Daten zu Daten
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 93-99]
Digitale Medien bieten neue Wege zur Erzeugung und Verteilung von Bildern der Herstellung, der Zubereitung und des Konsums von Nahrungsmitteln und Essen. Einerseits ist die Vielzahl an lebensmittelbezogenen Blogs, Vlogs, Diskussionsforen, mobilen Apps, Social-Media-Kanälen und Sharing-Plattformen mittlerweile unübersehbar. Andererseits haben sich globale Kommunikationsräume herausgebildet, die ein extrem großes und breit gestreutes Publikum erreichen können.
Für viele Besucher von Restaurants kann eine Mahlzeit nicht beginnen, ohne vorher ein Foto des Tellergerichts zu machen und es in den Sozialen Medien zu teilen. Das weitverbreitete Schlagwort ›Phone eats first‹ beschreibt das globale Phänomen, bei dem Menschen Fotos von ihren Mahlzeiten mit Smartphone-Kameras machen, bevor sie selbst essen, gefolgt vom Hochladen ihrer Fotografien in die Sozialen Medien. Das Fotografieren von Nahrungsmitteln und Essen und das Posten dieser Bilder in den Sozialen Medien wird häufig mit dem Neologismus ›Foodstagramming‹ umschrieben. Damit wird auf den Online-Dienst Instagram verwiesen, der Elemente des Mikrobloggings und der Fotoplattform verbindet. 2019 wurden nach Angaben des Unternehmens durchschnittlich 95 Millionen Fotos pro Tag hochgeladen, die mit Filtern, Hashtags und einem kurzen Beschreibungstext versehen werden können. Mit seiner leichten Bedienbarkeit und der Reduktion auf die Posting-Formate Foto und Video zog Instagram im Jahr 2019 mehr als eine Milliarde Nutzer auf seine Plattform. 500 Millionen Menschen nutzen die Instagram-Stories täglich.
Mit seinen weltweit hohen Verbreitungs- und Nutzungszahlen ist Instagram nicht nur attraktiv für Individuen, Gruppen und Werbetreibende, die rund um Fotos von Lebensmitteln und Gerichten Anerkennung und Kaufwillige finden wollen. Als gesellschaftsdiagnostischer Indikator von Essgewohnheiten ist Instagram auch zum Forschungsgegenstand der Konsumsoziologie und der Gesundheitspolitik geworden. Soziale Medien wie Instagram bieten eine Fülle an Informationen für die Erforschung der öffentlichen Gesundheit, indem sie eine umfassende Mischung aus persönlichen Daten, Standorten, Hashtags und netzwerkanalytischen Informationen bereitstellen. Für Wissenschaftler und Politiker, die das Alltagsleben biopolitisch ›verbessern‹ wollen, ist dies ein beinahe unwiderstehliches Angebot, digitale Plattformen und Umgebungen als gesundheitspolitisch relevante Medien zur Verhaltensbeeinflussung und Verhaltenssteuerung von Ernährungsgewohnheiten zu betrachten.
In ihrer Studie »Can Food Porn Make Us Slim? How Brains of Consumers React to Food in Digital Environments« befassen sich 2016 Olivia Petit, Adrian D Cheok und Olivier Oullier unter dieser Zielsetzung mit der bildbasierten Essensinszenierung auf Instagram; dafür haben sie sowohl Veröffentlichungen als auch Communities (etwa FeedFeed.info und seine fast 700.000 Follower auf Instagram) untersucht. Ihrer Überzeugung nach halten online verbreitete Bildinhalte und ihre Rezeptionsgemeinschaften nicht nur mögliche Anreize zur verstärkten Konsumtion, sondern gleichermaßen auch Potenziale für gegenläufige Steuerungsregulative bereit. Konkret haben sie die Förderung eines gesünderen Lebensmittelkonsums und den Kampf gegen Fettleibigkeit im Blick. Sie vertreten einen mehrfachen Stakeholder-Ansatz, bei dem politische Entscheidungsträger, Ernährungswissenschaftler, Verbraucherverbände, Influencer und die Nahrungsmittelindustrie zusammenwirken sollen.
