Das Album »Die Gruppe Ja, Panik« als Standortbestimmung von Pop-Musik im pandemischen Zeitalter
Als ob sie es geahnt hätte, singt die Gruppe Ja, Panik bereits auf ihrem Album „Libertatia“ (2014) davon, dass sie „Gästelistenplätze für das allerletzte aller Feste“ hat. Es verwundert von daher nicht, dass ihr am 30. April 2021 veröffentlichtes Album „Die Gruppe Ja, Panik“ die erste intensive Auseinandersetzung in der deutschsprachigen Pop-Musik mit derjenigen Krise darstellt, die dem Feiern von Festen ein abruptes Ende bereitet, der Corona-Pandemie. Während zwar unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie etliche einzelne Songs von verschiedenen deutschsprachigen Musiker:innen zu dem Thema erscheinen – eine erste Inventur nimmt Michael Fischer auf dieser Website pop-zeitschrift.de hier im Beitrag „‚Wichsen und Musik sind die beste Medizin‘“ vor (vgl. Fischer 2020) –, widmet Ja, Panik mit dem Abstand knapp eines Jahres der Corona-Thematik ein ganzes Album.
In mehreren Interviews hat der Sänger und Texter der Gruppe, Andreas Spechtl, darauf verwiesen, dass das Album nur bedingt als eine Auseinandersetzung mit Corona verstanden werden könnte, da ein Großteil der Songs bereits vor Beginn der Krise entstanden sei (vgl. Gerhardt 2021b). Allerdings führt diese Bemerkung nur das vor Augen, was sowohl etliche zeitgenössische Diagnosen zur Corona-Krise als auch das Album konstatieren: nämlich dass sich in ihr wie in einem Brennglas – eine in diesem Zusammenhang immer wieder aufgegriffene Wendung (vgl. Thießen 2021: 10) – gegenwärtige Probleme verdichten, die durch die Krise mit voller Wucht zum Ausbruch kommen. Spechtls Hinweis auf den der Krise vorausgehenden Entstehungsprozess lässt sich also als zusätzliche Beglaubigung des auf dem Album vorgeführten Programms verstehen. Das Album „Die Gruppe Ja, Panik“ verknüpft gegenwärtige Pop-Diskurse mit der Pandemie. Hierbei greift es auf Mark Fishers Konzept der hauntology zurück und zeigt, dass dieses auf gespenstische Weise eigentlich schon immer von der Pandemie gesprochen hat.
1. Der Sound der Pandemie
Das Album „Die Gruppe Ja, Panik“ beginnt mit undefinierbaren Geräuschen, die an rhythmischen Fabriklärm erinnern. Bevor der Gesang einsetzt, werden diese von einem in seiner Tonalität unbestimmten drone abgelöst. Damit unterscheidet sich das Album bereits von Beginn an von seinen Vorgängern. Denn während Ja, Panik bis dahin musikalisch in der Tradition des Indie-Rock der 2000er Jahre stand, bestimmen das Album nun elektronische Klänge, begleitet von einem ständigen Knistern, Rauschen und Fiepen sowie einem mit kräftigem Hall unterlegten Schlagzeug. Durchschnitten wird diese Klangkulisse gelegentlich von einem gespenstischen Saxophon.
Mit dieser Klangkulisse nähert sich das Album der von Mark Fisher vertretenen Spielart der hauntology an. Fisher übernimmt diesen Begriff aus Jacques Derridas „Spectres de Marx“ und verwendet ihn unter anderem, um die Pop-Musik ab den 2000er Jahren zu charakterisieren. An die von Simon Reynolds in „Retromania“ erstellte Diagnose anknüpfend stellt Fisher für die Pop-Musik dieser Zeit einen Mangel an Innovationen und eine Wiederholung bereits bewährter Musikstile fest. Auf dieses Gefangensein in einer Wiederholungsschleife, so Fisher, weisen die hauntologischen Klänge hin. Sie zeichnen sich durch das Geräusch aus, das veraltete Speichermedien von sich geben.
Als „principal sonic signature of hauntology“ (Fisher 2014: 21) bezeichnet Fisher etwa das Knistern einer über Vinyl fahrenden Nadel. Zu der Kategorie der hauntologischen Klänge sind auch die von Fisher an anderer Stelle erwähnten „acousmatic sounds“ zu zählen, denen er eine „intrinsically eerie dimension“ (Fischer 2016: 81) zuschreibt. Hiermit meint er Geräusche, die von einer sichtbaren Quelle losgelöst sind und bei denen nicht eindeutig auszumachen ist, ob sie nun auf eine menschliche Stimme, ein Tier oder eine durch den Wind verursachte auditive Halluzination zurückzuführen sind (vgl. Fisher 2016: 81).
