur in unendlichen Variationen existiert.

Das Multiversum des MCU ist zugleich auch die Manifestation eines weiteren zentralen Charakteristikums von Fanfiction: der absoluten Gleichzeitigkeit. Aufgrund der transformativen Qualität von Fanfiction liegt der Gattung grundsätzlich eine Unterscheidung von Original und Kopie, von Ursprungsquelle und Hinzudichtung, kurzum von „canon“ und „non-canon“ zugrunde.

Canon und Fanon

„Canon“ ist in der Fanfiction alles, was in der ursprünglichen Quelle (Buch, Film, Serie etc.) etabliert wurde, also etwa die Figur Doctor Strange, das Konzept des Todessterns, aber auch komplexere Zusammenhänge wie die Implikation, dass Harry Potters Mentorfigur Dumbledore in jungen Jahren für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Grenzfälle sind damit „canon“-Erweiterungen, die zwar von den Autor:innen der ursprünglichen Quelle vorgenommen werden, im eigentlichen Material aber keinen Eingang, keine Bestätigung finden. Solche sekundären Informationen, wie J. K. Rowlings berüchtigte Q&A-Enthüllung über die Homosexualität Dumbledores, werden auch als „word of god“ bezeichnet und damit zum Glaubensfall für Fans. Ob das ‚Wort Gottes‘ als „canon“ angenommen wird oder nicht, spaltet häufig Fangruppen. Ist Dumbledore schwul, auch wenn keines der „Harry Potter“-Bücher darauf verweist?  (Mit dem leicht zensierbaren Liebesgeständnis im dritten „Fantastic Beasts“-Film ließe sich nun auch fragen: Ist Dumbledore schwul, auch wenn China nichts davon weiß?)

Dem „canon“ steht der „headcanon“ oder auch „personal canon“ einzelner Fans zur Seite, die in ihren Geschichten Erweiterungen (aber nicht direkte Widersprüche) zum ursprünglichen Material vornehmen, also etwa die Beziehung von Dumbledore und seinem Liebhaber Grindelwald ausbauen. Wenn diese Erweiterungen auf breiten Zuspruch treffen oder von zahlreichen Fans parallel als „headcanon“ verbreitet werden, spricht man auch von „fanon“, d.h. Elementen, die von einer großen Menge der Fans als „fanmade canon“ angesehen werden.

„Fanon“-Elemente werden nachträglich gelegentlich ‚kanonisiert‘, also von Autor:innen oder Produzent:innen in Fortsetzungen der Ursprungsquelle integriert: „Star Trek“ ist berühmt dafür, Namen für bisher unbenannte Figuren, etwa Captain Kirks Eltern oder Vornamen der Crew, aus dem „fanon“ zu übernehmen, die „Harry Potter“-Verfilmungen greifen beliebte „ships“ (=„relationships“) auf, und die Tatsache, dass Boba Fett seinen Sturz in den Schlund eines Monsters überlebte, hat er auch allein den „Star Wars“-Fans zu verdanken. Wenn „canon“ hingegen nicht auf „fanon“ hört, kann dies zu Unmut unter den Fans führen . Kritikpunkte an der Ursprungsquelle – von Queerbaiting-Kritik hin zu „ship wars“ –, die im Fandom aufgebracht und in Fanfiction der „fix-it“-Kategorie ausgebessert werden, führen gelegentlich sogar zu einem Fandom-internen „Reboot“ der Franchise.

Was Teil des „canons“ wird und was nicht, ist jedoch im Bereich der Fanfiction kein generelles Problem. Da Fanfiction Geschichten sind, die parallel zur Ursprungsquelle existieren, treten „canon“ und „fanon“ nicht grundsätzlich in Konkurrenz miteinander. Und da die kollektiv gesammelten Geschichten unter sich auch keinen Anspruch auf einen Gesamtzusammenhang stellen, können in der Fanfiction komplett gegensätzliche „headcanons“ parallel zueinander existieren.

