Ein einziges Trauerspiel
Jacob Birken
28.6.2022

Modelle des tragischen Mythos in der zeitgenössischen Populärkultur

Dieser Text muss mit einem besonders grausamen Spoiler anfangen. In den letzten Minuten der Anime-Serie Devilman Crybaby sehen wir Satan in den Trümmern der Welt liegen und über die Unmöglichkeit der Moral sinnieren. „Liebe gibt es nicht“, sagt Satan, nachdem er/sie erfolgreich die Menschheit in einem Kataklysmus aus Gewalt hat untergehen lassen, „daher gibt es kein Leid.“ Wenngleich Satan hier bereits in der Form eines strahlenden alttestamentarischen Zwitterwesens auftritt, greift er/sie in Gedanken auf die Erinnerungen zurück, die er in unserer Gegenwart nach der Wiedergeburt als der Junge Ryo Asuka gemacht hat. Satan/Ryo adressiert auch in diesem Dialog den Kindheitsfreund und später Widersacher Akira Fudo, der – als das titelgebende, immerzu weinende Crybaby – zu Ryos Unverständnis mit wirklich allem Leben Mitleid hat.

Alles Leben ist am Ende, und Ryo findet sich gegenüber Akira ins Recht gesetzt – doch als der Bildausschnitt auf die beiden in die Halbtotale wechselt, sehen wir, dass der neben ihm liegende Akira längst eine Leiche ist, sein gesamter Unterkörper im apokalyptischen Endkampf der beiden weggebrannt. In diesem letzten Moment muss Ryo/Satan erkennen, dass er zwar Recht hat, es aber gegenüber niemandem mehr haben kann; und gerade dieses Paradox setzt Ryo wieder ins Unrecht, da der gesamte Konflikt dieser Geschichte und die Aushandlung des Moralischen nur vor dem Hintergrund seines Verhältnisses – eben seiner Liebe – zu Akira Bedeutung hatte. Jetzt weint auch Satan, bevor die Erde kurz darauf durch einen göttlichen Eingriff vollständig ausgelöscht wird.

Devilman Crybaby erschien 2018 und ist zurzeit auf Netflix zu sehen; die Serie basiert auf dem Manga Devilman, in dem Go Nagai vor gut fünfzig Jahren die Geschichte von Akira und Ryo zum ersten Mal erzählte. Bereits der Titel – auch im japanischen Original als デビルマン eine Transkription des englischen Namens – schreibt diese Story in ein bestimmtes Genre ein, das mittlerweile zum Paradigma für populäres Erzählen selbst geworden ist: Das „-man“ in Devilman bedeutet das gleiche wie in Superman, Batman oder Spider-Man und markiert den Protagonisten als ein von seinen Kräften oder zumindest Ansprüchen her übermenschliches Wesen, dessen heroische Identität im Widerspruch zu seiner alltäglichen Menschlichkeit steht. Der Devilman ist hier Akira Fudo, halb Teufel und dennoch auf der Seite der Menschen – und damit im Konflikt nicht nur mit satanischen Mächten, sondern ebenso mit menschlichen Autoritäten, die in seinem teuflischen Anteil eine Bedrohung sehen.

Superheld:innen sind zu einer heute allgegenwärtigen Projektionsfläche für eine Art didaktischer Tragik geworden, Figuren wie Batman zu ‚Stoffen‘, die einer kontinuierlichen Reinterpretation bedürfen und doch stets um die gleichen Motive kreisen – um Trauma und einen gewaltsamen Konflikt von Recht und Gerechtigkeit, um Zwänge und Verantwortungen. Ob quasi-realistisch und introspektiv dargestellt, als Slapstick wie in den Deadpool-, Venom- oder Sucide-Squad-Reihen oder als bizarres Spektakel wie im aktuellen Doctor Strange in the Multiverse of Madness – heroische Genres auf Bildschirmen und Leinwänden scheinen sich mittlerweile vor allem untereinander Konkurrenz zu machen. Welches Bedürfnis befriedigt es also, das Leiden des außergewöhnlichen Individuums an der unmöglichen Aufgabe, dem fatalen moralischen Dilemma zu betrachten?