Yelena Mejova, Sofiane Abbar und Hamed Haddadi wiederum werfen in ihrer 2016 veröffentlichten Studie »Fetishizing Food in Digital Age: #foodporn Around the World« die Frage auf, ob mit dem Hashtag #foodporn eine Bevorzugung »ungesunder« Speisen verbunden sei. Nach Auswertung von zehn Millionen Instagram-Posts von mehr als 1,7 Millionen Nutzern in 72 Ländern stellen sie fest: »An overwhelming (and uniform across the nations) obsession with chocolate and cake shows the domination of sugary dessert over local cuisines.« Mit dem Hashtag #foodporn würden aber auch Posts gekennzeichnet, die einen »gesunden Lebensstil« propagierten, was die Autor*innen zuversichtlich stimmt: »We find encouraging traits in the association of emotion and health-related topics with #foodporn, suggesting food can serve as motivation for a healthy lifestyle«. Sie extrapolieren diese These mit der Vermessung der sozialen Anerkennung der »gesunden« Posts, deren Accounts nach ihrer Zählung durchschnittlich 1.000 mehr Follower aufwiesen als Nutzer mit »ungesunden«. Die Verurteilung einer »ungesunden Lebensweise« und die normative Bevorzugung »gesunder« Essensinszenierungen, die als Möglichkeiten positiver Steuerungsanreize angesehen werden, könnte kaum deutlicher ausfallen.
Mit seiner geolokalisierenden Softwarearchitektur erfasst Instagram weltweite Ernährungstrends und gilt darum in vielen weiteren Studien zum Gesundheitsmanagement als aussagekräftiger Indikator der empirischen Sozialwissenschaft. Die meisten sozialwissenschaftlichen Instagram-Studien haben sich bisher allerdings fast ausschließlich auf Hashtags und Strukturen Sozialer Netzwerke konzentriert. Die Studie von Jaclyn Rich, Hamed Haddadi und Timothy M. Hospedales, »Towards Bottom-Up Analysis of Social Food«, erweitert diese Forschungsperspektive 2016 mit einer Inhaltsanalyse von Instagram-Posts, die sowohl das Bild als auch die zugehörigen Hashtags einschließt. Ziel der Inhaltsanalyse ist es, das datengesteuerte Erkennen von Bildinhalten mittels maschinenbasierter Intelligenz zu erlernen und dabei sowohl die Kategorien von Lebensmitteln als auch deren Erkennung anhand von Daten aus Sozialen Netzwerken zu ermitteln. Dieser Ansatz verdeutlicht, dass das Problem der Big Data angesichts global einflussreicher Bilddatenbanken wie Instagram durch maschinenbasierte Auswertung einer Lösung zugeführt werden soll; dadurch rücken soziale Steuerungsambitionen stärker an die Forschung zu Künstlicher Intelligenz heran.
Das bleibende Problem aller genannten Ansätze der steuerungsregulativen Essenssoziologie besteht jedoch darin, dass die sozialregulative Forschung einfach von normativen Prämissen ausgeht und zudem in ihren Studien verspricht, Fehlentwicklungen und Unzulänglichkeiten objektiv einschätzen und pädagogisch ausgleichen zu können. Dabei kommt oft die verstehende Seite der Forschung zu kurz, die nach den Wechselbeziehungen zwischen Bildwirkung und Lebensführung fragt. In den vorgestellten Studien wird kaum darauf geachtet, inwiefern Bildgestaltung, Referenzbilder, Bildmotive und -sujets, visuelle Stereotypen und Adressierungen zur Bildbedeutung beitragen.
In ihren feministischen Untersuchungen der digitalen Essenskultur spricht sich die Soziologin Deborah Lupton (zuletzt 2017 in dem zusammen mit Zeena Feldman verfassten Band »Digital Food Cultures«) hingegen dafür aus, die lebensweltliche Beziehung zwischen weiblichen Online-Nutzerinnen, digitalen Medien und Essen in biografischen Kontextualisierungen sichtbar zu machen, die zwischen Off- und Onlinegesellschaft oszillieren. Ihre Arbeit verfolgt den Anspruch, eine Analyse der Online-Identitätssuche von Frauen im Spannungsfeld von Instagram-Posts, medialer Reflexion und extrinsischer Motivation herauszuarbeiten. Sie leitet von Food Pics auch die Problematik traditioneller Vorstellungen von Weiblichkeit ab und versteht diese nicht als neutrale Bildkulturen, sondern in Macht- und Herrschaftsbeziehungen eingebundene Kulturtechniken, die patriarchale Werte und Normen auch implizit weiterführen. Daraus folgert sie eine Doppelmoral, in der sich Frauen wiederfinden, die trotz der scheinbaren Demokratisierung der Sozialen Medien Bilder stereotyper Geschlechterrollen reproduzieren. So zeigen nicht zuletzt die Arbeiten von Lupton, dass es für die Überwindung einer naiven Sicht auf das Phänomen #foodporn, #foodstagram, #instafood, #foodphotography oder #foodlover wichtig ist, ein besseres Verständnis für die Rolle der digitalen Essenskultur bei der Erzeugung, Bewahrung und kritischen Distanzierung von Identitätsskripten zu entwickeln. Diese Ansätze bilden wichtige Anschlüsse für die Frage nach dem Zusammenhang von Essen, Medien, Gesellschaft und Lebensführung, die sich von einfachen Steuerungsabsichten lösen.
