Idiosynkrasien und Expertisen
Anna Seidel
21.6.2022

Eine neue Pop-Anthologie der FAZ

Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele (Hg.): Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Stuttgart: Reclam 2022. 192 Seiten. 15,00 Euro.

Das Inhaltsverzeichnis des Bändchens „Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs“ liest sich wie die Playlist eines extrem heterogenen Mixtapes. Nichts gegen heterogene Mixtapes – einige meiner besten Mixtapes sind extrem heterogen! Und eigentlich verwundert die Vielfalt bei genauer Betrachtung ohnehin überhaupt nicht. Basis für diese „Frankfurter Pop-Anthologie“ sind schließlich die Idiosynkrasien ihrer Autor:innen, also irgendwie popaffinen Menschen, die über für sie irgendwie wichtige Pop-Songs schreiben. Das kann und soll ja quasi alles sein und the artist formerly known as Snoop Doggy Dogg ist dann eben genauso relevant wie Michael Holm oder Yasmine Hamdan oder ganz allgemein vielleicht weniger Diskussionsbedürftiges wie die Beatles – deren Status als relevanter Pop steht wohl kaum zur Debatte. Sie sind  nicht nur die eigentlichen Protagonisten von Annette Humpes Beitrag zu den Rolling Stones. Die Stones sind zwar ihr Schreibanlass, aber eben noch viel ausführlicher erzählt sie von ihrer Liebe zu den Beatles, die man seit neuestem sogar in Liverpool studieren kann (samt Master-Abschluss mit Zeugnis, wirklich wahr.)

Vorbild für das nicht ganz zweihundertseitige und (fast) gar nicht gelbe Reclam-Büchlein ist nicht etwa ein ähnlicher Band mit ähnlicher Grundidee und ähnlichem Untertitel, der 2011 beim Indie-Verlag Orange Press erschienen ist: „Lyrix. Lies mein Lied. 33 1/3 Wahrheiten über deutsche Songtexte“. Auch die „Bamberger Anthologie“, in der mindestens seit 2012 jede Woche ein Song ausführlich im Blog besprochen wird, ist nicht das Vorbild. Nein, die im Vorwort durch die beiden Herausgeber Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele erläuterte Genese des Projekts erzählt sich anders: Vorbild für diese „Pop-Anthologie“, die dann zunächst seit 2016 alle zwei Wochen online bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen ist, ist die bereits in den 1970er-Jahren von Marcel Reich-Ranicki angeregte „Frankfurter Anthologie“, in der wöchentlich Lyrik interpretiert wird.

Von der Lyrik ist es zu den Lyrics nicht weit, argumentieren auch Ebbinghaus und Wiele. Statt aber nun das Wissen um die Gattungsgenese aus dem ersten Semester des Germanistik-Studiums nochmal hervorzukramen und die Lyrik als vom schon in der griechischen Antike zum Saiteninstrument Lyra gesungenes Lied herkommend und nun im Pop eben wieder in der Songform aufgehend zu beschreiben, überspringen sie all das. Sie landen direkt im 20. Jahrhundert und in der gespielten Verwunderung: Bürgerliches Feuilleton und Affirmation von Pop – wie geht das eigentlich zusammen? Als die Beatles in den 1960er-Jahren ihre Saiteninstrumente (und Pilz-Ponys) zupften, ging das jedenfalls noch nicht: „1964 war noch angesichts der ‚Beatlemania‘ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) von einer ‚landesweiten Mistkäferplage‘ die Rede“, heißt es entsprechend selbsthistorisierend-anekdotisch im Vorwort.