Vorbildlich leiden, scheitern

Das Motiv heroischen Leidens ist nicht neu und wird sogar gerne in seiner Archaik aufgewertet – denken wir an das populärwissenschaftliche Beharren auf Joseph Campbells ‚Heldenreise‘ als Muster allen Erzählens. Dennoch wurde es für unsere Gegenwart passend gemacht, gerade was den tragischen Aspekt am Heroischen anbelangt. Im Folgenden möchte ich versuchen, diese Entwicklung zu skizzieren und in einen weiteren kulturellen Zusammenhang zu stellen. Beginnen wir damit, einen Typus tragischer Held:innen zu umschreiben, der sich auf die einschlägigen Figuren aus der speculative fiction und Fantastik anwenden lässt und seinerseits den üblichen Theorien der Neuzeit gehorcht.

Tragische Held:innen mögen im Verlauf ihrer Geschichten mit allerlei genrespezifischem Ungemach konfrontiert werden, doch wesentlich für ihr Leiden bleibt ein innerer Konflikt, ihre unauflösliche Verwicklung in die Widersprüche zwischen der gesellschaftlichen Ordnung, ihrem Ethos und ihrer ‚Kreatürlichkeit‘ – um hier einen sperrigen Begriff von Walter Benjamin zu entlehnen (Benjamin 1991). Diese Kreatürlichkeit betrifft grundsätzlich die menschliche ‚Natur‘ mit ihren Begehren und Trieben und kann in der Genre-Story allegorisch zum Monströsen überhöht werden, das nicht nur die Bedingungen des Menschlichen hinterfragt, sondern auch diejenigen der ‚Kreation‘ selbst – sei es im Sinne religiöser Schöpfungsmythen, der Biotechnologien der Science-Fiction oder anderweitig entgrenzter Verwandtschaften.

‚Kreatürlichkeit‘ spannt so das Feld der Reproduktion – menschlicher Geschichte als einer Genealogie – mit allen individuellen und politischen Implikationen auf. Dies beginnt mit dem unlösbaren Konflikt zwischen Gefühl (Liebe, Hass, Zorn, Angst oder Hunger), Vernunft und Ethos, in den klassische Held:innen von ihren Autor:innen verstrickt werden; auch die Genealogie selbst kann als Bestimmung aufgerufen werden, die Held:innen gegenüber ihrer Familie, Spezies oder Gemeinschaft verpflichtet, bis im dramaturgischen Idealfall jede Handlungsoption tragische Konsequenzen hätte.

Held:innen können so auf verschiedene, widersprüchliche Weisen in Bezug zum ‚Kreatürlichen‘ gesetzt werden: Daenerys Targaryen in Game of Thrones wird zuerst auf ihre normative geschlechtliche Rolle als königliche Frau, d.h. potenzielle Mutter innerhalb einer Erbfolge, reduziert; sie überschreibt diese passive Rolle mit derjenigen der monströsen und zugleich revolutionär-emanzipatorischen „Mutter der Drachen“, die nicht nur sich selbst vom Patriarchat, sondern ganze Landstriche aus der Unterdrückung befreit; bis diese aktive Rolle wiederum durch diejenige der Tyrannin überschrieben wird, einerseits vorbestimmt durch den familiär vererbten Wahn der Targaryens und andererseits ausgelöst durch die unglückliche Liebe zu ihrem Neffen Jon Snow – als zugleich ‚kreatürliches‘ und ‚sittenwidriges‘ Begehren ein Stereotyp romantischer Tragik.

Akira Fudo wird seinerseits zum Devilman, als er während einer satanischen Orgie in Notwehr zuerst zu einer „Kreatur des reinen Instinkts“ und dann von einem Dämon besessen wird, nur um diesen in eine hybride Persönlichkeit zu integrieren, einen „Dämon mit menschlicher Seele“ (Nagai 2018: 218, 234). Die Dämon:innen in Devilman mögen damit das enthemmte Andere zur Menschheit darstellen, doch gerade in ihrer normativen Ordnung erweisen sich im Laufe der Story auch die Menschen als monströs: Plötzlich wird jede kleinste Abweichung von der Konvention zum vorgeblichen Beweis für dämonische Besessenheit, bis auch Akiras ‚rein‘ menschliche Freund:innen von einem wütenden Mob massakriert werden.

Auserzählt

Dass das Drama tragischer Held:innen sich ausschließlich vor dem Hintergrund gewaltsamer Auseinandersetzungen entwickelt, kommt nicht erst mit der Umsetzung in Action- oder Horror-Genres auf; auch Friedrich Schiller schreibt, dass „das höchste Bewußtsein unserer moralischen Natur nur in einem gewaltsamen Zustande, im Kampfe erhalten werden kann, und dass das höchste moralische Vergnügen jederzeit von Schmerz begleitet sein wird“ (Schiller 2004a: 364). Was Schiller indes nicht schreibt, ist, dass dieser Kampf jeweils mit dem Sieg der Held:innen ausgehen sollte. Für die tragischen Figuren der Klassik ist nicht die Entscheidung zur – und die erfolgreiche Anwendung von – monströser Gewalt wesentlich, sondern der innere Konflikt.