Ja, Panik setzt sich vor allem auf dem bereits erwähnten Album „Libertatia“ mit Fishers Konzept der hauntology auseinander. Der Einfluss der Gesellschaftsdiagnosen Fishers, so stellt Anna Seidel in ihrem Buch zu Manifesten im Diskurspop fest, beschränkt sich dort aber lediglich auf die inhaltliche Ebene, wohingegen „sich musikalisch […] kaum hauntologische Spuren finden [lassen]“ (Seidel 2022: 206). Dies ändert sich nun mit dem jüngsten Album. Bereits der Fabriklärm, der das Album eröffnet, hat etwas Gespenstisches. Er vermischt die Grenze zwischen Mensch und Maschine – erinnert die gleichmäßige Rhythmik doch an das schwere Atmen eines Lebewesens.
Auf dem Song „1998“ hingegen, in dem die Stimme beschreibt, wie sie das erste Mal das Internet benutzt, sind gegen Ende Funkgeräusche zu hören, die an das alte Medium des Radios oder das Einwählen in das Internet mithilfe eines Modems erinnern. Schließlich kommt dem immer wieder eingesetzten Saxophon eine hauntologische Qualität zu. Dass das Saxophon die Signatur des Albums prägt, erscheint bereits aufgrund der hybriden Materialität des Instruments stimmig. Obgleich es dem Anschein nach ein Blechblasinstrument ist, wird es in der Instrumentenkunde aufgrund seiner Tonerzeugung – dem aus Holz bestehenden Rohrblatt – den Holzblasinstrumenten zugeordnet (vgl. Cottrell 2021: 7). Auf diesen Hybridcharakter verweist auch Adorno in seinem notorischen Text „Über Jazz“, wenn er auf die Klangfarbe des Saxophons zu sprechen kommt. Diese zeichne sich durch eine Zweideutigkeit aus, die sich unter anderem im „bisexuellen Charakter des Saxophons“ (Adorno 2003: 106) niederschlage, da das Instrument zwischen den Geschlechtergrenzen changiere. Des Weiteren hebe es die Unterscheidung zwischen der menschlichen Stimme und dem Ton eines Instruments auf, weshalb Adorno auch vom „anthropoiden Charakter des Saxophons“ (Adorno 2003: 106) schreibt.
Dass Ja, Panik nun ausgerechnet auf dem Album „Die Gruppe Ja, Panik“ Fishers Konzept der hauntology auch musikalisch einlöst, hängt eng mit der Pandemie zusammen. Fishers Beschreibungen des Hauntologischen wirken in der Retrospektive bereits wie eine Vorwegnahme der pandemischen Situation. So etwa, wenn er in „The Weird and the Eerie“ – dessen Titel in dem Song „1998“ des Albums „Die Gruppe Ja, Panik“ zitiert wird (vgl. Ja, Panik 2021e) – eine Unterkategorie des Hauntologischen, the eerie, als „failure of presence“ (Fisher 2016: 61; Kursivierung im Original) definiert.
Als Beispiel nennt er unter anderem verlassene Bauwerke (vgl. Fisher 2016: 62). Der Anblick ehemals belebter Orte war vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie omnipräsent. Dies bebildert etwa das Musikvideo zum Corona-Song „Hoffnung“ der Band Tocotronic (vgl. Tocotronic 2020). Das Hauntologische im Sinne Fishers eignet sich aber auch deshalb zur Beschreibung der pandemischen Situation, weil sie ebenfalls durch ein eigentümliches Dazwischen und eine Wiederkehr der Vergangenheit geprägt ist. So hat sich mit dem Beginn der Corona-Pandemie die von Byung-Chul Han 2010 getätigte Feststellung, dass die Menschheit das Zeitalter der Infektionskrankheiten überwunden und folglich das „immunologische Paradigma“ (Han 2010: 11) an Gültigkeit verloren habe, als voreilig erwiesen.
Den Darstellungen Malte Thießens zufolge war dieses verbreitete Denken dafür verantwortlich, dass das Virus zu Beginn der Pandemie nicht als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die aufgrund dieser Einschätzung zunächst unterlassenen Maßnahmen hätten deshalb zusätzlich zur raschen Ausbreitung des Virus beigetragen (vgl. Thießen 2021: 21-23). Mit der Corona-Pandemie kehrte also eine als überwunden geglaubte Vergangenheit der Infektionskrankheiten zurück – oder, wie es im Song „Apocalypse or Revolution“ heißt: „itʼs the past that will return / from the future this time“ (Ja, Panik 2021i). Die Rückkehr einer vorgeblich überwundenen Vergangenheit evozieren auch historische Darstellungen von Seuchen, die nach Ausbruch der Corona-Pandemie erschienen sind. So lässt etwa Davina Höll im Auftakt ihrer während der Pandemie erschienenen Arbeit zur Cholera den zeitlichen Bezug des dort beschriebenen Seuchengeschehens im Unklaren, sodass das 19. Jahrhundert eine gespenstische Präsenz in der Gegenwart erhält (vgl. Höll 2021: 1).