Eine Fiedler-Debatte und diverse Diederichsen-Lektüren später geht es dann eben doch: Grenzen werden überquert, Gräben geschlossen und endlich gibt es sie auch in der F.A.Z., eine „Popkritik […], die ihren Gegenstand ernst nimmt“. Ganz ohne Klopstock, Wittgenstein und Proust geht es dann aber in den mal bloß zwei Seiten umfassenden, mal gefühlt seminararbeitslangen Texten oft doch nicht. Schließlich ist das bürgerliche Feuilleton nicht nur bemüht, Pop ernst zu nehmen – es nimmt auch sich selbst und seinen eigenen Kanon ernst und zwar bis zur dezidierten Unpoppigkeit: „Will man Zusammenhänge begrifflicher Art verstehen, ist es stets hilfreich, im Grimmschen Wörterbuch nachzuschauen“, so Rose-Maria Gropp in ihren Ausführungen zu Leonard Cohens „Hallelujah“. Das Lyrik-Proseminar, auf das die Herausgeber im Vorwort noch verzichtet hatten, wird dann übrigens im Verlauf der Anthologie von Jürgen Kaube (fast) in Vollendung nachgereicht, als er nicht so richtig über Miley Cyrus‘ „Wrecking Ball“ schreibt, aber eben über die Lyrik, ihre Ursprünge, Rilke, Dichter, die mit Jazzbands touren und vielerlei mehr, quasi exklusive der schreibanlassgebenden Pop-Frau, deren silberne, goldene und Platin-Auszeichnungen einen eigenen Wikipedia-Eintrag haben. „I came in like a wrecking ball“ – den Ohrwurm hat der Pop-Fan vor, während und nach der Lektüre freilich trotzdem.

Wer Grenzen überqueren und Gräben schließen will, kommt wohl ohnehin am besten von beiden Seiten. Auf der einen Seite steht dann der Kanon und die Miley Cyrus-Verweigerung, auf der anderen Seite Joachim Bessing mit Michael Holm. Dessen Pop-Satisfaktionsfähigkeit dürfte spätestens mit (King) Rocko Schamonis Cover von „Mendocino“ (1990) belegt sein. Davon erzählt auch Bessing, dessen Pop-Credibility seit einem denkwürdigen und gut dokumentierten Aufeinandertreffen mir vier weiteren Pop-Autoren im Hotel Adlon Ende der 1990er-Jahre wiederum nicht wirklich zur Diskussion stehen dürfte. Bessing jedenfalls schreibt über Holm und eigentlich müsste man die Augenbraue heben. Aber der eher unterkomplexe „das ist doch wohl Schlager und kein Pop“-Reflex wird direkt ausgetrieben, weil die Story einfach so gut ist.

Bessing beschreibt, wie mal Jochen Distelmeyer, Kopf der Hamburger Schule-Band Blumfeld, in eine Bar, „die hieß Zum Sorgenbrecher“, hineinkam und von seinem Michael-Holm-Pop-Erweckungserlebnis berichtete, das dann wiederum in der Ableitung zu einem Erweckungserlebnis für den Autoren wurde: „Das erste Mal, mit 25, hörte ich ‚Smog in Frankfurt‘ also von ihm [Jochen Distelmeyer; AS].“ Bessings kurzer Text über einen Song, der wohl ansonsten eher selten in Besten- oder Lieblingslisten auftauchen dürfte, ist ein Beleg dafür, dass ‚Pop ernst nehmen‘ eben auch etwas ganz anderes bedeuten kann, als ihn mit bildungsbürgerlichem Ballast zu überfrachten. Pop ‚getten‘ in seiner Sexyness und seiner Wittyness und seiner Coolness und ihn überhaupt als ein Spektakel zu begreifen, das eine:n drankriegen kann – das funktioniert wahrscheinlich eher nicht mit einem Wörterbuch in der Hand, sondern in einem der typischen „Absturzlöcher“ , in denen man sich eben befindet, wenn man schwärmt und sich umwerfen lässt. Pop ernst nehmen bedeutet auch in the know sein, was Szenezusammenhänge, konkrete Hörerlebnisse, wie auch immer gearteten Rausch angeht. „Pathos und Pop und Poesie[] war die Zukunft.“

Idiosynkrasien und Expertisen gehen oft zusammen in den 33 Texten im Band, etwa bei bereits erwähnter Annette Humpe, die ja nicht nur als Fan spricht, nicht bloß als fachkundige Rock-Exegetin, sondern eben auch als Musikerin, deren bereits erwähnter Text über die Rolling Stones (und die Beatles) dann in Nachbarschaft steht zu einem über Ideal, also einem ihrer eigenen Projekte.