Bereits Nietzsche mokierte einige Generationen nach Schiller, wie in der auf ‚irdische‘ Verhältnisse reduzierten Tragödie der „Held […] zum Gladiator geworden [war], dem man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war, gelegentlich die Freiheit schenkte“ (Nietzsche 1999: 114). Diese Verflachung der Tragödie auf einen Schaukampf ist zweifellos in den meisten ‚heroischen‘ Storys unserer Zeit zu beobachten, die nicht ohne Happy End auskommen könnten. Dass dieses gute Ende – wie für Daenerys Targaryen und Akira Fudo – vorenthalten wird, bleibt eher eine Ausnahme; im Fall Daenerys’ ließe sich sogar sagen, dass bei ihrem Wechsel in die Rolle der Tyrannin diejenige des tragischen Helden vollends auf Jon Snow übergeht, der den Konflikt um das Begehren nach seiner Tante, die Thronfolge und den Weltfrieden nun (auf Kosten Daenerys’ und einer kohärenten Erzählung) mit sich selbst ausmachen muss – und weiterleben darf.

In Devilman und erst recht Devilman Crybaby wird das Tragische hingegen auf eine Weise ausformuliert, die in älteren Gattungen noch nicht denkbar gewesen wäre: Akira leidet und scheitert wie die Held:innen der antiken Tragödie oder des neuzeitlichen Trauerspiels, doch die wahre Tragik entfaltet sich aus dem Scheitern der Geschichte heraus. Jon Snows Leiden ist noch im konventionellen Sinne didaktisch, da er sowohl seine ‚kreatürliche‘ Liebe wie die Anwartschaft auf den Thron für den Frieden opfert.

Akira mag noch so viel opfern – angesichts des apokalyptischen Finales ist es ohne Bedeutung, weil die ‚kreatürliche‘ Genealogie nicht fortgesetzt wird und so für jeglichen moralischen Diskurs die Grundlage fehlt. Das Tragische kommt hier als Kränkung daher, und als Go Nagai in einem Interview 2007 nach einer möglichen politischen Aussage von Devilman gefragt wurde, antwortete er ebenso folgerichtig wie lapidar, dass er mit dem Ende schlichtweg die „menschliche Dummheit“ unterstreichen habe wollen (Porreca 2007).

Politisch ist dies dennoch. Devilman trennt von früheren heroischen Erzählungen die Erfahrung industriellen Massenmords und der potenziellen Auslöschung allen Lebens durch den Nuklearkrieg, der – wie Jacques Derrida 1984 schreibt – „totalen und restlosen Zerstörung des Archivs“, die damit sowohl Literatur wie Geschichte ausradieren würde. In einer dunklen Wendung schließt Derrida, dass der Atomkrieg sich von bisherigen Auseinandersetzungen dadurch unterscheide, dass er letztlich im Namen von etwas stattfinden müsste, das „mehr gilt als das Leben“:

„Aber da es im Namen dessen geschieht, dessen Name – entsprechend dieser Logik totaler Zerstörung – nicht mehr getragen, übertragen, durch etwas Lebendes vererbt werden kann, so wäre dieser Name, im Namen dessen der Krieg stattfände, der Name von nichts […]. Es wäre der erste und der letzte Krieg im Namen des Namens, des alleinigen Namens ‚Namen‘.“ (Derrida 2000: 115f)

Ryo merkt in Devilman Crybaby erst spät, dass er die Welt gewissermaßen im Namen Akira Fudos ausgelöscht hat, doch da verweist der Name „Akira“ längst auf eine Leiche: Ein in der Tat ausgesprochen dummes Missverständnis. Die Frage ist allerdings, welche Rolle das Tragische als erzählerisches Moment in unserer Gegenwart überhaupt noch spielen kann. Nietzsche und Benjamin weisen in ihren Texten zu Tragödie und Trauerspiel zurecht darauf hin, dass beide Gattungen nicht jenseits ihrer historischen Bestimmungen gedacht werden können (Benjamin 1991: 279). Für Nietzsche wurde die Tragödie als mythisches Projekt bereits mit Sokrates unmöglich, weil sie „durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde“; er sieht sie wiederkehren, sobald die Wissenschaft an „ihren Grenzen“ angelangt, der Mensch wieder ins „Unaufhellbare starrt“ und statt der wissenschaftlichen auf die „tragische Erkenntnis“ angewiesen ist, um den metaphysischen Schrecken zu bewältigen (Nietzsche 1999: 111, 101).