Das Album „Die Gruppe Ja, Panik“ stellt insofern eine produktive Auseinandersetzung mit dem Konzept des Hauntologischen von Mark Fisher dar, als es dieses auf die Corona-Pandemie anwendet und somit um eine weitere Bedeutungsnuance erweitert. Dies gilt insbesondere für die bereits beschriebene Klangkulisse. So verweisen die auf dem Album eingesetzten Geräusche, welche die Trennung zwischen Mensch und Maschine aufheben, darauf, dass der Mensch während der Pandemie ein inniges Verhältnis mit Computern eingeht – werden doch zur Einhaltung der Hygieneregeln in umfassendem Maße die bereits bestehenden digitalen Infrastrukturen verwendet.
Der Einsatz des Saxophons erhält vor dem Hintergrund der Pandemie eine zusätzliche Bedeutung. Historisch löst sich das Saxophon zunehmend aus dem Kontext des Orchesters heraus und setzt sich als exemplarisches Solo-Instrument durch (vgl. Cottrell 2021). Dies gilt dann vor allem im Jazz, für den das Saxophon paradigmatisch einsteht (vgl. Adorno 2003: 75f.). Auf die Qualität des Saxophons als Soloinstrument mag zurückzuführen sein, dass sein Klang oft das vereinzelte Subjekt signifiziert, wie es sich etwa in dem Topos des einsamen, mitten in der Nacht spielenden Saxophonisten findet, dessen Töne durch die verlassenen Straßen einer urbanen Landschaft getragen werden. Die Vereinzelung der Saxophonspielerin wird während der Pandemie dann zum Gebot, denn neben Chören sind vor allem Blasinstrumente wegen ihres erhöhten Aerosol-Ausstoßes ein Tabu (vgl. Deutscher Musikrat 2022).
Der diffuse Klang des Albums findet nun auch ein Äquivalent in dessen Texten. Während Moritz Baßler in einer Bestandsaufnahme zum „neuesten deutschen Pop-Song 2014“ unter anderem mit Bezug auf Ja, Panik den Vorwurf formuliert, dass die Verwendung „allzu konkreter Vokabeln und Sachzusammenhänge […] verhinder[t] […], dass es zu konkreten Problemanalysen oder Diagnosen kommt“ (Baßler 2019: 320), hat die von ihm beschriebene Unklarheit auf dem Album „Die Gruppe Ja, Panik“ nun programmatischen Charakter. Durch die Wiederholung bestimmter Leitthemen flechten die Texte ein dichtes Beziehungsgewebe, wobei die jeweiligen Aussagen unterschiedliche Kontexte aufrufen. Aufgrund dieser Mehrdeutigkeit erhalten die einzelnen Textzeilen einen gespenstischen Charakter. Dieses Verfahren zielt nicht mehr darauf ab, sich einer Diagnose zu verweigern, sondern ist vielmehr Teil der Diagnose, stellt die Pandemie doch bereits Bekanntes in einen neuen Blickwinkel.
2. Den Riss deklinieren
In einer Rezension zu dem vorab veröffentlichten finalen Song des Albums, „Apocalypse or Revolution“, bemerkt Daniel Gerhardt, dass sich Ja, Panik nicht mehr wie gewohnt an Thomas Bernhard zu orientieren scheinen, sondern am „Sound des Vormärzautors und Revolutionärs Georg Büchner“ (Gerhardt 2021a). Die Gründe für diese Beobachtung lässt Gerhardt zwar im Vagen – der Befund mag jedoch darauf zurückzuführen sein, dass das Album wiederholt den Satz aus Büchners „Lenz“ variiert, dem zufolge die „Welt […] einen ungeheuern Riss“ (Büchner 1994: 246) hatte. Dass Ja, Panik auf ihrem Album, das sich der Corona-Pandemie widmet, die Rede von einem die Welt durchziehenden Riss aufgreift, ist stimmig, denn in der zeitgenössischen Wahrnehmung wurde die Pandemie als ein Bruch empfunden, der die Zeit in ein Vor und ein Nach der Pandemie einteilt.
Ursache für diesen Riss, so deutet die Stimme auf dem ersten Song des Albums, „Enter. Exit“, an, sei der Besuch eines unheimlichen Gasts gewesen. Wie es für Seuchenerzählungen topisch ist, wird die Pandemie also als Gespenst chiffriert (vgl. Höll 2021: 52-59). Effekt dieses unheimlichen Gasts ist es, dass die Stimme durch dessen Präsenz den Bereich der Sprache betritt: „enter language“ (Ja, Panik 2021a). Hierbei handelt es sich weniger um ein freiwilliges Verhältnis als um eines der Abhängigkeit. Die Stimme bemerkt: „a hostage to language / das ist mein los / eine geisel bloß“ (Ja, Panik 2021a). Die Angewiesenheit auf die Sprache wird im Verlauf des Albums immer wieder thematisiert. Die Verschriftlichung soll es der Stimme ermöglichen, innerhalb der einförmigen Tage eine Differenz herzustellen. So heißt es im Song „Gift“: „willst du dich erinnern / schreib es besser auf / der morgen er kommt schnell / und vergessen tut er auch“ (Ja, Panik 2021b).