In der Franchise-Ära stehen sich nun jedoch nicht „canon“ und „headcanon“ gegenüber, sondern „canon“ und „canon“: Die „Harry Potter“-Bücher sind „canon“, ihre Filmadaptionen sind „canon“ und die an den Erfolg der Filme anschließende „Fantastic Beasts“-Reihe ist ebenfalls „canon“. Ähnliches gilt für die „Star Wars“-Franchise, die berüchtigterweise große Teile ihrer Romane, Comics und Videospiele in ein „Extended Universe“ verbannte und damit aus dem „canon“ um die zentralen Filme herausstrich. Mit der Schöpfung des MCU, also eines Cinematic Universe, wurden von Marvel ebenfalls alle Comics aus dem Film-„canon“ ausgeschlossen. Da die MCU-Filme und ‑Serien, wie der Name schon sagt, jedoch immer noch alle im selben Universum spielen und damit Teil desselben „canons“ sind, müssen sie aktuell parallel zu der Held:innenwerdung jeder neuen Figur rechtfertigen, warum die bereits etablierten (und weit mächtigeren) Held:innen gerade keine Zeit haben, sich um die aktuelle Apokalypse zu kümmern.

Parallel zu dem stetig wachsenden „canon“ einer Franchise expandiert so auch das Potential für innere Widersprüche. Zeitliche Abläufe werden dabei wohl am häufigsten durcheinander geworfen: Wen stört es schon, dass Prof. McGonagall nach Buch-„canon“ zur Zeit der „Fantastic Beasts“-Ereignisse noch gar nicht geboren ist, wenn wir dafür einen beliebten Charakter in Hogwarts wiedertreffen können? Logikfehler tauchen auf: Das Wissen um und Glauben an ‚die Macht‘ verschwindet urplötzlich zwischen den „Star Wars“ Prequel-Filmen und -Serien und der ursprünglichen Trilogie aus der Welt. Und Figuren wechseln je nach ihrer Rolle im aktuellen Film ihre Moralvorstellungen: Dieselbe Wanda Maximoff, die in „WandaVision“ noch unter Tränen ihre Familie aufgab, weil ihre Magie Unschuldigen Schaden zufügte, wird in „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ über Nacht zur rein egoistisch motivierten Massenmörderin.

Im Gegensatz zur Fanfiction erzeugen die Franchise-Fortsetzungen so immer mehr sich selbst widersprechende Zeitabläufe, Magiesysteme und vor allem Versionen ihrer eigenen Held:innen, die nun parallel zueinander existieren und einen in sich unstimmigen „canon“ bilden. Wer in „The Force Awakens“ neugierig spekulierte, mit welchem beliebten „Star Wars“-Charakter Rey verwandt sein könnte, wurde in „The Last Jedi“ schwer enttäuscht. Und wer in „The Last Jedi“ jubelte, als Rey verkündet wurde, ein Niemand zu sein, wird das Lachen mit „The Rise of Skywalker“ im Halse stecken geblieben sein. Wer ein Fan von Wanda Maximoff in „WandaVision“ war, wird von ihrer Darstellung in „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ unangenehm überrascht worden sein. Und wer seit Jahren auf Fantheorien über Dumbledores dunkle Vergangenheit brütete, wird frustriert sein, ihn in „The Secrets of Dumbledore“ (2022) plötzlich als reine Seele dargestellt zu finden. Je mehr man sich als Zuschauer:in merkt, je mehr man aufpasst, je mehr man in die Entwicklung der Figuren investiert ist – kurzum: je mehr man Fan einer Franchise ist! –, desto größer ist die Chance, von ihren inneren Widersprüchen enttäuscht zu werden.

