»Chernobyl« und die Halbwertszeiten der Angst
von Lars Koch / Solvejg Nitzke
8.9.2022

TV-Serie: Die Wirklichkeit der Katastrophe

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 55-60]

Über 30 Jahre nach dem fatalen Reaktorunglück in der Ukraine weckt die fünfteilige Mini-Serie »Chernobyl« (HBO/Sky Television 2019) die Hoffnung, dass die mit diesem Namen synonyme Katastrophe nun endlich erzählbar wird. Allzu lange, so moniert Masha Gessen am 04.06.2019 im »New Yorker«, herrschte ein narratives Vakuum. Eine Erzählung, so legt ihre scharfe Kritik nahe, müsse dem Ereignis Sinn verleihen, es akkurat und angemessen wiedergeben. Die Serie »Chernobyl« hingegen dramatisiere zwar die Ereignisse, aber sie erkläre nicht, was passiert sei. Genauso ist es: Die Katastrophe verweigert sich weiterhin einer kohärenten Lesart. Ihre Geschichte ergibt auch nach dem Ende der Serie nicht mehr Sinn als zuvor. Doch genau darin liegt die unheimliche Qualität von »Chernobyl«: Die Serie macht das Geschehen nicht normalisierend verfügbar. Es geht hier nicht um eine Spurensuche, eine Wertung oder gar eine Erklärung, sondern um die Frage, wer (auch heute) bestimmt, was die Wirklichkeit der Katastrophe ist.

Der ›Story Arc‹, der vom ›Meltdown‹ bis zum Gerichtsprozess gegen die vermeintlich Verantwortlichen reicht, erzählt von dem vergeblichen Versuch, eine Katastrophe zu beherrschen, die niemand wahrhaben will. Im Mittelpunkt der Serie steht der – der historischen Person nachempfundene – Kernphysiker Valery Legasov (Jared Harris), ein postheroischer Held wider Willen, dessen wissenschaftliche Kompetenz nicht nur inhaltlich, sondern auch medial zum einzigen vermeintlichen Orientierungspunkt im Chaos wird. »Vermeintlich« ist allerdings das Stichwort, das zum Prinzip der Serie wird: Zu Beginn sieht man Legasov in seiner halbwegs schäbigen Wohnung, wie er seine Hauskatze großzügig füttert, die Kassettenaufnahme seiner Memoiren beendet, diese umsichtig versteckt, um sich schließlich zu erhängen. Die Serie suggeriert also, auf den Dokumenten dieses Mannes zu beruhen und einen privilegierten, von den bekannten Vertuschungsversuchen unberührten Zugang zu den Ereignissen von 1986 gefunden zu haben.

Die Verbindung von ›Whistleblowing‹ und Selbstmord fungiert mit Blick auf das Publikum als vertrauensbildende Maßnahme, die nötig ist, um wenigstens eine Figur, einen Erzählstrang mit Ansätzen von Deutungsautorität auszustatten. Die Spuren an Legasovs Körper – ihm fallen Haare aus, er hustet Blut – suggerieren, dass er unter Einsatz seines eigenen Lebens getan hat, was er konnte. Ruft »Chernobyl« damit zunächst das Setting konventioneller Katastrophenthriller auf, wie es im Genre-Kino unlängst noch einmal in »Deepwater Horizon« (USA 2016) in der Geste souveräner Erzählbarkeit aktualisiert wurde, dann nur, um dieses optimistische, auf einer Metaebene von der Trias von Unfall-Rekonstruktion, Störfall-Antizipation und Technikbeherrschung organisierte Narrativ mit Legasovs ›Voice-Over‹ unmittelbar zu unterlaufen: »There was nothing sane about Chernobyl. Everything that happened, even the good that we did. Madness.«

Dieser Satz, mit dem die Serie auch beworben wird, ruft einerseits die mit dem Katastrophenzeichen ›Tschernobyl« verbundenen Verschwörungs- und Geheimdienstnarrative auf und nimmt andererseits die Wertung einer Figur vorweg, die durch ihre wissenschaftliche Expertise nicht nur besser, sondern zugleich auch schlechter versteht, was passiert. Denn, das wird Legasov im Laufe der Handlung unwillig akzeptieren, seine ›Expertise‹ spielt zwar eine Rolle, aber nicht diejenige, die er ihr selbst zuweisen würde. Die Serie führt vor, dass die Rationalität im Umgang mit der Reaktor-Havarie gerade nicht das primäre Ziel hatte, die Folgen für Mensch und Umwelt einzuhegen. Worum es eigentlich ging, war die Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung einer Inszenierung von Staatsmacht, technischer Kompetenz und Fortschrittsglaube. Legasovs Funktion und Agency ist genau hier situiert: Er ist der zunächst ungläubige, dann schockierte und zuletzt desillusionierte Beobachter einer reaktiven Wirklichkeitserzählung, deren Fluchtlinie verharmlosende Evidenz und gerade nicht situative Adäquanz war.

