Die ›Gamification‹ der Kunst
von Wolfgang Ullrich
19.4.2022

»The Currency«, »Satan Shoes«, Drops, NFT

[aus: Pop. Kultur und Kritik, Heft 20, Frühling 2022, S. 10-18.]

Ich kann es mir nicht verkneifen und beginne mit einem Hinweis auf meine vor fünf Jahren an dieser Stelle in Heft 10 publizierte Kolumne. Damals, im Frühling 2017, schrieb ich unter dem Titel »Von der Ware zur Währung« über serielle Kunst – und nicht zuletzt über Damien Hirst und seine »Spot Paintings«. Diese über mehr als drei Jahrzehnte hinweg entstandenen Bilder mit mehr oder weniger vielen Punkten in verschiedenen Farben gibt es in einer solide vierstelligen Anzahl, sodass immer mehrere gleichzeitig auf dem Markt sind, Sammlerïnnen also jederzeit feststellen können, wie hoch die Preise sind. Es gibt sogar »einen Tageskurs«, wie ich bemerkte, um weiter zu spekulieren, ob Hirst mit seiner Serie nicht vielleicht auf dem Weg sei, »eine Art von paralleler Währung zu etablieren«. Die Bilder seien »nicht mehr bloß eine Ware auf dem Markt«, sondern würden »wie Gold oder Öl, Anlegern Stabilität verheißen und als Referenz für anders, vor allem für andere Kunst gelten«.

Ich staunte nicht schlecht, als ich im Juli 2021 erstmals von Hirsts neuem Projekt »The Currency« las. Es ist vom Künstler diesmal also von vornherein mit der Funktion einer Währung entwickelt worden. Und wieder geht es um Punkte. So ließ Hirst 10.000 Blätter aus handgeschöpftem Papier im Format 20 x 30 cm mit Punkten aus Emailfarbe füllen. Diese verteilen sich ungleichmäßig über die Oberfläche und sind auch nicht alle in derselben Größe; manche haben unsaubere Ränder, auch in der Dicke des Farbauftrags unterscheiden sie sich. Außerdem hat jedes Blatt einen eigenen Titel, erstellt von einem Computerprogramm, das mit Zeilen aus Lieblings-Songs von Hirst gefüttert wurde. Die 10.000 Blatt sind fälschungssicher wie Geldscheine – mit Wasserzeichen im Papier sowie einem auf der Rückseite aufgeprägten Hologramm, das ein Porträt des Künstlers zeigt.

Die Blätter wurden aber nicht als materielle Werke verkauft. Vielmehr konnte man sich um ein digitales Eigentumszertifikat in Form eines NFT bewerben – eines ›Non Fungible Token‹, also einer eindeutig identifizierbaren und in einer Kryptowährung handelbaren Zeichenkette. Dass jede damit vollzogene Transaktion auf einer Blockchain, einer Art von ständig fortlaufendem Kontobuch, verzeichnet wird, garantiert das Eigentum. Denn sämtliche dort vollzogenen Einträge sind für alle einsehbar und auf den Computern der Nutzer dezentral und entsprechend sicher vor Manipulationen hinterlegt.

Für die 10.000 NFTs, die zum Preis von 2.000 US-Dollar angeboten wurden, gab es fast 70.000 Bewerbungen, sodass bei dem Kunsthandelsunternehmen HENI, das das Projekt zusammen mit Hirst organisiert, per Los entschieden wurde, wer den Zuschlag erhielt (ich gehörte leider nicht dazu). Die Gewinnerïnnen haben ein Jahr lang die Wahl, ob sie das NFT behalten und gegebenenfalls weiterverkaufen oder aber in das materielle Bild umtauschen wollen. Im ersten Fall wird dieses von Hirst zerstört, im anderen Fall das NFT gelöscht. Noch ist unvorhersehbar, wie sich die Eigentümerïnnen verhalten: ob die meisten, ganz traditionell, lieber ein gemaltes Bild an der Wand haben, das sie ja immer noch verkaufen können – oder ob sie sich nicht mit materiellem Besitz belasten und jederzeit mit ihrem NFT handeln wollen. Immerhin können sie ersatzweise eine hochauflösende Fotodatei ausdrucken, die sie von HENI zur Verfügung gestellt bekommen.

Dass auf jeden Fall zwei parallele Märkte entstehen, ist spieltheoretisch spannend. Denn zeichnet sich etwa ab, dass die meisten das gemalte Bild vorziehen (vielleicht auch nur, damit es nicht zerstört wird), dürften die relativ wenigen verbleibenden NFTs umso teurer werden – und umgekehrt. Das Spekulationsfieber heizt Hirst ferner dadurch an, dass er alle Bilder der Serie nach diversen Kategorien vermessen ließ: Welches Gewicht hat das Blatt? Wie viele Buchstaben haben die Titel? Wie dicht sitzen die Punkte beieinander? So wurde etwa ermittelt, dass sie bei Nr. 9187 mit dem Titel »The tearful wheel« am lockersten verteilt sind, während »Came on, come on«, die Nr. 7936, die höchste Dichte aufweist.

