Make or Buy? Beschaffungsstrategien von Apple TV+
von Andreas Gebesmair
7.9.2022

Streaming-Ökonomie

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 16-21]

Nun macht Apple auch noch Serien. Anfang November 2019 startete der größte Technologiekonzern der Welt einen Streamingdienst, auf dem auch eine Handvoll eigener Produktionen zu sehen sind. Mit dem prominent besetzten Drama »The Morning Show« (in den Hauptrollen Jennifer Aniston, Reese Witherspoon und Steve Carell), Science-Fiction-, Thriller- und Fantasie-Serien, »Oprah’s Book Club«, einer Comedy-Show und ein bisschen Kinderprogramm engagiert sich das Unternehmen aus Cupertino, Kalifornien, auf der ersten Stufe der Medienwertschöpfungskette: der Content-Produktion. Damit setzt es seine vertikale Diversifikationsstrategie, die mit Abspielgeräten wie dem iPod begann und im iTunes-Shop einen ersten Höhepunkt erreichte, konsequent fort. Der Technologiekonzern, der vor allem mit Personal Computern und grafischen Benutzeroberflächen groß wurde, hat sich auch in der Medienbranche ganz nach oben gespielt: Allein der Geschäftsbereich »iTunes, Software und Services« verzeichnete im Jahr 2017 einen Umsatz von 37,2 Milliarden US-Dollar. Damit rangiert Apple Inc. auf Platz 9 der größten Medienkonzerne im Ranking des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik.

Der jüngste Vorstoß in Richtung Video on Demand und Content-Produktion rief aber alles andere als Begeisterungsstürme hervor. Die Serien seien, so die einhellige Meinung in der Branche, trotz Staraufgebot austauschbar, der Dienst insgesamt technisch und inhaltlich unausgereift. Es gebe keine triftigen Gründe, von den etablierten Services wie Netflix oder Maxdome zu Apple TV+ zu wechseln, auch wenn der Dienst mit 4,99 Euro sehr günstig ist. Was in der Berichterstattung über Apples neueste Geschäftsidee hingegen wenig Beachtung fand, ist die ebenso diskussionswürdige Beschaffungsstrategie, die das Unternehmen nun verfolgt. Wie das Branchen-Magazin »The Hollywood Reporter« Anfang Oktober berichtete, planen die Chefs von Apples Worldwide Video, Zack Van Amburg und Jamie Erlicht, die nächsten Serien für Apple TV+ ›in-house‹ mit eigener Produktionsfirma (in den USA als ›Studio‹ bezeichnet) zu produzieren. Den Start macht die neunteilige World-War-II-Serie »Masters of the Air« mit Tom Hanks und Steven Spielberg, die ursprünglich für HBO entwickelt wurde.

Diese strategische Entscheidung von Apple rückt eine Grundsatzentscheidung der Medienwirtschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Soll ein Produkt am Markt bezogen oder besser im eigenen Haus hergestellt werden? Make or Buy? Bis in die 1950er Jahre waren die großen Produktionsfirmen in Hollywood tatsächlich noch Studios im engeren Sinn: riesige Produktionsstätten, in denen von der Stoff- und Drehbuchentwicklung über die Rollenbesetzung bis hin zum Dreh und Schnitt alles unter einem Dach und von in der Regel fix angestelltem Personal abgewickelt wurde. Als dann aber mit dem Aufkommen des Fernsehens die Filmindustrie zunehmend unter Druck kam, begannen die Studios wesentliche Teile der Produktion auszulagern bzw. eben am Markt zu beziehen. Im Laufe der Jahre entstand so ein enges Geflecht von hochspezialisierten Firmen, die ihre Dienste für unterschiedliche Produktionen konkurrierender Studios anboten. In der wissenschaftlichen Literatur wird dieser Prozess daher als ›flexible Spezialisierung‹ bezeichnet, die insgesamt für den Postfordismus paradigmatischen Charakter hat.