Ein einfacher Weg für Franchises, Enttäuschungen dieser Art zu vermeiden, müsste also sein, erst gar keinen gemeinsamen „canon“ zu erstellen, sondern jeden Film, jede neue Fortsetzung in ihrem eigenen Universum existieren zu lassen. Das Konzept von parallel zueinander existierenden Geschichten-Universen, die Existenz von AUs, ist ebenfalls ein tradiertes Charakteristikum von Fanfiction. AU steht dabei für „Alternate Universe“ und signalisiert im Bereich der Fanfiction zuerst einmal eine deutliche Änderung des ursprünglichen Materials, also eine Abweichung vom „canon“. AUs bezeichnen zudem die weit verbreitete Fanfiction-Praxis, „canon“-Elemente in ein neues, häufig bereits selbst durch Genretropen etabliertes Setting zu versetzen. Ein „Modern AU“ von „Game of Thrones“ versetzt so etwa die Starks und Lannisters ins 21. Jahrhundert und lässt sie nicht um sieben Königreiche, sondern um Aktienanteile der Seven Kingdoms Corp. kämpfen, ein „Coffee Shop AU“ stellt Captain America als Barista hinter die Theke und lässt Bucky Barnes als seinen Stammgast auftauchen.

Im Bereich der Fanfiction ermöglichen AUs so eine Form der Variation, die im aktuellen Film- und Literaturbetrieb am ehesten mit der Adaption von Klassikern vergleichbar ist – „Fire Island“ (2022) lässt sich so als „Modern AU“ von „Stolz und Vorurteil“ mit dem „everyoneisgay“-tag begreifen. AUs geben Autor:innen die Freiheit, Setting und Genres zu wechseln, und Leser:innen die Möglichkeit, Ton und Inhalt der Geschichten über ihre Lieblingsfiguren an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen. Im „Coffee Shop AU“ ist Captain Americas größtes Problem, dass die Milchlieferung nicht pünktlich kommt. Nazis, Aliens und Zeitreisen sind hier wohl kaum zu erwarten. Stattdessen hat unser Barista endlich einmal Zeit, sich in Ruhe über seine Gefühle für seinen Stammgast klar zu werden.

Da AUs nicht nur wie „headcanons“ parallel zur Ursprungsquelle existieren, sondern im Gegensatz zu „headcanons“ auch ganz offen ihre Unvereinbarkeit mit der Ursprungsquelle ankündigen, umgeht die Fanfiction alle denkbaren Publikumsirritationen, die ein plötzliches Abtauchen zweier Avengers in einem Coffee Shop in kanonisierten MCU-Filmen erzeugen würde. Vor der offenen Deklarierung von AUs schreckt die Franchise-Ära bisher jedoch zu großen Teilen zurück.

Ansätze lassen sich im Marketing um Filme erkennen, die auf Unterscheidungen zwischen „Remake“, „Reboot“ und „Reimagining“ bestehen. Filme wie „Maleficent“ (2014, 2019) oder „Cruella“ (2021) funktionieren de facto wie AUs, da sie klassische Disney-Bösewichte zu Heldinnen machen, indem sie ihre ursprünglichen negativen Eigenschaften und Verhaltensweisen ins Gegenteil verkehren. Die böse Fee Maleficent kümmert sich nun wie eine Mutter um Dornröschen und Pelzfanatikerin Cruella de Vil adoptiert nun Hunde – die Kohärenz zwischen der etablierten und der transformierten Figur wird damit in beiden Fällen gebrochen. Wer als Zuschauer:in diese Kohärenz erwartet hat – vermutlich weil das Marketing die Transformationen eben nicht als AUs identifizierte, sondern gerade mit der Verbindung zum bereits etablierten „canon“ lockte – wird auch hier enttäuscht worden sein.

Ein Vorteil der Etablierung von Franchise-AUs wäre jedoch, dass dieses Vorgehen es Fortsetzungen erlauben würde, mit neuen Genres zu experimentieren und ganz unterschiedliche Zuschauer:innen zu adressieren. Dumbledore und Grindelwald könnten in einem Kriegsfilm aufeinandertreffen, der seine Nazi-Allegorie nicht mit niedlichen magischen Tierwesen verwässern muss. Wanda Maximoff könnte zum Bösewicht in einem echten Horrorfilm werden, der nicht für 13-Jährige zugelassen sein muss. Und Rey könnte die Hauptrolle in ihrer eigenen Geschichte übernehmen.