Die meisten anderen Figuren der Serie, das wird schnell klar, sind entweder ahnungslos, geblendet von eigenen Interessen oder beides. Legasovs Gegenpart, das Mitglied des Zentralkomitees Boris Shcherbina (Stellan Skarsgård), nimmt dabei eine herausgehobene Stellung ein. Er lässt sich zögerlich von Legasovs Expertise überzeugen, tut schließlich das Richtige, indem er seinem Rat folgt und teilt – da wird es dann doch ein wenig kitschig – schlussendlich das Schicksal des machtlosen Mächtigen. Die Beziehung der beiden Männer beginnt wie ein besonders anstrengender Fall von Wissenschaftskommunikation. Legasov begleitet Shcherbina, um ihm zu erklären »how a nuclear reactor works«. Halbwegs geduldig erklärt der Physiker im Laufe der Serie denn auch wieder und wieder, was sich in der Reaktoranlage vermutlich abspielt. Nicht nur Shcherbina fällt es schwer zu glauben, dass die Katastrophenszenarien, die Legasov entfaltet, keine apokalyptischen Prophezeiungen sind, sondern nur momentweise vorwegnehmen, was sie bald erleben werden bzw. verhindern müssen.

Dass sich die Serie für den Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Wahrheits- und Wirklichkeitserzählungen interessiert, wird an den verschiedenen Reaktionsweisen im Umgang mit der Katastrophe deutlich. Es sind vor allem die vermeintlich ›einfachen‹ Leute, die sich von der Expertise Legasovs und der ihm zur Seite gestellten (fiktionalen) Physikerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) überzeugen lassen, ohne erst einen Machtkampf auszufechten: der Pilot, der gegen den Befehl Shcherbinas nicht über den Reaktor fliegt, die Sekretärin eines Lokalpolitikers, die sich trotz aller Beschwichtigungen ihres Chefs von Khomyuk Jodtabletten geben lässt. Misstrauen gilt im Plot der Serie den Politikern, deren Lügen und Inkompetenz immer deutlicher zu Tage treten. Zwischen Wissenschaftlern und Arbeiter*innen bilden sich Allianzen, die umso deutlicher hervortreten lassen, worum es in »Chernobyl« geht – um eine ideologisch verbrämte Führungselite, die bereit ist, um den Preis unermesslichen Leides alles für den Fortschritt – oder doch zumindest für die Aufrechterhaltung der Erzählung, die ihn zum Programm erhebt – zu tun. In dieser Hinsicht bietet die Serie eine Perspektive an, die Serhii Plokhys Studie »Chernobyl: The History of a Nuclear Catastrophe« (2018) sehr ähnelt. Sie stellt allerdings die Darstellung der Katastrophe, ihrer Folgen und der Unfähigkeit, mit diesen umzugehen, ins Zentrum – wodurch das Misstrauen gegen »die Politik« seltsam schicksalhaft stehen bleibt.

Anstatt sich genüsslich in Angstlust zu suhlen, verweigert diese Serie den ›Catastrophic Relief‹ mit einer Vehemenz, die einem Schlag ins Gesicht gleichkommt. Sie lässt ihre Zuschauer*innen verwirrter und beunruhigter zurück, als sie sie vorgefunden hat. »Chernobyl« macht sich die narrative Potenz einer technischen Havarie zunutze, deren Spuren noch in Jahrtausenden nachweisbar sein werden. Dabei ist das Thema der Serie gerade nicht die Warnung vor den unkalkulierbaren Folgen der Nukleartechnologie. Vielmehr fokussiert sie das dichte Netz aus Wissen, Nicht-Wissen und fehlendem Gefahrensinn, Lüge und Wahrheit, Autorität und Expertise sowie aus inkompatiblen Interessen, die sich im Kampf um Deutungshoheit wechselseitig blockieren. In diesem Sinne inszeniert die Serie die Katastrophe von Tschernobyl als ein epistemisches Ereignis, als eine Störung, die die kulturellen Praxen der narrativen und ideologischen Renormalisierung an ihre Überlastungsgrenze führt.