Das damals sich herauskristallisierende Modell der Filmproduktion besitzt auch heute noch Gültigkeit: Produktionsfirmen entwickeln mit freien Drehbuchschreiber*innen den Stoff, stellen die Produktionsteams und den Cast zusammen, kümmern sich um Finanzierung wie Verträge und achten darauf, dass die Produktion nicht aus dem Ruder läuft. Mit dieser Art zu produzieren können die Studios die hohen Fixkosten für angestelltes Personal und die technische Ausrüstung einsparen und recht flexibel auf Änderungen in der Nachfrage reagieren. Die Teams werden entsprechend den Anforderungen an die Produktion immer wieder neu zusammengesetzt, wenngleich sich, wie Studien zeigen, durchaus stabile Netzwerke regelmäßig kooperierender Regisseur*innen, Produzent*innen, Schauspieler*innen etc. herausbilden. Die Anbieter der kreativen und technischen Dienstleistungen wiederum erlangen in einem flexiblen Produktionsumfeld größere Autonomie und können dadurch auch ihre spezifischen Fähigkeiten besser entwickeln – allerdings um den Preis enormer Unsicherheit und zuweilen prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Dieser Wechsel von der Fließbandproduktion in hochintegrierten Studios hin zur flexiblen Produktion in Netzwerken unabhängiger Kreativer und Dienstleister in den 1950er Jahren wurde durch eine Reihe von rechtlichen, technischen und institutionellen Maßnahmen befördert. So führte etwa ein kartellrechtliches Urteil Ende der 1940er Jahre, die sog. »Paramount-Decision«, zu einer Entflechtung von Kino- und Filmindustrie und ermöglichte damit auch kleineren, unabhängigen Produktionsfirmen den Eintritt in den Markt. Portable Kameras machten die Produzent*innen zudem unabhängig von den teuren Aufnahmehallen und erleichterten das Drehen im Freien. Schließlich setzte mit der Einrichtung von Filmschulen an prominenten Universitäten in Los Angeles und New York eine Professionalisierung ein, die zu einer weiteren Ausdifferenzierung der kreativen Produktionsmilieus führte. Die räumliche Konzentration der Filmproduktion in wenigen Städten ist im Übrigen auch eine Folge dieser Produktionslogik. Stabile, vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen in Netzwerken bedürfen des regelmäßigen Austausches im direkten Kontakt. Räumliche Nähe und der ›Buzz‹, der in den Bars und Partys der Städte diffundiert, sind ein hervorragendes funktionales Äquivalent für die fehlende formale Kontrolle.

Dies lässt sich ebenfalls in Deutschland beobachten. Auch hier haben sich im Laufe der Jahrzehnte insbesondere in Köln, München und Berlin kreative Cluster herausgebildet, die im Wesentlichen eine professionelle Abwicklung von Bewegtbildproduktionen gewährleisten. Eine nicht unwichtige Rolle in der Ausbildung flexibler Produktionsnetzwerke spielten die privaten Fernsehunternehmen, die Mitte der 1980er Jahre ihren Betrieb aufnahmen. Im Unterschied zu den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die lange Zeit über die Kapazitäten verfügten, um Content auch im Haus zu produzieren und dies vor allem im Bereich der Information bis heute tun, waren die Privaten mit ihrem deutlich kleineren Mitarbeiterstab auf die Angebote und Dienstleister am Markt angewiesen. Sie kauften einerseits auf den internationalen Medienmärkten relativ günstige Lizenzware ein, begannen aber auch selbst Produktionen bei den vielen kleinen und größeren unabhängigen Produzenten in Auftrag zu geben. Diese Art der Produktion wurde in der TV-Branche, letztlich aber auch im Streaming-Markt zum Standard.

