Soziales Multiversum
Jana Wilhelm
12.7.2022

Über den Film »Everything Everywhere All at Once« und seine Rezeption

Anfang Juni erschien in der „Zeit“ eine Rezension von Sebastian Seidler zu Everything Everywhere All at Once unter dem Titel „Im Wurstfinger-Multiversum“. Es ist erstaunlich, dass Seidler oft von ‚herrlichem Schwachsinn‘ schreibt, der dann doch tiefgründiger und ernstzunehmender sei, als man auf den ersten Blick vermuten sollte. Andere Rezensenten, wie Wolfgang M. Schmitt, sprechen davon, dass der Film die Frage aufwirft, ob alles egal sei, und auch hier ist wieder die Rede von ‚Unsinn‘.

Seidlers Vergleich mit Joachim Triers Der schlimmste Mensch der Welt, in dem es um die Selbstfindung und Selbsterfahrung einer jungen Frau geht, ist eine schöne Beobachtung, allerdings geht es im neuen Film von Daniel Kwan und Daniel Scheinert um eine viel wesentlichere Frage. Seine Aktualität basiert nicht allein auf der Kritik an der Selbstoptimierung und am ‚Was-wäre-wenn‘ in einem von Arbeit geprägten Alltag. Es geht um Generationenverständigung in einem ostasiatisch-migrantischen Kontext, auch wenn sich der Film nicht darauf beschränkt. Der „Schwachsinn“, von dem in den Kritiken gesprochen wird, ist eine fein angelegte Collage von Klischees über ostasiatische Mütter, die genauer zu betrachten sich lohnt. Denn am Ende stellt sich nicht nur die Frage nach dem Individuum, sondern nach einer Struktur, deren Stabilität auf dem gemeinsamen Handeln basiert.

Protagonistin des Films ist Evelyn Wang, gespielt von Michelle Yeoh. Sie wird als Tochter, Ehefrau und Mutter eingeführt. Der Waschsalon, den sie zusammen mit ihrem Ehemann Waymond betreibt, ist nicht allzu erfolgreich und eine falsche Angabe in der Steuererklärung erzeugt den Konflikt, an dem sich das Multiversum auffaltet. Tochter Joy, die von Stephanie Hsu gespielt wird, soll die Eltern als Übersetzerin begleiten, wozu es nicht kommt, nachdem Mutter und Tochter in einem Streit aneinander vorbeireden. Denn Evelyn untersagt Joy, dem Großvater Gong Gong (James Hong) ihre Beziehung zu einer Frau zu offenbaren. Sie befürchtet, dass ihr Vater ihr die sexuelle Orientierung ihrer Tochter als Versagen vorwerfen würde, während Joy die Aufforderung der Mutter als einen Mangel an Akzeptanz oder gar als Scham deutet. So gibt Evelyn die Erwartungen, unter denen sie selbst ihr Leben lang gelitten hat, an Joy weiter, ohne darüber reflektieren zu können.

Auch die Beziehung zu Ehemann Waymond verläuft nicht ohne Anspannung, da sie seine unbekümmerte Art privat wie beruflich nicht schätzt. Dass auch Waymond unglücklich ist und die Scheidungspapiere mit sich herumträgt, ahnt sie nicht. Nun steht der Termin bei der Steuerprüferin Deirdre Beaubeirdra an, die von Jamie Lee Curtis in der perfekten Balance aus Härte, Verständnis und Grusel gespielt wird. Auf der Steuererklärung sind unterschiedliche Posten aufgelistet, die zwar die Interessen Evelyns abbilden, nicht aber zum Tagesgeschäft eines Waschsalons zählen. Deirdre droht den Wangs und behauptet, sie könne anhand der Einreichungen einer Person deren Leben sehen. Sie gibt Evelyn auf Waymonds Bitte hin allerdings eine letzte Chance zur Einreichung der richtigen Unterlagen.