Nun hat uns der „dialektische Trieb zum Wissen“ einerseits das Potenzial nuklearer Vernichtung beschert und bewahrt unsere Spezies andererseits nicht davor, im Konsumwahn unsere Lebensgrundlagen zu vernichten: Das Davor des Urknalls oder der Wärmetod des Universums gäben durchaus erschütternde Momente jenseits unserer Wissenshorizonte ab, doch im Augenblick werden sie unweigerlich von der Möglichkeit des Atompilzes oder der Wirklichkeit der nächsten, schlimmeren Hitzewelle überstrahlt.

Als tragischer Stoff scheint das alles in der Populärkultur keine größere Rolle zu spielen – der große, erfolgreiche Film zu den Grenzen des ‚dialektischen Triebs zum Wissen‘ ist dann Don’t Look Up von 2021, eine Satire, in der die Menschheit alles Erdenkliche tut, um die Zerstörung der Erde durch einen Asteroiden nicht zu verhindern. Wie Devilman präsentiert Don’t Look Up den Weltuntergang als katastrophale Dummheit – mit dem Unterschied, dass in Devilman noch die Handlung tragisch ist, während in Don’t Look Up gerade das renitente Nicht-Handeln zur Katastrophe führt; angesichts beliebter passiver Selbstvernichtungsprojekte der Spezies zwischen ‚Durchseuchung‘ und eben der globalen Umweltkrise wohl die zeitgemäßere Erzählung.

Ich möchte dennoch an dieser Stelle zum Atomkrieg zurückkehren. Derrida schreibt, dass dieser „ein auf fabulöse Weise textuelles Phänomen“ sei, weil man davon schließlich „nur sprechen und schreiben kann“, ohne dass er je stattgefunden hätte – als (vorgeblich) wirksame Abschreckung genügt die durch die entsprechenden Arsenale gestützte Fiktion der vollständigen Auslöschung, nach der sich auch das ‚Sprechen und Schreiben‘ erübrigen würde (Derrida 2000: 90). Es ist vielleicht bezeichnend, dass sich diese Logik selbst in die Geschichten einschreibt, die dies – wie Devilman oder andere Anti-Atomkriegs-Storys wie When the Wind Blowskritisieren: Die apokalyptische Warnung vor der nuklearen Eskalation in der speculative fiction sieht schlichtweg genauso aus wie die Drohung der staatlichen Akteur:innen im Wettrüsten; eine zerstörte Welt.

Diese Vorstellung einer vom Ende her gedachten Fiktion – die Fiktion, nach deren Realisierung es nicht einmal mehr Fiktion geben könnte – hat ein ebenso verstörendes Gegenstück, wenn sie von ihrem Anfang her gedacht wird. In The Carrier Bag Theory of Fiction schreibt Ursula K. Le Guin Mitte der 1980er über das Verhältnis von Gewalt und Erzählung. In ihrer eigenen spekulativen Fiktion einer urmenschlichen Gemeinschaft ist es die Jagd, mit der das Geschichtenerzählen und schließlich die Literatur beginnt: „It wasn’t the meat that made the difference. It was the story“, denn der Bericht über den blutigen, tödlichen Kampf mit dem Mammut ist allemal spannender als das Sammeln von Haferkörnern, selbst wenn letzteres eher zum Überleben beiträgt (Le Guin 1986). Der riskante Kampf ist guter Stoff, doch damit wird die Figur des – männlichen – Helden zum Mittelpunkt des Gesprächs und schließlich der ganzen Gemeinschaft. In Devilman Crybaby wird diese Gewaltgeschichte auserzählt: Nachdem der heroische Gewalttäter für seinen Sieg alles aufs Spiel gesetzt hat, bleibt niemand mehr übrig, um sich diese Story anzuhören.