Eine weitere schwerwiegende Problematik der überwiegenden Zahl an Studien zur Essensdarstellung auf Instagram besteht in der Selektion des Forschungsgegenstandes. Die meisten Arbeiten nutzen Hashtags, um so eine von der Online-Plattform selbst getroffene Kategorisierung des Bildmaterials zu übernehmen. Beliebte und global gebräuchliche Hashtags werden untersucht, um von der Materialfülle ›repräsentative‹, ›globale‹, ›internationale‹ oder ›nationale‹ Tendenzen und Entwicklungen abzuleiten. Häufig werden dabei Aussagen über den ›Ernährungszustand‹ oder das ›Gesundheitsbewusstsein‹ der ›Bevölkerung‹ getroffen, ohne sich ein Gesamtbild über vergleichbare oder divergierende Hashtags zu machen. Dadurch besteht die Gefahr der Verallgemeinerung und der Homogenisierung des Forschungsgegenstandes.
In ihren zahlreichen Arbeiten zu Essenskulturen im Netz haben die Kulturwissenschaftler*innen Kate Cairns, Josée Johnston und Shyon Baumann jedoch schon früh auf unterschiedliche Praktiken einer ›karnevalistischen‹ Essensinszenierung aufmerksam gemacht, die sich in einem parodierenden, ironisierenden Bezug zur Darstellung von Nahrungsmitteln, Essen und Kochen im Internet situiert. Die in diesen Bildern und Videos geteilte Kritik an digitalen Esskulturen ist vielschichtig und bezieht alle möglichen Formen der Gesellschafts-, Konsum- und Geschlechterkritik mit ein. So geht es nicht nur um eine Kritik an der visuellen Inszenierung, sondern auch um eine kritische Sondierung der sozialen, geschlechtlichen, politischen, ethischen und ökonomischen Rolle von Nahrungsmitteln und ihrer Zubereitung. Vor diesem Hintergrund hat sich auf Instagram eine antikulinarische Fanbase etabliert, die mit ihrer visuellen Kritik am kulinarischen Bildermarkt und seiner inhärenten Kapitalisierung und Kommerzialisierung des Essens neue Spiel- und Reflexionsräume eröffnet. »cookingforbae« etwa hat eine Gemeinschaft von mehr als 160.000 Rezipientinnen aufgebaut, die regelmäßig Bilder von ekeligem, verbranntem und mangelhaft designtem Essen liken, weil sie sich von der Welt der dominanten Hochglanzbilder und der Welt der ›gelungenen‹ Essensfotografie distanzieren möchten.
Isabelle de Solier bestätigt in ihrem Beitrag »Tasting the Digital: New Food Media« (für das »Bloomsbury Handbook of Food and Popular Culture« 2018), dass Food-Bilder in Sozialen Medien in hohem Maße der Werbeästhetik verpflichtet seien. Die werbeaffine Food-Fotografie vernachlässige die Funktion der informativen, sachlichen Repräsentation; Lebensmittel würden darum nicht mehr als Nahrung geschätzt, sondern vorrangig als Symbol des sozialen Status. Tatsächlich trägt die breite Popularität und die hohe Verbreitungsdichte der mobilen Aufnahme- und Verbreitungsmedien maßgeblich dazu bei, dass Essen in der digitalen Gesellschaft nicht nur der Nahrungsaufnahme dient, sondern gleichermaßen ein medialer Vorgang ist. Zur Ermittlung des virtuellen Marktwerts hat Instagram zudem mit dem Hashtagging einige Verfahren entwickelt, um die Bildernachfrage zu evaluieren. In diesem Sinne firmiert das auf Instagram mediatisierte Essen als ein gemeinsam geteilter Schauplatz von Strategien der Subjektivierung, die um den Erwerb und die Aushandlung bestimmter Distinktionsvorteile ringen. Indem Instagram rivalisierende Bildinhalte anbietet, befinden sich die Menschen, wenn sie essen und posten, in einem andauernden Wettbewerb mit anderen und versuchen, die Art und Weise, wie sie und was sie essen, auf den Marktwert von Essensbildern abzustimmen.