Die einseitige Angewiesenheit auf die Verschriftlichung treibt nun auch durch das Subjekt einen Riss. So heißt es dem Song „On Livestream“: „ja der riss der welt geht auch durch mich“ (Ja, Panik 2021d). Im Eröffnungssong macht sich dieser Riss dadurch bemerkbar, dass sich die Stimme als „kopf ohne körper“ (Ja, Panik 2021a) erfährt. Dieser Befund lässt vor allem auf einem Pop-Musik-Album aufhorchen, ist doch die Affizierung des Körpers durch die Musik ein wesentlicher Bestandteil von Pop. Vor dem Hintergrund des Werks von Ja, Panik ist diese Diagnose vielsagend. So zeichnete sich das Vorgänger-Album „Libertatia“ durch den Ansatz aus, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
Hierfür bediente es sich etlicher Referenzen, die auf den Körper betonende Tanzmusik der 1970er Jahre verweisen, wie etwa Funk oder Disco (vgl. Jürgensen 2019: 234f.). Dieser Art von Musik wird mit Ausbruch der Pandemie jegliche Grundlage entzogen, da sie für einen Abbruch dieser kollektiven, den Körper in das Zentrum stellenden Musikformen sorgte. Von heute auf morgen mussten sämtliche Clubs schließen. Die Pandemie verstärkte damit erneut nur eine weitere Tendenz, zumindest wenn man der Diagnose Simon Reynolds Glauben schenkt, der 2019 in einem Beitrag auf „Pitchfork“ die gegenwärtige elektronische Musik aufgrund ihrer ausgeprägten Zerebralität kritisierte. Zum Tanzen eigne sich diese Musik nur noch wenig (vgl. Reynolds 2019).
Der auf dem Album „Die Gruppe Ja, Panik“ immer wieder besungene Riss betrifft noch einen weiteren Bereich. In dem Song „1998“ greift die Stimme den Riss erneut auf, wenn sie davon berichtet, wie sie sich im titelgebenden Jahr das erste Mal ins Internet einwählt. Ihre Versuche umschreibt sie mit den Worten: „there was a crack in the world / and I tried to slip in“ (Ja, Panik 2021e). Das Aufkommen des Internets wird somit ebenfalls als ein Riss wahrgenommen, weil es eine weitere Realität einführt. Es ist diese zweite Realität, die mit der Corona-Pandemie an immenser Bedeutung gewinnt. Aufgrund der geltenden Kontaktbeschränkungen wurden etliche alltägliche Interaktionsformen in den digitalen Raum ausgelagert. Dieser „verdopplung der welt“ (Ja, Panik 2021i) trägt die Stimme zu Beginn des Albums auf dem Song „Enter. Exit“ Rechnung, wenn sie singt: „weil unter der welt eine welt ist / und dazwischen auch / nur oben auf / da ist die hölle / da ist das stottern der stille / da ist das loch in der zeit“ (Ja, Panik 2021a).
Während die Stimme mit Bemerkungen wie „draußen nichts“ oder „leer sind die häuser / die straßen auch / wo sind denn alle / wenn ich sie mal brauch“ (Ja, Panik 2021b) also wiederholt von der Verödung der Welt berichtet, befasst sie sich zugleich mit der Welt des Digitalen. Dies lässt sich etwa am Song „Memory Machine“ nachvollziehen. Im Refrain skandiert die Stimme das Gebot „keep it clean from yourself“ (Ja, Panik 2021c), dessen Bezug zu den Hygiene-Vorschriften auf der Hand liegt. Die einzelnen Strophen zählen hingegen diejenigen Dinge auf, die es von sich reinzuhalten gilt. Hierzu gehören Dinge, die sich der taktilen Berührung entziehen – „alles was du nie berührt hast“ und „alles was angst hat / dass du es anfasst“ –, für deren Beschreibung auf die Sprache der Romantik zurückgegriffen wird – „alles was schläft in der welt“ und „alles was still ist und heimlich“ – und die sich generell dem Subjekt entziehen: „alles das dir nicht gehören will“ (Ja, Panik 2021c).
Gemeinsam ist diesen Beschreibungen, dass sie auf die Kategorie des Unverfügbaren verweisen. Den Begriff des Unverfügbaren führt der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Resonanz“ ein. Im Gegensatz zur bloßen Beherrschung und Verfügbarmachung der Welt ist für die Erfahrung der Resonanz als gelingende Weltbeziehung das Moment des Unverfügbaren konstitutiv. Die Resonanzerfahrung, so schreibt Rosa, setzt „nicht nur voraus, dass beide Pole der Beziehung mit eigener (und oft irritierender) Stimme sprechen, also nicht beliebig manipulierbar sind, sondern sie sind konstitutiv auch dadurch charakterisiert, dass die Antwort auch ausbleiben, dass die Stimme nicht ertönen kann“ (Rosa 2016: 295; Kursivierung im Original). Hartmut Rosa greift das Konzept des Unverfügbaren erneut im Zusammenhang mit Corona auf. Ein gemeinsam mit Bettina Hollstein verfasster Artikel vertritt die These, dass die Pandemie einen Einbruch des Unverfügbaren bedeutet habe, da sich das Virus dem Zugriff der Gesellschaft entziehe. Eine Reaktion auf die Pandemie bestehe folglich in „dem Versuch, Verfügbarkeit mit allen Mitteln wiederherzustellen“ und so „die Kontrolle zurückzugewinnen“ (Hollstein/Rosa 2020: 27).