Geschichte vs. Mythos

Le Guin und Derrida betrachten notwendigerweise ahistorische Momente in der Geschichte des Erzählens – das Davor, das Danach. Dies bringt uns über einen Umweg zurück zu dem von Nietzsche und Benjamin aufgeworfenen Problem, inwiefern das Tragische in seinen jeweiligen historischen Zusammenhängen verortet werden muss. Benjamin differenziert dabei zwischen der auf den Mythos verweisenden antiken Tragödie einerseits und dem auf die Geschichte verweisenden Trauerspiel andererseits – zwei Kategorien, die auch für die gegenwärtige Diskussion hilfreich sind, aber vor allem in Bezug auf die Populärkultur einer Klärung bedürfen (Benjamin 1991: 243). Für Nietzsche und Benjamin ist der Mythos grundsätzlich vorhistorisch; für Nietzsche auch grundlegend, wenn er ihn als das „Fundament“ des Staates bezeichnet, das dessen „Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.“ (Nietzsche 1999: 145)

Diese staatstragende oder identitätsstiftende Bedeutung – Nietzsche stellt den Begriff des ‚Mythus‘ entsprechend gerne in Zusammenfang zum ‚Volk‘ – ist derweil so kompromittiert, dass wir uns fragen müssen, welche Rolle sie heute spielen kann. Die in vielerlei Hinsicht erschöpfendste Aufarbeitung dieses Themas in der Populärkultur ist zweifellos Attack on Titan, zwischen 2009 und 2021 als Manga veröffentlicht und seit 2013 als Anime umgesetzt. Monströse „Titanen“, vor denen sich die Menschheit hinter gewaltigen Mauern verschanzt, erweisen sich im Laufe der Story als Biowaffe aus mythischer Vorzeit, und was die Protagonist:innen als den überlebenden Rest der Menschheit ansehen, ist tatsächlich nur der Ethnostate eines zweifelhaften königlichen Geschlechts, das nach zweitausend Jahren titanengestützter Herrschaft besiegt und auf eine Insel verbannt wurde. Den Protagonist:innen innerhalb der Mauern ist zuerst weder der Mythos (der fantastische Ursprung der Verwandlungskraft) noch die Geschichte (der Krieg zwischen den Nationen) bekannt; jenseits der Insel werden „Ymirs Leute“ – benannt nach der mythischen Urmutter, die die titanischen Kräfte ins königliche Geschlecht einbrachte – rassistisch diskriminiert.

Jeder politische Versuch, den Konflikt zu lösen, endet auf der einen oder anderen Seite im Genozid; der gewaltsame Mythos (der tyrannische König Fritz lässt die gemeinsamen Kinder Ymirs zerstückelten Körper essen, damit sie ihre Titanenkräfte erben) setzt sich in der Weltgeschichte als endloser Folge von Racheakten fort. Aber selbst nachdem die Protagonist:innen unter entsprechend tragischen Opfern Ymirs Gabe/Fluch aufheben, herrscht weiterhin Krieg. Mangels Titanen entwickeln die Menschen einfach moderne Waffensysteme, um Geschichte als Gewaltgeschichte fortzuschreiben, bis aus den Ruinen der Welt eventuell ein neuer Mythos erwachsen kann. Das Monströse in Attack on Titan ist so nur eine flache Metapher für historische Gewalt, die Story das Auserzählen von Le Guins Mythos der blutigen Ur-Erzählung als ewigem Zyklus.

Attack on Titan wird als Story indes problematisch, sobald darin reale Geschichte aufgerufen wird. Diese Welt ist zwar eine fiktive, doch ästhetisch an das frühe 20. Jahrhundert angelehnt; Ymirs Leute sind außerhalb ihrer Insel in Ghettos interniert und zum Tragen von Armbinden verpflichtet. Die fantastische Erzählung verunklart jegliche Trennung zwischen historischer Referenz und Mythos, zumal die Rolle des letzteren für unsere Gegenwart selbst alles andere als klar ist. Eine triviale Hypothese (besser gesagt: Ausrede) wäre, dass die Fantastik den Mythos als l‘art pour l’art ersetzt hat, ein freies Spiel der Spekulation, das unterhaltsam und interessant, aber nicht länger vorhistorisch bedeutungsstiftend ist.

Ich möchte das nicht unbedingt widerlegen, sondern ergänzend umformulieren: Heroische Genres sollen uns Geschichte(n) als Mythos verkaufen, in einer Zeit, in der das Historische als Referenz in jegliche Richtung katastrophal scheint – als Verstrickung in die Gräuel der Vergangenheit ebenso wie als unmögliche Verantwortung einer zunehmend dystopischen Zukunft gegenüber. Davon zeugt bereits die manische Ergänzung populärer Franchisen zu selbstreferentiellen Universen, die uns eine möglichst vollständige und durchaus tragische Geschichtserfahrung ohne Konsequenzen bescheren.