Das ist die Ouvertüre zum multiversellen Meisterstück dieses Films. Denn kurz vor dem Termin wird Evelyn von einem anderen Waymond darüber informiert, dass sie in Gefahr sei und er aus einem anderen Universum gekommen ist, um sie im Kampf gegen eine unbekannte Gegnerin zu unterstützen. Anhand eines Headsets kann er – und nun auch Evelyn – zwischen verschiedenen Ebenen des Multiversums springen und dabei die Fähigkeiten der jeweiligen Version ihrer selbst anzapfen. Diese Fähigkeiten sind wichtig, um die destruktive Kraft Tupaki zu besiegen, die niemand anderes ist als die Tochter Joy. Um die nötige Energie für das Device zu erzeugen, müssen unsinnige Handlungen vollzogen werden; und so führt uns der Film durch den Einfallsreichtum der Filmemacher Scheinert und Kwan.

Filme wie Disneys Red, der im letzten Jahr erschien, thematisieren die Beziehung in der chinesisch-amerikanischen Mutter-Tochter-Beziehung. Auch hier wird der Aspekt der Beziehung in besonderer Weise herausgearbeitet. Das strukturgebende Element des Films ist die Sprache und der intergenerationelle Dialog. Kwan und Scheinert setzen mehrere Marker im Film, die die Sprache, die Versprecher und Versprechen liebevoll und unbeschwert in Szene setzen. So finden die ersten Gespräche zwischen Mutter und Tochter oder zwischen Großvater und Enkelin in gebrochenem Englisch und gebrochenem Chinesisch statt. Die Mutter beruft sich im Englischen immer noch auf das Chinesische; die Bezugnahme auf Personen sei einfacher, da das Geschlecht eine weniger große Rolle spielt als die Beziehung.

Im Verlaufe dieses Films aber, in dem der Science-Fiction-Plot darin besteht, dass Evelyn und Joy sich zwischen verschiedenen Multiversen suchen, finden und verstehen müssen, kommen die beiden zu einer gemeinsamen Sprache. Im letzten Dialog spricht Evelyn nur noch mit leichtem Akzent und es breitet sich nicht nur zwischen Mutter und Tochter eine Offenheit aus, die selten so im Kino zu sehen ist. Die Offenheit wird mit dem Nonsens erspielt, in dem wahrscheinlich nur die Kinder ostasiatischer Mütter einige liebevolle Gesten entdecken können – eine Flasche Brause ganz austrinken, jemandem den eigenen Rotz in den Mund schmieren. Wie oft wird man ermahnt, sich gesund zu ernähren. Wie oft wischt einem die Mutter quer übers ganze Gesicht. Die Superkräfte, die damit freigesetzt werden, sind neben Kung Fu Skills à la Michelle Yeoh („Tiger and Dragon“) oder der Lunge einer Opernsängerin auch übermenschlich kräftige kleine Finger, mit denen man tausende sinnvolle Dinge tun kann.

Es handelt sich um keine klassische Heldenreise, wie sie z.B. in Triers Film dargestellt wird. Im Gefüge der Familie und vor allem anderen in der Darstellung der Beziehung zwischen Evelyn und Joy wird deutlich, dass die Inszenierung als Heldinnenreise in Everything Everywhere All at Once am Ende jede Frage nach dem ‚Was-wäre-wenn‘ wirksam eliminiert. Evelyn ist kein einsamer Held, der die Bewältigung seiner Aufgabe nur mittels der eigenen Stärke meistern kann. Und die Aufgabe besteht schließlich auch in der Zusammenführung der Familie, was wiederum nur in Gemeinschaft gelingt.