Das Ausweichen auf den digitalen Raum während der Pandemie lässt sich nun ebenfalls als Teil dieser Strategie begreifen. Denn dadurch lassen sich Kontingenzen ausschließen, die sich in der persönlichen Interaktion ergeben und die zu einer Verbreitung des Virus beitragen können. Die im Ja, Panik-Song titelgebende Memory Machine ist dann auch ein Mittel, um das Gebot der Reinheit aufrechtzuerhalten. Während das Unverfügbare dort nur noch als Traum – „just a dream nothing else“ – herumgeistert, löst die Memory Machine das Gebot der Reinheit ein: „keep it clean / in the memory machine“ (Ja, Panik 2021c). Die Memory Machine erfüllt damit eine der Schrift analoge Funktion. Wie es ihr Name andeutet, dient sie ebenfalls der Erinnerung, indem sie diese speichert. Dadurch stiftet sie eine Differenz, die auch die Stimme betrifft. Dies deutet der Song „On Livestream“ an: Auf die bereits zitierte Zeile „ja der riss der welt geht auch durch mich“ folgt der Zusatz: „durch meine device / durch mein gesicht“ (Ja, Panik 2021d).
Der von Hollstein und Rosa während der Corona-Pandemie beobachtete Versuch, die Verfügbarkeit wiederherzustellen, erfolgt also mit digitalen Mitteln. Aus deren Einsatz, so beschreiben es Ja, Panik auf ihrem Album, resultiert nun eine Allverfügbarkeit. In dem Song „On Livestream“ heißt es: „doch irgendwer ist da immer / allein bist du nie / ein anderer schwindler / ein anderer screen“ (Ja, Panik 2021d). Effekt dieser Allverfügbarkeit ist die das ganze Album hindurch besungene Müdigkeit.
Damit veranschaulicht das Album Diagnosen zum Spätkapitalismus, wie sie etwa Byung-Chul Han in „Müdigkeitsgesellschaft“ darlegt. Ihm zufolge zeichnet sich die gegenwärtige Leistungsgesellschaft durch ein „Übermaß an Positivität“ aus, die „sich auch als Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen [äußert]“ (Han 2010: 26). Kehrseite dieser erforderten „Hyperaufmerksamkeit“ (Han 2010: 28) sei eine allgemeine Erschöpfung. Die auf dem Album „Die Gruppe Ja, Panik“ besungene Müdigkeit scheint ebenfalls das Resultat aus einem nicht abbrechenden Strom von Informationen zu sein. So wird die gegenwärtige Situation als „ewige[s] drama“, als „fade[r] exzess“ (Ja, Panik 2021b) beschrieben. Der Schlaf wird hingegen durch das niemals erlöschende Licht erschwert. Gegen Ende des Songs „Gift“ berichtet die Stimme: „I fall asleep late these days / well / I would not care / if just the morning light / was not so bright / to my sleep deprived eyes“ (Ja, Panik 2021b). Im finalen Song „Apocalypse or Revolution“ wird dann dreimal wiederholt: „wenn du wartest auf die nacht / aber das licht niemals erlischt“ (Ja, Panik 2021i).
Das Album „Die Gruppe Ja, Panik“ zeugt somit von einer Ernüchterung, die sich während der Corona-Pandemie angesichts der spürbar werdenden Angewiesenheit auf das Digitale ausbreitet. Mit der Pandemie wird endgültig ersichtlich, dass die – wie Philipp Staab ein Jahr vor Ausbruch der Pandemie schreibt – anfangs an das Internet gebundenen Utopien von „Dezentralität“ und „Herrschaftsfreiheit […] bereits ab den 2010er Jahren wie aus der Welt gefallen [erschienen]“, da das Internet „nicht nur durch und durch kommerzialisiert war, sondern auch von einer sehr kleinen Zahl sehr großer Unternehmen dominiert wurde“ (Staab 2019: 9). Es ist nun diese kleine Zahl großer Unternehmen, die von der Pandemie zusätzlich profitiert (vgl. Seemann 2021: 289). Die Pandemie macht das Umschlagen des Digitalen in den Hyperkapitalismus offensichtlich. Resigniert stellt der Song „The Cure“ fest: „the only cure from capitalism / is more capitalism“ (Ja, Panik 2021f). Dass es sich hier nicht mehr um einen möglichen Ausweg aus dem Kapitalismus durch die Steigerung der ihm eingeschriebenen Gegensätze in der Tradition von Marx und Engels handelt (vgl. Marx/Engels 1990), sondern um einen kapitalistischen Realismus im Sinne Mark Fishers (vgl. Fisher 2008: 1-11), macht der nüchterne Zusatz deutlich: „and thatʼs the real capitalism“ (Ja, Panik 2021f).