DC Films scheint sich in diese Richtung zu bewegen, weil die Franchise aktuell parallel zueinander existierende Geschichten-Universen kreiert, in denen Batman zugleich in einer absurden Komödie wie „Birds of Prey“ (2020) referenziert werden und seinen eigenen Noir-Detektivfilm (2022) haben kann. Was diese Entscheidung jedoch verringert, ist das Potential möglicher Crossovers von Figuren – die das MCU aktuell zu seinem zentralen Plot- und Marketingelement erklärt zu haben scheint –, da Crossover-Filme über AUs hinweg zusätzlich zu der Rückkehr des „canon“-Problems auch ein tonales Problem hätten.

Ein weit schwerwiegenderes Vergehen als die Verhinderung von Crossovers ist jedoch die Differenzierung des Publikums, welche dem Konzept von AUs – und Fanfiction generell – zugrunde liegt. Henry Jenkins Vorstellung eines „breaking points“ der Franchise-Ära, an dem Subplots, Nebenfiguren und Referenzen vom Publikum nicht mehr erkannt oder auseinandergehalten werden können, würde das Konzept von AUs somit zwar entgegenwirken – aber es würde auch bedeuten, dass nicht länger jeder Film in einer Franchise für jeden gemacht werden kann. Der Dumbledore-Kriegsfilm eignet sich nicht für Zuschauer:innen, die Heimweh nach Hogwarts haben. Der Horrorfilm schließt Kinder grundsätzlich aus dem Kino aus. Und wo kämen wir hin, wenn Frauen in „Star Wars“ plötzlich ‚die Macht‘ haben?

Darauf läuft es schließlich hinaus: Die Transformationsleistung der Franchise-Ära liegt darin, immer wieder neue Geschichten aus Kombinationen jener etablierten Elemente zu erzählen, die den Geschmack eines möglichst breiten Publikums treffen. Die Transformationsleistung der Fanfiction liegt hingegen darin, so viele neue Geschichten zu erzählen, dass für jeden einzelnen Geschmack genau die richtige Kombination etablierter Elemente dabei ist.

Die Franchise-Ära hat ehemalige Nischen wie Comicbuch-, Science Fiction- und Fantasy-Fans zum Mainstream-Publikum gemacht und damit unter anderem massiv zur Ausweitung von Fanfiction beigetragen. Fanfiction strebt jedoch ihrer Grundkonstitution entsprechend stets vom Mainstream weg. Seit den Anfängen der modernen Fanfiction, seitdem die ersten Kirk/Spock-Zines auf den Comicmessen der 1960er-Jahre zwischen Fans ausgetauscht wurden, ist Fanfiction queerer, expliziter und um einiges exzentrischer als die zur Fanfiction inspirierenden Ursprungsquellen. Hinzu kommt, dass Fanfiction sich noch nie an die Grenzen halten musste, die Zensur, Altersfreigaben sowie Lizenzen und Urheberrechte bis heute zwischen Autor:innen und Publikum, aber auch zwischen den einzelnen Franchises errichten. Wer denkt, dass Dumbledore Grindelwald endlich verlassen und mit Gandalf glücklich werden sollte, kann jederzeit eine Geschichte lesen (oder zumindest schreiben), in der genau das passiert.

 

Literatur

Fleury, James/Hartzheim, Bryan Hikari/Mamber, Stephen (2019): Introduction. In: dies. (Hg.): The Franchise Era Managing Media in the Digital Economy. Edinburgh, S. 1-30.

Fritz, Ben (2018): The Big Picture. The Fight for the Future of Movies. Boston.

Jenkins, Henry (2006): Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York.

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