Die Wiederherstellung von Verbindung und die Art und Weise, in der das geschieht, sind die größten Unterschiede zwischen der klassischen Helden- und der Heldinnenreise. Die Erzählstrategien sind also grundsätzlich andere. Die Figur der Steuerfahnderin Deirdre Beaubeirdra öffnet den Kreis der Familie am Ende und erlaubt Evelyn eine Freundschaft. Zu Beginn sitzt Evelyn dem Irrtum auf, einer dieser einsamen Helden sein zu müssen. Die Tochter wird als das weitenzerstörende Chaos gesetzt, was einen trotz der Bedrohung durch das Nichts laut auflachen lässt. Evelyn fühlt sich aufgegeben und verloren, braucht aber die Erschütterung, die Albernheit sowie die Erkenntnis der Bedingungslosigkeit der Verbindung zu ihrer Familie, um zu sehen, dass eigentlich die Reue ins Nichts führt.

Sowohl Sebastian Seidlers Rezension in der ZEIT als auch Wolfgang M. Schmitts Besprechung des Films in seinem Filmanalyse-Podcast zeigen, dass es im deutschsprachigen Diskurs eine Tendenz gibt, gute Filme theoretisch oder philosophisch zu überfrachten, um ihren Wert hervorzuheben. Bei Seidler ist es Deleuze, Schmitt dagegen beschäftigt sich mit Fragen der Logik und der Moral. Das Seherlebnis, das sich aus etlichen visuellen Zitaten von Stanley Kubrick und Wong Kar-Wai bis Disneys Ratatouille zusammensetzt, wird mit Referenzen zu Fontanelles Dialogen über die Mehrheit der Welten unterfüttert.

Das ist durchaus gut gemacht, aber die Frage der Moral und des Umgangs miteinander erscheint dann doch ähnlich oberflächlich wie Seidlers Seherfahrung. Beide gehen nicht auf die für das Verständnis des Films relevante Anlage der Figuren und deren Bedürfnis nach Gemeinschaft und Akzeptanz ein. Alle Teile des Multiversums entstehen aus Entscheidungen und nicht getroffenen Entscheidungen und bilden jeweils eine andere Facette des eigenen Seins ab. Jede von Evelyns Versionen ist an Waymond, Joy und ihren Vater gebunden. Die Beziehungen sind da und bleiben trotz unterschiedlicher Prägung und einem unterschiedlichen Grad an Intimität bestehen.

Es geht also vor allem darum, die gemeinsame Struktur der Teile freizulegen, um die Reue verpasster Chancen hinter sich lassen zu können. Das ist ein Prozess, den Evelyn nicht allein durchlaufen muss und nicht allein durchlaufen kann. Jede Welt enthält zudem kulturelle Bezüge, weshalb man natürlich den Einfallsreichtum von Scheinert und Kwan trotzdem bewundern muss, allerdings ist jede Welt auch Repräsentantin realer Lebenswelten. Diese zu erkennen bedarf einer gewissen Sensibilität für andere Lebenswelten. Die Bezeichnung „Schwachsinn“ oder „Unsinn“ zeugt deshalb von einem gewissen Unverständnis gegenüber den Figuren, die man fast als beleidigend auffassen kann, wenn man die liebevolle Zusammensetzung der Klischees und Erfahrungen sieht. Sogar die meditativen Steine, sogar die Wurstfinger-Werbewelt, in der sich Evelyn und Deirdre als Partnerinnen finden.

Nicht also „völliger Schwachsinn“, der uns amüsieren und uns den Eskapismus ermöglichen soll, in dem der Wurstfinger einfach ein Wurstfinger ist – oder der die großen theoretischen Fragen nach Existenz und Aufhebung auf eine gewisse Art gamifiziert darstellt. Die Wurstfinger zwingen dazu, die Füße nutzen zu lernen. Nicht umsonst werden sie zu phallischen Repräsentanten der Möglichkeit. Möglichkeiten der Sexualität, Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung, Möglichkeiten des Zusammenlebens mit unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen und vor allem die Möglichkeit, Leichtigkeit herzustellen, nachdem man Verständnis erarbeitet hat. Der Dialog der Generationen ist nicht nur möglich, sondern absolut notwendig, um ein Happy End herzustellen. Am Ende gilt für alle: communication is key.

 

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