Die mit dem Digitalen einhergehenden Kulturtechniken haben auf dem Album also ihr einst emanzipatorisches und befreiendes Potential verloren. Der Song „The Zing of Silence“ stellt eine Nivellierung aller Gegenstände durch deren Aufbereitung in Form von Daten fest: „all things / are made of the same thing / which is a no thing / which is a nothing“ (Ja, Panik 2021h). Zudem wird die Zurückgeworfenheit des Subjekts auf sich selbst beklagt. So bemerkt der Song „Gift“, dass die in der Spätmoderne einsetzende Vereinzelung des Subjekts durch die Pandemie und die Angewiesenheit auf den Raum des Digitalen verstärkt wird. „jeder mensch“ ist „ein eigener rhythmus / jeder körper / ein eigenes gift“ (Ja, Panik 2021b).
Im finalen Song fühlt sich das Subjekt dann auch „wie ein tschick / der sich von selber raucht“, wohingegen die Verbindung zu einem Kollektiv schmerzlich vermisst wird: „wie ein ich das plötzlich wir schreit / und ein wir das jetzt ein ich braucht“ (Ja, Panik 2021i). Zudem wird ein Scheitern der für das Digitale typischen kreativen Verfahren konstatiert. Diese hat Felix Stalder in „Kultur der Digitalität“ auf den Begriff der Referentialität gebracht. Demzufolge finden im Raum des Digitalen Techniken Anwendung, wie sie für den Poststrukturalismus bezeichnend seien: Durch das Zusammensetzen bereits bestehender Versatzstücke werde etwas Neues kreiert (vgl. Stalder 2016: 96-101). Die Referentialität läuft den Auskünften der Stimme zufolge auf dem Song „Apocalypse or Revolution“ ins Leere. Sie berichtet: „wenn du merkst was du anfasst / es verdoppelt sich im nichts / wenn um dich alles kopie nur / und du selber bist kopist“ (Ja, Panik 2021i).
Neben dem Bereich des Digitalen beziehen sich diese Zeilen auch auf die Erfahrungen der Pandemie. So bemerkt Slavoj Žižek in dem ersten seiner zwei Corona-Bücher „Pandemic!“, dass der Mensch zum Kopisten der „stupid viruses“ (Žižek 2020: 13) wird – ein Umstand, den die zitierten Zeilen des Songs dadurch hervorheben, dass das Subjekt durch jede Berührung zur Verdopplung des Virus beiträgt. Die Verfahren der Referentialität erhalten vor dem Hintergrund der Pandemie somit eine neue Bedeutung bzw. kehren lediglich zu ihrem Ursprung zurück, da der Poststrukturalismus bei der Beschreibung seiner Verfahren auf Metaphern des Viralen zurückgreift (vgl. Derrida 1972: 386-388). Bei der Referentialität handelt es sich zudem um ein Verfahren, das für die Band Ja, Panik bezeichnend ist. Bereits in ihrem ersten Manifest verlautbart sie zu Beginn die Notwendigkeit der Kopie (vgl. Ja, Panik 2014b: 9). Der auf dem Album durchdeklinierte Riss, der eine Beschreibung der Pandemie sowie der Auswirkungen des Digitalen beinhaltet, betrifft nun auch das eigene Programm der Gruppe. Vor dem Hintergrund der Pandemie wird dieses ebenfalls hinterfragt.
3. Die Sprache der Angst: again and again
Zu Beginn des Albums „Die Gruppe Ja, Panik“ berichtet die Stimme: „an diesem tag / den es nicht gibt / den es nie gab / musste ich los“ (Ja, Panik 2021a). Damit knüpft sie an bereits vertraute Muster an, die sich schon auf den Vorgängeralben finden. So bestimmt dieses Aufbruchsszenario bereits den Titelsong des Albums „DMD KIU LIDT“ (2011), in dem „das jugendlich-lyrische Ich“ schildert, so schreibt Baßler, wie es „Kerouac-artig ,on the road‘“ (Baßler 2019: 308) geht. Bei der auf dem neuen Album unternommenen Reise zieht die Stimme nun allerdings nicht in die Welt hinaus, indem sie etwa „Europe endlich den Rücken kehrt“ (Ja, Panik 2011). An ein Reisen ist aufgrund der Pandemie ohnehin nicht zu denken.