„Ich steh auf Berlin“ kann Humpe 1980 längst auf Deutsch singen, ohne dass es irgendwie schlageresk oder verkrampft wirkt. Die Autor:innen des Textes zum Song, Dirk von Petersdorff und Christiane Wiesenfeldt, hatten an anderer Stelle im Buch nochmal erklärt, wie Udo Lindenberg (andere sagen an anderer Stelle: Ton Steine Scherben) das mit dem Pop auf Deutsch einst quasi etabliert hatte. Lindenberg wollte die „eiermilchlegende Wollmilchsau […]: klare Strukturen, aber nicht zu simpel, internationaler Stil, aber deutscher Text, mitteilsam aber nicht geschwätzig.“ Für die Rezeption bedeutete das eine Hürde weniger: „Seine Lieder sollten zum Mitsingen sein“.

Dass dieses Mitsingen bisweilen Wildes hervorbringen kann, schreibt Jens Buchholz in seinem Beitrag nochmal auf. Das Stichwort lautet‚Smurfing‘, „das telepathische Volapük der Popfans“ – man versteht eben, was man will oder kann, nicht zwingend, was auch wirklich gesungen wird. „Wie viele Menschen haben aus Falcos ‚Dra di net um‘ ein ‚Da didel dumm‘ gemacht?“ Alphaville aus Münster sind dann in seinem Text eben nicht nur „forever young“, sondern irgendwie auch für immer ‚schlumpfig‘. Popbegeisterte  Leser:innen haben mindestens eine Idee davon, was das heißt (oder heißen könnte). In diesen Reflexionen zur Pop-Sprache fällt natürlich auch ein Tocotronic-Zitat, was in diesem Zusammenhang geradezu obligatorisch ist: „Über Sex kann man nur auf Englisch singen“.

Mit dem Schreiben wiederum darüber – Sex besungen auf Englisch – ist es dann auch so eine Sache. Manche Slang-Spielerei wird unangenehm entpoppt dank der Übertragung ins Deutsche durch die Autor:innen der Anthologie-Texte. Wenn etwa Julia Bähr über Frank Zappas „Bobby Brown“ schreibt und die „golden shower“ erklärt, ist das schon ein wenig unangenehm – anders als der Song selbst, der ja rauf und runter gespielt wird. So auch der Aufhänger, es sei „die Ironie der Musikgeschichte, dass ein Lied mit einem derart anstößigen Text von allen europäischen und skandinavischen Radiosendern unbekümmert gespielt wurde und bis heute wird.“  Diese Übersetzungshilfen sind also vielleicht nötig. Warum Skandinavien hier allerdings von Europa abgetrennt wird? Mit der schwedischen Band ABBA hat es wohl nichts zu tun, die übrigens auch besprochen wird. Mit der „gewisse[n] Claydermanhaftigkeit“ hat sie den wildesten Neologismus im Band abbekommen, der an anderer Stelle wohl als ideale Gentleman-Beleidigung durchgehen könnte.

Am Ende bleiben einige Fragen offen. Passen all die Songs überhaupt auf ein Mixtape? Oder muss es doch eine Playlist sein? Ist es eigentlich schlimm, dass niemand über Bob Dylan schreiben wollte in fünf Jahren „Frankfurter Pop-Anthologie“? (Reclam hat zu ihm ja eh einiges im Programm). Warum Christina Dongowski lieber über Kate Bushs „Wuthering Heights“ geschrieben hat als über „Hounds of Love“ ist noch so eine Frage! Vielleicht hat es wieder was mit dem Kanon zu tun. In jedem Fall ist das aber wohl die beste Gesprächsgrundlage für einen Abend in einem der Bessing’schen „Absturzlöcher“.

 

 

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