Gegenüber anderen Katastrophen hat das Reaktorunglück vom 26. April 1986 einen entscheidenden aufmerksamkeitsökonomischen Vorteil: es gehört nicht alleine der Vergangenheit an. Das heißt, es verliert Relevanz nur in der Rate, in der auch die radioaktive Strahlung abnimmt, die vom berüchtigten Block 4 aus über nahezu ganz Europa verteilt wurde. Die Katastrophe, die ›Tschernobyl‹ ist, besteht nicht in der ungewollten Kernschmelze, dem Brand des Reaktorblocks und der folgenden Evakuierung der Bewohner*innen Prypjats, sondern in der dauerhaften, aber unsichtbaren Veränderung der Welt. »Chernobyl« setzt genau diese Unverfügbarkeit, mit der sich mittlerweile auch in der Realität zahlreiche ›Dark Tourists‹ bei einem von entsprechenden Reiseanbietern organisierten Besuch an Ground Zero konfrontieren wollen, in Szene. Auf die eminente Gefährlichkeit der Black-Box der Katastrophe kann in Echtzeit nur über ihre Symptome rückgeschlossen werden. Evident wird sie an den Körpern derjenigen, die mit ihr in Kontakt kommen: wenn sich ein Verantwortlicher, der gerade noch behauptet hat, es könne gar nicht zu einer Kernschmelze gekommen sein, quer über den Tisch erbricht; wenn die Haut der Feuerwehrleute und Kraftwerksmitarbeiter Blasen wirft und schließlich die Muskeln von den Knochen zu schmelzen scheinen. Diese beobachtbaren Symptome der sogenannten Strahlenkrankheit – so eindrücklich sie in »Chernobyl« dargestellt werden – sind nur die äußerste Stufe eines Zersetzungsprozesses, der lebendige Körper und deren Umweltbedingungen angreift, ohne selbst (wie es eine ›Krankheit‹ in den meisten Fällen ist) organischen Ursprungs zu sein. Die Rhetorik der Ansteckung und Übertragung, der Verseuchung und Quarantäne überdeckt die fundamentale Inkompetenz und Unsicherheit im Umgang mit der Katastrophe. Die Expertise, die man den technischen und politischen Verantwortungsträgern zurechnen möchte, wird hier gerade in ihrem Fehlen zum Thema.

Gessens scharfe Kritik an »Chernobyl« geht auch deswegen fehl, weil sie ignoriert, dass sich – wenn auch jenseits des US-amerikanischen Marktes – in den gut drei Jahrzehnten seit der Kernschmelze eine ganze Reihe von Narrativen bzw. Narrativierungsversuchen des GAUs angesammelt hat. Einzig auf Swetlana Alexijewitschs »Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft« (1997) kommt sie kurz zu sprechen, ohne aber das analytische Potenzial dieses dokumentarischen Projekts voll zu erfassen. Alexijewitschs ›Oral History‹ gehört zu den vielleicht eindrücklichsten Zeugnissen der Katastrophe, denn sie zeichnet die ›Stimmen‹ derjenigen auf, die durch Tschernobyl ihr Zuhause, ihre Verwandten und ihre Gesundheit verloren haben. Gerade die Vielstimmigkeit der versammelten Perspektiven ›von unten‹ setzen den Versuch einer machtgestützten Installierung einer offiziellen, um Kohärenz und Schließung bemühten Erzählung ›von oben‹ unter Spannung. Zwar sind viele der Berichte, von denen derjenige Ljudmilla Ignatenkovas, die ihrem strahlenkranken Mann beisteht, in der ›Storyline‹ der Serie aufgegriffen wird, erstaunlich geschlossen und im Ton bemerkenswert. Aber weil Alexijewitsch die einzelnen Facetten für sich stehen lässt, bleiben Brüche erhalten, sie füllen keine Lücke, sondern reißen neue auf.

Solche Lücken weckten auch schon Alexander Kluges Interesse, der das Reaktorunglück in »Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl« (1996) und in »Die Lücke, die der Teufel läßt« (2005) in einer beeindruckenden Fülle von Details und Stimmen zu einem instabilen Katastrophenzusammenhang montiert, ohne dabei jedoch eine endgültige Interpretation anzubieten. Im Gegensatz zur zweifellos informativen und lesenswerten Studie des Historikers Serhii Plokhy, die erst 2018 erschien und Tschernobyl im Ton eines abgeklärten Fazits zugleich zum Ergebnis des scheiternden Sowjetsystems und Anlass seines Zerfalls erklärt, verweigern sich Alexijewitsch und Kluge in ihren Fragen nach der Zukunft, für die sie keine Antworten finden, solchen rhetorischen Einhegungsstrategien.