Die der Reise eignende Distanz zum Gewohnten wird stattdessen durch die neuen Bedingungen unter Corona hergestellt. Auch die Herkunft des unheimlichen Gasts referiert auf bekannte Muster, stammt er doch von „der anderen seite der nacht“ (Ja, Panik 2021a). Das Nachtleben ist ebenfalls ein Thema, um welches die Vorgängeralben kreisen. Nur stehen jetzt bisher vernachlässigte Aspekte des Nachtlebens und der mit ihm einhergehenden Müdigkeit im Vordergrund, nämlich solche, die aus der Schlaflosigkeit angesichts der neuen, bedrohlichen Situation resultieren. Dass sich das Album mit einem bereits vertrauten Programm auseinandersetzt, deuten die Textfragmente „die sprache der angst / again and again“ und „revisited“ an (Ja, Panik 2021a). Das Thema der Wiederholung lässt sich nicht nur – wie weiter oben beschrieben – als Verweis auf Mark Fishers hauntology verstehen, sondern kündigt auch an, das eigene Programm erneut zu befragen.
Gerade die Erwähnung der Angst verweist auf ein zentrales Thema des gesamten Werks. Bereits der Bandname Ja, Panik ist im gleichen Wortfeld situiert. Das Verhältnis von Angst und Panik bestimmt das zweite Manifest der Band von 2009. Ihm zufolge gelte die Angst als „Vorstufe zur Panik“. In dieser Form sei die Angst „unabdingbar, doch damit auch ihre größte Feindin“, denn es gebe nichts „Schlimmeres als in Vorstufen zu verharren“. Weiter heißt es, dass die „Angst als Möglichkeit zur Panik“ gefeiert und zugleich „in ihrer Form als radikale[r] Nivellierer jedweder Handlungen und Ideen“ bekämpft wird, da sie als „Zustand des absoluten Stillstands“ gelte (Ja, Panik 2014c). Die Angst, die bisher als Durchgangsstadium nur von sekundärem Interesse war, steht nun in einer Zeit, in welcher der absolute Stillstand zur gesellschaftlichen Normalität geworden ist, im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Der Song „The Cure“ des Albums „Die Gruppe Ja, Panik“ stellt eine Absage an den im Manifest beschriebenen Mechanismus dar, laut dem sich ein Übel beheben lässt, indem es gesteigert wird. Der Song wendet sich mit der Bitte um Heilung an einen Arzt und endet mit der bereits erwähnten Feststellung, dass die einzige Heilung für den Kapitalismus dessen Überbietung sei. Diese Einsicht wird von einem Chor vorgetragen, den sowohl die Band als auch die musikalische Tradition, in der sie sich verortet, immer wieder einsetzt, um den kollektiven Gehalt des Gesungenen zu unterstreichen (vgl. Huber 2016: 256f.).
Zugleich bezieht sich der Song „The Cure“ ebenfalls auf das eigene Werk, nämlich erneut auf das Stück „DMD KIU LIDT“. Dieser Song versucht aus der Vereinzelung in der Depression eine kollektive Kraft zu gewinnen. Er proklamiert: „Denn was und wie man uns kaputt macht, ist auch etwas, das uns eint“. Dabei warnt er zugleich vor der „allzu schnellen Heilung / Denn das was uns kaputt macht, will uns gleich schon reparieren“. Und trotzdem fielen wir alle wieder darauf hinein: „Auf die Pillen, auf den Doktor, auf die Klinik und auf die Liebe“ (Ja, Panik 2011). Wie Christoph Jürgensen dargelegt hat, hadert in dem Song die Stimme damit, eine subversive Position zu finden, was sich darin niederschlage, dass sie stets ihren eigenen Aussagen widerspreche. Dieses Vorgehen wertet Jürgensen „als offensives Bekenntnis zum notwendigen Selbstwiderspruch“ und erkennt darin das künstlerische Verfahren der Band (Jürgensen 2019: 233).
Der Song „The Cure“ unternimmt nun gar nicht erst den Versuch, eine Position außerhalb des Kapitalismus einzunehmen, vielmehr unterwirft sich die Stimme gemeinsam mit dem Chor den Mechanismen des Kapitalismus – was der Songtitel andeutet, der auf die den Weltschmerz besingende Band The Cure verweist, die zwar aus der Punk-Bewegung hervorgeht, aber statt Protest und Provokation eine resignative Spielart des No Future anbietet. Jens Balzer schreibt über die Band, dass sie sich „am Vorabend der Apokalypse [wähnt]“ (Balzer 2021: 55). Die Apokalypse kommt nun auch im finalen Song des Albums „Die Gruppe Ja, Panik“ mit dem Titel „Apocalypse or Revolution“ zur Sprache. Dem Song zufolge steht die vom Stillstand gezeichnete Gegenwart in einer auf die Zukunft hin geöffneten Spannung zwischen den Alternativen der Apokalypse und der Revolution.