In-House-Produktion, Auftragsproduktion und Lizenzeinkauf, die drei idealtypischen Formen der Beschaffung besitzen aus betriebswirtschaftlicher Perspektive jeweils Vor- und Nachteile. Die wohl günstigste Form, an Content zu kommen, ist der Erwerb einer Sende- bzw. Verbreitungslizenz. Der Preis hängt von der Größe des Sende- bzw. Verbreitungsgebiets ab, liegt aber in der Regel unter den Kosten für eine Eigen- oder Auftragsproduktion. Der Nachteil liegt auf der Hand: Die Rechte am Film verbleiben bei der Produktionsfirma, der Lizenznehmer verfügt meist nur über eine beschränkte Zeit über das Recht zur Verbreitung und wird damit auch leicht zum Opfer von Preiskämpfen. Außerdem laufen Firmen, die ihre Produkte ausschließlich über den Markt beziehen, Gefahr, wichtiges Knowhow und ihr Profil zu verlieren. Im strategischen Management spricht man von den Core Assets, die es vor Imitation zu schützen gilt. Genau umgekehrt verhält es sich bei Produktionen, die von Fernsehsendern mit eigenen sachlichen und personellen Mitteln im Haus hergestellt werden. Allerdings trägt hier das Unternehmen nicht nur sämtliche Kosten der Produktion, sondern auch die nicht unbeträchtlichen Risiken der Produktion und der Verwertung.

Zwischen den beiden Extremen des Lizenzkaufs einerseits und der Produktion im Haus andererseits hat sich nun die Auftragsproduktion in der Form von flexibel zusammengestellten Produktionsteams etabliert. Dabei übernehmen ein oder mehrere rechtlich unabhängige Produktionsunternehmen (an denen freilich der Auftraggeber beteiligt sein kann) die wirtschaftliche, organisatorische und künstlerische Verantwortung für die Produktion und damit auch das Produktions- und Überschreitungsrisiko. Die Finanzierung wie auch die Rechteübertragung können sehr unterschiedlich ausgestaltet sein: Im Falle der Finanzierung durch eine Verwertungsplattform gehen die Rechte in der Regel zur Gänze an den Auftraggeber. Diese Art der Produktion unterscheidet sich nur wenig von der In-House-Produktion und wird deshalb auch oft als ›Eigenproduktion‹ bezeichnet. Bei größeren, kostspieligeren Projekten beteiligen sich aber meistens mehrere Firmen an der Finanzierung. Die Rechte werden bei diesen Koproduktionen dann entsprechend den Finanzierungsbeiträgen aufgeteilt. Dies lässt sich gut an der bislang teuersten deutschen Fernsehproduktion, »Babylon Berlin«, illustrieren. Produziert wurde die Krimi-Serie, die im Berlin der 1920er Jahre spielt, von der Fernseh- und Filmproduktionsgesellschaft der Regisseure Tom Tykwer, Dani Levy und Wolfgang Becker und des Produzenten Stefan Arndt, X Filme Creative Pool. Dass Regisseure ihre eigenen Produktionsfirmen gründen, ist weitverbreitet und gewährleistet vor allem künstlerische Autonomie. Das Geld für die Produktion stammte in diesem Fall gleich aus drei unterschiedlichen Quellen: von dem deutschen Pay-TV-Anbieter Sky, der Beschaffungsgesellschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD, Degeto, und Beta-Film, einem internationalen Vertrieb von Fernsehrechten mit Sitz in Oberhaching bei München, der aus der Konkursmasse des Kirch-Konzerns hervorging. Die beteiligten Unternehmen bekamen jeweils nur die Rechte für die Verwertung auf der jeweiligen Plattform bzw. im jeweiligen Sendegebiet: Zu sehen war die Serie zuerst nur im Bezahlfernsehen Sky, dann auch im öffentlich-rechtlichen Free-TV in Deutschland und schließlich auf internationalen Ausspielkanälen.