Auch wenn die TV-Serie beileibe nicht die erste Fiktionalisierung der Ereignisse ist – zu denken wäre etwa an Christa Wolfs »Störfall. Nachrichten eines Tages« (1987), Gudrun Pausewangs Roman »Die Wolke« (1987), der 2006 auch für das Kino adaptiert wurde, oder an den Film »An einem Samstag« (Russland/Ukraine/BRD 2011) –, bricht mit ihr doch eine neue Phase in der Darstellung von Tschernobyl an. Während frühe Texte (Wolf/Pausewang) Tschernobyl in freier Assoziation oder direkter Referenz für eine narrative Positionierung gegen technische Hybris nutzen, fungieren Kluges Montagen und Alexijewitschs ›Oral History‹ als Versuche der Informations- und Erlebnissammlung. Mit der historiografischen Studie »Chernobyl« – und dies gilt anders gewendet auch für die HBO-Serie – scheint nun die Zeit angebrochen, sich um eine umfassendere Einordnung zu bemühen.

Interessant erscheint uns, wie sich die Figuren in der Serie den ›Schwarzen Peter‹ der Skepsis reihum zuschieben. Legasov und Khomyuk müssen buchstäblich um einen ›Sitz am Tisch‹ kämpfen, weil ihnen unterstellt wird, mit ihrem allzu komplizierten Wissen bloß politische und wirtschaftliche Abläufe stören zu wollen. Die Politiker müssen sich gefallen lassen, dass sie sowohl von den Wissenschaftler*innen als auch von Feuerwehrleuten und Soldaten zwar Gehorsam erwarten können, jedoch nicht deren Vertrauen genießen – insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Handlungsunfähigkeit des administrativen Systems der Katastrophe bereits die Verseuchung und Verstrahlung präfiguriert, die sich vor allem in der Sperrzone 30 km um den havarierten Block 4 auch physisch realisiert. Diese Darstellung einer fundamentalen Wahrheits- und Akzeptanzkrise ist allerdings insofern nicht unproblematisch, als sie – quasi als Nebenfolge – eine Lesart poetischer Gerechtigkeit evoziert, die die Brisanz der Serie mindert. Nicht anders als im Genre des Katastrophenfilms üblich, trifft es auch hier diejenigen, die es in gewisser Weise verdienen, insofern sie allen Kassandrarufen zum Trotz versäumt haben, auf ›die Wissenschaft‹ zu hören.

»Chernobyl« kann eine solche Lesart aber 33 Jahre nach dem fehlgegangenen Sicherheitstest nicht mehr ohne weiteres plausibilisieren. Denn spätestens mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima hat sich ein für alle Mal gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit eines GAUs nicht von der Frage abhängt, ob ein kommunistisches oder ein kapitalistisches System für den Betrieb verantwortlich ist. Die technikgläubige Hybris ist die gleiche. Zwar war es in Japan kein schlecht organisierter Test, sondern die Verkettung zweier Naturkatastrophen, die zum GAU führte. Gleichwohl stehen die Namen beider Orte nunmehr dafür ein, dass die Risiken von Großtechnik nicht technisch zu kontrollieren sind und die Möglichkeit »Normaler Katastrophen«, wie sie der Techniksoziologe Charles Perrow schon 1984 mit Blick auf den Unfall in Harrisburg beschrieben hatte, immer besteht.

»Chernobyl« ist eine beeindruckende und bedrückende Serie. Besonders zeichnet sie aus, dass sie bei aller historischen Genauigkeit der Ausstattung und der Rekonstruktion der Abläufe eine Geschichte erzählt (erzählbar macht?), die anschlussfähig für die Gegenwart ist. Sie erschöpft sich ebenso wenig in Moralkommunikation wie in einer Kapitalisierung des Schaurig-Erhabenen, sondern betrachtet die politisch-sozialen Praktiken der Katastrophe wie Kettenreaktionen, die Kommunikation und Handlung ermöglichen und zugleich verhindern. Die dargestellten Prozesse erscheinen dabei gerade nicht als schicksalhaft. Aber – das führt die Serie in rund fünf Stunden vor – es gibt einen Kipppunkt, ab dem sich die Kaskade von Reaktionen und Nebenfolgen nicht mehr aufhalten lässt. Das ist nicht nur dann unheimlich, wenn man in der Nähe eines Atomkraftwerks lebt.

 

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