Mit diesen Alternativen greift der Song Diagnosen zur Jetzt-Zeit auf, die besagen, dass Corona nicht nur eine Bestätigung für das krachende Ende des bestehenden Systems sei, sondern auch als Ausgangspunkt für neue Gesellschaftsformen genutzt werden könne. So formuliert etwa Slavoj Žižek in „Pandemic!“ wiederholt die Hoffnung, dass sich der Kommunismus als die einzig zulässige Umgangsform mit der Pandemie durchsetze (vgl. Žižek 2020: 12). Am Ende des Songs „Apocalypse or Revolution“ findet ein fingiertes Zwiegespräch über die Aussichten auf einen solchen Zusammenbruch des Systems statt, denen eine schroffe Absage erteilt wird: „das ist doch ein hirngespinst“. Vielmehr gesteht die Stimme ihre Abhängigkeit vom System ein: „naja / es braucht dich auch nicht / nur du / du kannst nicht ohne“ (Ja, Panik 2021i). Damit wird der von Baßler erwähnte „Double bind aller kritischen Pop-Musik“ aufgerufen, laut dem es „im Pop kein Außen von Markt und Medien“ gibt (Baßler 2019: 320).
Der einzige Versuch, der auf dem Album sich breitmachenden Resignation scheinbar etwas Bejahendes entgegenzusetzen, findet sich auf dem Titelsong „Die Gruppe“. Anhand der Gruppen-Thematik zeigt sich am deutlichsten, dass Ja, Panik auf dem Album „Die Gruppe Ja, Panik“ an das eigene Werk anknüpft, dessen bisherige Ausrichtung aber vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hinterfragt. So pflegte sich die Band in der Tradition der Avantgarden als eigenes Kollektiv zu inszenieren (vgl. Seidel 2022: 183-189). Als Grund hierfür hat der Sänger Spechtl wiederholt die Tatsache angeführt, dass die Formation Band für ihn die geeignetste Möglichkeit der Artikulation darstellt (vgl. Jürgensen 2019: 232f.).
Im Song „Die Gruppe“ wird die im vorherigen Abschnitt beschriebene Differenz zunächst bejaht. Im hymnischen Refrain heißt es: „in den unterschied der vor uns liegt / tret ich ein / weil eine gruppe möcht ich sein“ (Ja, Panik 2021g). Der Song sticht aus dem Album bereits deshalb heraus, weil er musikalisch an den ehemals bespielten Indie-Rock anknüpft und somit von der sonst dominierenden hauntologischen Klangkulisse abweicht. Bei der Zeile „die welt wollt ich in stücke brechen“ (Ja, Panik 2021g) überschlägt sich die sonst eher unterkühlte Stimme. Damit wird ausgestellt, dass der Ansatz eines Ausbruchs lediglich unter Rückgriff auf die Stilmittel der Vergangenheit möglich zu sein scheint und nur noch als nostalgisches Programm funktioniert. So findet im Song der Gedanke, „secret groups / secret gangs“ zu formieren und Distanzgebote durch „secret tongues / in my mouth“ zu umgehen, lediglich im Kopf statt. Diesem Gedankenspiel folgt unweigerlich die Erinnerung an „ein unordentliches leben“, in dem die Stimme einst gewesen sei (alle Zitate: Ja, Panik 2021g).
Im Gegensatz zu seinen Vorgängeralben verweigert sich „Die Gruppe Ja, Panik“ also einem auf die Zukunft ausgerichteten Programm. Damit steht es im Gegensatz zu anderen Auseinandersetzungen mit der Corona-Pandemie, wie sie etwa Bruno Latour in seinen „Lektionen aus dem Lockdown“ vornimmt. Latour nutzt die gegenwärtige Lage als Ausgangspunkt, um sein eigenes Programm vor der neuen Situation fruchtbar zu machen. Dabei bringt er auch die Möglichkeit ins Spiel, sich in lokalen Gruppen zu organisieren (vgl. Latour 2021: 92f.). Obgleich sich das digitale Zeitalter durch eine Organisation in Gruppen auszeichnet, was neu geartete Formen des Politischen ermöglicht (vgl. Stalder 2016: 7-11; Seemann 2021: 368-370), wird der Emphase für das Konzept der Gruppe unter Corona-Bedingungen bei Ja, Panik eine Absage erteilt.
Unterstrichen wird dies vom Musikvideo zu dem Song „Die Gruppe“, das die Mitglieder der Band voneinander getrennt in den für Videokonferenzen typischen Kacheln zeigt. Die aus dem Off ertönende hymnische Musik steht in einem starken Kontrast zu den Bildern: Man sieht, wie die Mitglieder der Gruppe die Dauer des Songs gelangweilt absitzen, sich gelegentlich am Kopf kratzen und die meiste Zeit über an der Kamera vorbei ins Leere starren. Mit dieser Absage umgeht die Gruppe Ja, Panik die Gefahr, sich lediglich einem weiteren nostalgischen Programm zu verschreiben. Dadurch gelingt ihr ein umso stärkerer Bezug zur Gegenwart. Sie greift das Konzept der hauntology sowohl inhaltlich als auch musikalisch auf und zeigt dessen diagnostisches Potential für Pop-Musik in Zeiten der Pandemie.
Literatur
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