Auch Video-on-Demand-Anbieter bedienen sich dieser Beschaffungsform. So wurde etwa die vielgepriesene Netflix-Serie »House of Cards« von Trigger Street Productions, dem Filmproduktionsunternehmen von Kevin Spacey in Kooperation mit Media Rights Capital produziert. Für die Produktion der deutschen Amazon-Serie »You Are Wanted« zeichnete die Pantaleon Films GmbH verantwortlich, die Produktionsfirma des Schauspielers und Regisseurs Matthias Schweighöfer; Amazon holte zusätzlich aber die finanzstarken Major-Studios Warner Bros. Entertainment GmbH und Warner Bros. International Television Production Deutschland GmbH mit ins Boot. Auch Apple übertrug die Produktion seiner Prestigeserie »The Morning Show« einem Netzwerk von Profis aus Hollywood: Jennifer Anistons Echo Films, Reese Witherspoons Hello Sunshine, der Firma der Produzentin Kerry Ehrin und dem Unternehmen Media Res.

Nun will aber Apple ein eigenes Studio einrichten und damit die vollständige Kontrolle über Produktion und Vertrieb von Content gewinnen. Wie lässt sich dieses Vorhaben aus medienwirtschaftlicher Sicht bewerten? Vor allem erwirbt Apple damit die exklusiven Verwertungsrechte und kann damit auch Knowhow, Kompetenzen und einen Content-Katalog aufbauen, die dem Dienst einen unverwechselbaren Charakter geben könnten. Und noch einen Vorteil hat die Produktion im eigenen Studio: Produktionsnetzwerke leiden zuweilen unter Reibungsverlusten. Partner müssen gesucht werden, komplizierte Verträge aufgestellt und deren Einhaltung überwacht werden; im Falle eines Fehlverhaltens oder Vertragsbruchs bedarf es zuweilen eines Großaufgebots an Rechtsanwälten zur Durchsetzung der Ansprüche. Dieser Aufwand wird in der Ökonomie als Transaktionskosten bezeichnet. Die Transaktionskostentheorie empfiehlt, Produkte, die sehr häufig benötigt werden, deren Gestalt sehr spezifisch und deren Besitz essenziell für den Erfolg eines Unternehmens ist, nicht am Markt zu beziehen, sondern selbst zu produzieren. All das spricht für die Einrichtung eines eigenen Studios.

Dennoch wird die Strategie Apples in Fachkreisen durchaus kritisch gesehen. Apple dringt hier in einen Markt ein, in dem das Unternehmen so gut wie keine Erfahrungen hat, in dem aber eine enorme Konkurrenz besteht. Anders als beim Start von iTunes oder der Einführung des iPhones handelt es sich um einen bereits etablierten, wenn nicht sogar gesättigten Markt, in dem insofern auch keine First-Mover-Vorteile bestehen. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass Apple in der Serienproduktion lediglich die großen Vorbilder in Hollywood imitiert und auf den kleinsten gemeinsamen Nenner abzielt. Während der Konkurrent Netflix durch flexible Kooperationsvereinbarungen auch fremdsprachige Filme produziert und so in Nischenmärkten zu reüssieren versucht – derzeit produziert Netflix sogar in Kooperation mit dem Österreichischen Rundfunk ORF, Satel Film und Bavaria Fiction die Mystery-Thriller-Serie »Freud« –, setzt Apple auf die Vorteile der In-House-Produktion und produziert Mainstream. Der Technologiekonzern scheint hier das Modell der globalen Vermarktung von elektronischen Geräten auf den Content-Markt zu übertragen. Doch während sich iPhones und iPads bereits nach geringfügigsten Variationen global vermarkten lassen, bedarf es in der Filmbranche eines Sensoriums für Nischen und regionale Märkte. Vor diesem Hintergrund erscheint das Ansinnen Apples nicht nur unzeitgemäß, sondern auch hochriskant. Das neue Apple-Studio wäre nicht das erste, das von einem ›Ten-Ton Turkey‹, wie teure aber letztlich erfolglose Produktionen in Hollywood genannt werden, in den Fundamenten erschüttert wird.

 

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