Das beste Beispiel hierfür ist Star Wars. Hier entfaltet sich ein mittlerweile substanzieller Teil des Franchise aus einer Bemerkung, die im ersten Film von 1977 noch die Vorgeschichte der Story auf der Leinwand auf zwei an den Protagonisten Luke Skywalker gerichtete Sätze verknappte: „A young Jedi named Darth Vader, who was a pupil of mine until he turned to evil, helped the Empire hunt down and destroy the Jedi Knights. He betrayed and murdered your father.“

Was in der simplen ‚Heldenreise‘ des ersten Star-Wars-Films lediglich ihren mythischen Charakter unterstreicht (Darth Vader als gefallener Ritter), wird später zur Grundlage eines im wahrsten Sinne des Wortes ‚bürgerlichen‘ Trauerspiels. Bereits die Enthüllung im zweiten Film von 1980, dass Darth Vader selbst der Vater sei und der ‚Mord‘ lediglich eine Metapher für den Verrat an den eigenen Idealen, fügt dem eine weitere tragische Ebene hinzu; diese wird in den Prequels und Serien ab 1999 in einen politischen Zusammenhang gestellt, wenn Anakin Skywalkers/Darth Vaders Verrat explizit vor dem Hintergrund einer Krise der repräsentativen Demokratie stattfindet.

Hieran ist vieles interessant. Zum einen wird die Story von Star Wars so rückwirkend entmythologisiert. Gerade in ihren tragischen Dimensionen ist diese eine entgegengesetzte Entwicklung zu beispielsweise Devilman, da die bereits auserzählte Tragödie um Anakin Skywalker spätere Happy Ends keineswegs ausschließt. Zum anderen ist dies alles weiterhin nicht historisch, sondern – wie Attack on Titan – lediglich geschichtsähnlich. So mag Star Wars bisweilen als politische Allegorie lesbar sein (die Anspielungen der Story auf den militärisch-industriellen Komplex und sogenannten ‚War on Terror‘ unter Bush/Cheney sind offensichtlich), doch zugleich bleibt es eine Geschichte über magische Ritter und königliche Geschlechter, die als fantastische Fiktion (auch) andere Funktionen erfüllt als Allegorie auf die Gegenwart.

Im Zweifelsfall neu erzählen

Das unendliche Wachstum der Franchisen mag eine wirtschaftliche Angelegenheit sein, stellt aber mitunter andere, neue Erwartungen ans Erzählen. Dass Spider-Man als Realfilm-Reihe seit 2002 bereits wiederholt – 2012 und 2017 – mit einem neuen Hauptdarsteller ‚rebooted‘ wurde, ist zum einen ein Lizenzproblem (Sony muss alle knapp fünf Jahre einen neuen Film herausbringen, um die Rechte an der Figur zu behalten) und zum anderen einem notwendigen Generationenwechsel geschuldet, wenn der jugendliche Superheld auch auf der Leinwand jugendlich bleiben soll (die drei Spider-Man-Darsteller Tobey Maguire, Andrew Garfield und Tom Holland sind 1975, 1983 bzw. 1996 geboren). Im aktuellen Film, Spider-Man: No Way Home wird diese eher pragmatische Diskontinuität innerhalb der Fiktion historisiert, indem die drei von Sony produzierten Versionen der Spider-Man-Story zu koexistenten, auf parallele Universen verteilten Handlungssträngen erklärt werden.

Diese Historisierung ist jedoch nicht ganz fiktiv, sondern ruft reale Geschichte mittels der Biographien der Zuschauer:innen auf, die die unterschiedlichen Versionen an unterschiedlichen Momenten ihres Lebens gesehen haben und jetzt auch innerhalb des Franchise in ein Kontinuum integrieren können. Interessanterweise sorgen solche Prozesse auch dafür, Populärkultur zum Mythos zu ver(un)klären. Sie rücken populärkulturelle Erzählungen bereits in die Nähe einer oralen Tradition, in der das Ereignis des Wieder-Erzählens wichtiger zu sein scheint als ein autoritativer, kanonischer Text.