Wie bei einem Quartett-Spiel kann man einzelne Bilder also gegeneinander antreten lassen. Jedes ist dann auch irgendwann Spitzenreiter, man muss nur lange genug nach Unterscheidungskriterien suchen. Auf der Online-Plattform Discord, auf der sich sonst vor allem Gamer tummeln, tauschen sich nun Eigentümerïnnen von »The Currency« gerade über solche Kriterien aus. Akribisch studieren sie ihre Blätter, um potenziell wertsteigernde Besonderheiten zu entdecken. Und natürlich beobachten sie die Preisentwicklung. Anfangs stiegen die Preise rasch, für hohe fünfstellige, gar für sechsstellige Summen wurden einzelne NFTs verkauft, dann aber fielen sie auch wieder, um sich nach einigen Monaten bei rund 15.000 US-Dollar (und den Äquivalenten in den jeweiligen Krypto-Währungen) einzupendeln. Ob man das als Erfolg oder Misserfolg anzusehen hat, ist umstritten, und erst im Sommer 2022 wird man mehr wissen – sobald klar ist, wie viele der Eigentümerïnnen ihr NFT behalten und wie viele lieber das originale Bild haben wollen. Auf jeden Fall sind dann nochmals größere Kursschwankungen und Gewinne zu erwarten.

NFTs waren auch sonst ein großes Thema im zurückliegenden Jahr – nicht nur, aber besonders in der Kunstwelt. Viele Künstlerïnnen versuchen derzeit bereits vorhandene oder eigens produzierte Artefakte als NFTs zu verkaufen. Das Kunstpublikum erfährt dadurch eine Verjüngung, was durch andere Trends weiter unterstützt wird, die ebenfalls mit der Digitalisierung einhergehen. So begannen die großen Auktionshäuser während der pandemiebedingten Lockdowns mit ›Online only‹-Versteigerungen und erreichten dadurch zum Teil erstmals internetaffine, dabei aber durchaus finanzkräftige und vor allem spekulationsfreudige Milieus.

Zeugt schon Hirsts »The Currency« von einer ›Gamification‹ der Kunst, so gibt es dafür etliche weitere Indizien. Viele aktuelle Kunstprojekte bestehen zuerst einmal aus langen Texten, in denen das jeweilige Geschäftsmodell erläutert wird, sodass man als Interessentïn die eigenen Chancen und Risiken abwägen kann. Als Kunst lässt sich ein Projekt dann am ehesten auch deshalb qualifizieren, weil es aus einem neuartigen oder besonders raffinierten, witzigen oder kunstbetriebskritischen Geschäftsmodell besteht – weil es sich als ›conversation piece‹ eignet und natürlich, ähnlich einer Lotterie, mit großen Gewinnmöglichkeiten lockt.

Die US-amerikanische Künstlergruppe MSCHF gehört zu den erfolgreichsten Akteuren einer ›Gamification‹ der Kunst. Ihre Arbeiten werden als ›drops‹ online publiziert und vertrieben – und sind meist innerhalb weniger Sekunden vergriffen. Im Oktober 2021 verkaufte die Gruppe etwa tausend identische Zeichnungen – 999 davon wurden von einem Roboterarm angefertigt, eine aber, das Vorbild für die anderen, ist ein Original von Andy Warhol. Unter die anderen Blätter gemischt, weiß nun niemand, wer es besitzt. So können tausend Käuferïnnen hoffen, dass sie den Warhol ergattert haben, aber sie können es nicht beweisen, haben damit also auch nichts von ihrem potenziellen Glückstreffer – außer sie lassen aufwendige Untersuchungen anstellen, für die sie aber nochmals hohe Geldsummen aufwenden müssten, nur um dann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erfahren, doch keinen originalen Warhol zu besitzen. Für MSCHF aber hat sich das Geschäft auf jeden Fall gelohnt, haben sie jedes Blatt doch für 250 US-Dollar verkauft, während sie für den originalen Warhol nur 20.000 US-Dollar gezahlt haben. (Auf ähnliche Weise hat die Gruppe auch schon mit einem »Spot Painting« von Damien Hirst Gewinne gemacht. So zerschnitt man es in 88 Teile und verkaufte die Punkte einzeln zu einem insgesamt viel höheren Preis, maximierte mit der Zerstörung eines Kunstwerks also dessen Marktwert.)

2021 gelangte MSCHF mit einem weiteren Projekt in die Schlagzeilen. Zusammen mit dem US-amerikanischen Schwarzen Country-Sänger und Rapper Lil Nas X brachte die Gruppe Sneakers mit dem Namen »Satan Shoes« auf den Markt, begleitet von einem neuen Musikvideo zu dem Song »Montero (Call Me By Your Name)«. Das Video führt in Computerspielästhetik und schneller Fahrt durch irreale Landschaften. Was zuerst idyllisch-sinnlich zu sein scheint, entpuppt sich schon bald – und angelehnt an die christliche Ikonografie – als Reise vom Garten Eden ins Reich des Teufels. Weder die Schlange noch Figuren mit Hörnern fehlen, ein Pentagramm taucht genauso auf wie Feuer, und in einigen Szenen sieht man den Sänger mit Höllenbewohnern, die ihn quälen. Gegen Ende des Videos rast Lil Nas X an einer Pole-Dance-Stange in die Hölle hinab und vollführt einen Lapdance im Schoß des Satans, dem er schließlich das Genick bricht, um selbst zum Teufel zu werden. Dabei singt er über die Ängste und Repressionen, die mit dem Ausleben seiner Homosexualität verbunden sind, die in einer weißen, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft nach wie vor oft als etwas teuflisch Böses diskriminiert und dämonisiert wird. Auf diese Weise greift das Video ein Vorurteil offensiv auf, um es in seiner ganzen Heftigkeit sichtbar zu machen.

Doch voll ausgespielt wird das Thema erst durch die »Satan Shoes«. Dass sie auf 666 Exemplare limitiert und für 1.018 US-Dollar verkauft wurden, was auf Kapitel 10,18 des Lukasevangeliums anspielt, wo vom Satan die Rede ist (der Verweis auf die Bibelstelle findet sich auch auf den Schuhen selbst), lässt sich noch als Gag abtun. Etwas aufregender ist, dass in der Luftpolsterung der Sohle jedes Schuhs ein Tropfen Blut enthalten sein soll. Das betont den Charakter der Sneakers als etwas ›Echtem‹, erinnert aber auch an die Praxis, in jeden Altar der katholischen Kirche die Reliquie eines Heiligen einzulassen. Mag diese Parodie eines christlichen Brauchs frivol oder sogar blasphemisch anmuten, so wird mit den »Satan Shoes« aber noch ein anderes Vorbild ins Gegenteil verkehrt. 2019 hatte MSCHF nämlich bereits eine Sonderedition des Nike-Klassikers »Air Max 97« mit dem Namen »Jesus Shoes« entwickelt, in deren Luftpolsterung man Wasser aus dem Jordan füllte. Von den Verpackungsdetails bis zur Website wurden die »Satan Shoes« nun an den »Jesus Shoe« orientiert. Allerdings unterließ man es, sich von Nike die Übernahme des »Air Max 97« sowie des Markenlogos genehmigen zu lassen. Dieses gezielt illegale Vorgehen sollte den Sneakers ganz real eine aggressiv-böse Dimension verleihen und sie bei Sammlerïnnen umso begehrter machen. Dass Nike auch sofort vor Gericht zog, bot erst recht Stoff für einen Skandal und sorgte für die erhoffte virale Verbreitung des Falls.

Aber auch jenseits dessen hatten Lil Nas X und MSCHF von vornherein mit Debatten in den Sozialen Medien gerechnet. Tatsächlich lösten die »Satan Shoes« (viel mehr als das Video) vor allem bei konservativen Christen und in rechten Milieus einen Proteststurm aus. So kritisierte Kristi Noem, Gouverneurin von South Dakota und Trump-Anhängerin, in einem Tweet, »viel exklusiver« als das vermeintlich exklusive Paar Schuhe sei die »von Gott geschenkte unsterbliche Seele« (»more exclusive [is the] God-given eternal soul«). Gegenwärtig aber kämpfe das Land um seine Seele (»We are in a fight for the soul of our nation«), und dieser Kampf müsse unbedingt gewonnen werden (»We have to win«). Im Zuge des bevorstehenden Showdowns zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel blies Noem also zum Angriff gegen die MSCHF-Sneakers und Lil Nas X. Dieser reagierte mit eigenen Tweets und heizte die Debatte weiter an, indem er Postings followerstarker Accounts, etwa von Candace Owens, verhöhnte, die die rechte, gegen die Demokratische Partei gerichtete Schwarzenbewegung »Blexit« gründete und die »Satan Shoes« als große Dummheit der Schwarzen bezeichnete (»How stupid can we be?«).

Aggressive, homophobe Angriffe etwa auch von Pastoren und fanatische Verurteilungen (»Satanist«, »Perverser«), die oft ihrerseits hundert- und tausendfach kommentiert und von neuen Hetzparolen begleitet wurden, bewiesen, wie berechtigt es war, dass Lil Nas X seine Perspektive aus mehrfacher Minderheitenposition zum Thema gemacht hatte. Dank der Verbindung von Musikvideo, Sneakers und Interaktionen in den Sozialen Medien schufen er und MSCHF für eine breitere Öffentlichkeit ein prägnant-heftiges Bild der Beleidigungen, denen er und seinesgleichen täglich ausgesetzt sind. Und warum sollte nicht gerade das Kunst sein – Kunst, die aber nicht darauf angewiesen ist, so etikettiert zu werden, weil sie zugleich Aktivismus und Modedesign und vor allem ziemlich viel Spiel und Spekulation ist?

 

[Teile dieses Artikels sind in das Buch von Wolfgang Ullrich, »Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie«, eingegangen.]

 

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