Jede neue Version entkräftet den absoluten Wahrheitsanspruch der anderen und bekräftigt zugleich die Zeitlosigkeit des ‚Stoffes‘ selbst. Gerade tragische Origin Stories scheinen sich dafür zu eigenen: Der Tod von Peter Parkers/Spider-Mans Onkel Ben, von dem er das Motto „with great power comes great responsibility“ als heroisches Erweckungserlebnis mitnimmt, wird in der neusten Reihe mit Tom Holland ausgelassen, im dritten Teil No Way Home jedoch im Tod seiner Tante May neu interpretiert; der von Andrew Garfield gespielte ‚mittlere‘ Spider-Man darf in No Way Home hingegen MJ – love interest des aktuellen Spider-Man – auf genau die Weise retten, auf die er seine Freundin Gwen Stacy im eigenen Film nicht vor dem Tod bewahren konnte.

Das Multiverse wird so zu einer mitunter therapeutischen Erfahrung für die Charaktere und das Publikum („Every Time I Cried During Spider-Man: No Way Home“, so der Titel eines Internetartikels zum Film (Switzer 2021)). Vielleicht ließe sich dazu sagen, dass die aktuelle, mythisierende Franchise-Kultur ausgerechnet tragische Kontingenzerfahrung unter Kontrolle zu bringen versucht: Indem sie sie erwartbar, zum tradierten Motiv der Erzählung macht – ohne Onkel Ben/Tante May kein Spider-Man –, sie aber auch zur stetigen Rekontextualisierung freigibt.

Frank Kermode schrieb bereits 1966 in The Sense of an Ending, wie sich das moderne Erzählen eher mit der Krise als dem Abschluss beschäftige: „And we concern ourselves with the conflict between the deterministic pattern any plot suggests, and the freedom of persons within that plot to choose and so to alter the structure of beginning, middle, end“ (Kermode 2000: 30). Heute ist das stete Nachbessern des Geschehens über Raum und Zeit hinweg zur Genrekonvention geworden. Vermutlich spricht daraus ein nachvollziehbarer, wenngleich wenig nachhaltiger Unwille, sich mit Geschichte als verbindlicher Folge zu beschäftigen. In der immens erfolgreichen Avengers-Reihe annihiliert der außerirdische Kriegsfürst Thanos die Hälfte aller Lebewesen im gesamten Universum; wen es trifft, entscheidet der Zufall. Thanos selbst folgt der malthusianischen These, dass Überbevölkerung unweigerlich zum Untergang führe.

Der Tod der fünfzig Prozent ist hier ultimativ kontingent, Thanos’ Entscheidung hingegen zutiefst moralisch begründet, so falsch sie sein mag. Aufgabe der Protagonist:innen ist es, Thanos’ Handlung durch gezielte Eingriffe in die Vergangenheit unmöglich zu machen. Das ist in der Sache gerechtfertigt, geschichtsphilosophisch aber dubios: Das für die gesamte Handlung grundsätzliche Problem der ökologischen Krise, für das Thanos die falsche Lösung fand, wird stillschweigend aus der Rechnung entfernt und Thanos’ Entscheidung so zum eigentlichen Problem.

In No Way Home hingegen steht Peter Parkers inkompetenter Eingriff in die Geschichte am Anfang der Story: Ein Zauberspruch soll die Menschheit Peters Identität als Spider-Man vergessen lassen, doch er fügt dieser kollektiven Amnesie so lange Ausnahmen hinzu, bis der Spruch fehlschlägt und sowohl die Spider-Men aus den anderen Universen wie ihre jeweiligen Widersacher importiert. In Doctor Strange in the Multiverse of Madness schließlich will die tragische Antagonistin Scarlet Witch die Macht erlangen, frei zwischen den Universen zu reisen, da sich in deren Pluralität schließlich für jedes Problem eine Lösung finden lassen würde, und löst damit transuniversales Chaos aus.

Dieses Interesse an der missratenen Entscheidung und der Bewältigung ihrer Folgen ist in der heutigen Gesellschaft naheliegend; schließlich bedeutet bereits der Griff ins Supermarktregal, sich unweigerlich in weltweite Ausbeutungsverhältnisse zu verstricken und zumindest indirekt gegen die eigenen Überzeugungen zu handeln. Schiller kann Ende des 18. Jahrhunderts noch theoretisieren, dass die „ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung ergreift, […] keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, daß recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, daß recht handeln möglich sei“ beruhe – im 21. Jahrhundert bräuchte es für eine solche Vorstellung wohl allzu viel Fantasie (Schiller 2004b: 535).

Gerade das könnte eine naheliegende Aufgabe für spekulative fiction und verwandte Genres sein, doch dem steht zumindest in den ‚großen Erzählungen‘ der Populärkultur ihr Heroismus im Wege. Wie Le Guin schreibt, wird Science-Fiction als eine Mythologie prometheischer Schaffenskraft zumeist auf Triumph oder Tragödie hinauslaufen: Die große Aufgabe wird heroisch bewältigt oder endet in der Katastrophe (Le Guin 1986). Das kann, wie in Attack on Titan oder Devilman, als fatalistische Kritik oder Warnung verstanden werden – auch Thanos’ malthusianischer Eingriff in Avengers ist eine große heroische Geste, Solutionismus auf die fatalste Konsequenz heruntergebrochen. Dennoch spiegelt uns die Populärkultur in diesen Storys weiterhin vor, dass Problemlösungen auf heroisches Handeln, den riskanten Kampf beschränkt seien – was Probleme außen vor lässt, die nur auf andere Weise sinnvoll gelöst werden könnten.

Die unsägliche Phrase „Not all heroes wear capes“ zeigt, wie tief diese Vorstellung kulturell verankert ist. Der wohlmeinende Kommentar, dass auch gewöhnliche Menschen zu mutigem oder lebensrettendem Handeln in der Lage seien, erhebt die heroische Fiktion zur Norm, gegenüber der die Realität zur Ausnahme wird. Das ist bequem: So können in Memes care worker während der Pandemie oder der ukrainische Präsident Selenskyj während der russischen Invasion mit fiktionalen Superheld:innen gleichgesetzt werden, ohne dass der auch uns als Medienkonsument:innen einbeziehende historische Kontext berücksichtigt werden muss. Plump gesagt: Wenn Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen wie Superman sind, wenn Selenskyj wie Captain America ist, brauchen wir uns um die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und Gasimporte oder Waffenlieferungen keine weiteren Gedanken zu machen, da letztlich alles auf einer ästhetischen Ebene geklärt wird.

Welche Bedeutung hat der tragische Mythos also in unserer Gegenwart? Nietzsche und Benjamin sehen darin eine gemeinschafts- und sinnstiftende Praxis, Le Guin zuallererst eine, die dies durch das Spektakel erreicht (Nietzsche würde dem zumindest nicht widersprechen, wenngleich aus anderen Gründen). In den heroischen Franchisen der heutigen Kulturindustrie scheint dies weniger verwässert als vielmehr destilliert. Verweise auf historische Zusammenhänge wie die Nation werden eher als dekorativ aufgerufen, und statt dem ‚Volk‘ erhebt sich aus dem Mythos jetzt das selbstreferentielle Fandom. Dass dieses oftmals mit ebenso chauvinistischen, oft patriarchalen Ansprüchen verteidigt wird, ist dann nicht überraschend. Ob das ein dubioser kultureller Atavismus ist oder eine Praxis, die sich auch ohne Rückgriff auf heroische Gewalt in kommende Gesellschaften übertragen ließe, bleibt vermutlich noch offen. Angesichts der andauernden Krise der Entscheidungsfähigkeit in einer desaströsen Gegenwart wäre es zumindest angebracht, das tragische Motiv in der Populärkultur ernster zu nehmen als nur als Tränengarantie für die nächsten Auffrischung der Franchise-Lizenz.

 

Literatur

Benjamin, Walter (1991): Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928]. In: Ders.: Gesammelte Schriften I.1. Frankfurt am Main, S. 202-430.

Derrida, Jacques (2000): No Apocalypse, not now [1984]. In: Ders.: Apokalypse. Wien, S. 81-117.

Kermode, Frank (2000): The Sense of an Ending [1967]. Oxford.

Le Guin, Ursula K. (1986): The Carrier Bag Theory of Fiction.

Nagai, Go (2018): Devilman [1972].

Nietzsche, Friedrich (1999): Die Geburt der Tragödie [1872]. In: Ders.: Kritische Studienausgabe I. München, S. 9-156.

Porreca, Pierpaolo / Giannini, Saverio / Fidati, Michele (2017): Go Nagai Interview.  [21.6.2022]

Schiller, Friedrich (2004a): Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: Ders.: Sämtliche Werke, Band V. München, S. 358-372.

Schiller, Friedrich (2004b): Über das Pathetische. In: Ders.: Sämtliche Werke, Band V. München, S. 512-537.

Switzer, Erik (2021): Every Time I Cried During Spider-Man: No Way Home. In: TheGamer.com v. 21. Dezember. [21.6.2022]

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