Neue Übergänge zwischen Kunst und Mode, ›high‹ oder ›low‹
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 22-29]
Das Verhältnis von Kunst und Mode? Eine lange Geschichte und ein zunehmend etwas langweiliges Spiel. Denn es lebte nur von der klaren, strikten Grenze zwischen beiden Bereichen. Sie zu überschreiten, hatte für beide Seiten zuverlässig etwas Frivoles und Gefährliches: Die Modelabels riskierten, ihre Kunden zu verstören, wenn sie einen provokanten, spröden, trashigen Entwurf eines Künstlers umsetzten, diesem drohte umgekehrt der Vorwurf, sich mit dem bösen Kommerz gemeinzumachen. Aber das Frivole lohnte sich letztlich (fast) immer: Die Künstler durften sich als Sieger fühlen, wenn sie der Modewelt ihren Stil aufzwangen, die Labels hingegen erschienen als mutig und avantgardistisch. Das wiederum ließ sich als Distinktionsvorteil an die Konsumenten weitergeben, galten diese dann doch ihrerseits als besonders avanciert. Mit einer von einem Künstler entworfenen Handtasche ließ sich noch mehr Eindruck machen als mit einem bloß teuren Stück. So profitierten alle Beteiligten vom Manöver gezielter Grenzüberschreitung.
Doch mittlerweile hat sich etwas geändert – die klare Grenze zwischen Kunst und Mode gibt es nicht mehr. Beispielhaft lässt sich das an den Arbeiten des kanadischen Künstlers Andy Dixon nachvollziehen. Seit etlichen Jahren malt er nicht nur Interieurs (oft nach Motiven aus der Kunstgeschichte), sondern auch teure Dinge: alte Vasen, bei Auktionen versteigerte Luxusgüter oder aber Kleidung von bekannten Marken wie Hermès, Chanel oder Versace. Dabei malt er ein Stück manchmal direkt ab, manchmal ändert er Details oder erfindet ein neues Design – im Stil der jeweiligen Marke. Das scheint ihm nicht schwerzufallen, denn mit den von ihm favorisierten Labels teilt er eine Vorliebe für kräftige Farben, für Formen der Übertreibung sowie für klassische Motive in schrillen Varianten.
2019 baute Dixon nach der Vorlage eines Versace-Schnitts erstmals auch eine Skulptur: ein Oberteil, zusammengenäht aus bemalten Leinwandteilen, dreieinhalbmal so groß wie ein originales Stück. Ohne von dem Projekt zu wissen, meldete sich Versace, noch während Dixon daran arbeitete, bei ihm, um Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit auszuloten. So kam es, dass die Skulptur, nachdem sie im März in einer Dixon-Ausstellung in New York gezeigt wurde, im April nach Mailand gebracht wurde, um während der dortigen »Design Week« bei Versace präsentiert zu werden. Aber damit nicht genug. Unterdessen hat Dixon mehrere Stücke für die Sommerkollektion 2020 entworfen. Dabei ging er wiederum von bereits existierenden Teilen der Marke aus. Nachdem er sie abgemalt und dabei modifiziert hatte, übertrug Versace die neuen Bilder auf die Stoffe.
Dixon selbst sprach in einem Interview davon, das Ping-Pong-Spiel zwischen Kunst und Mode sei in diesem Fall so oft hin und her gegangen, dass jegliche Grenze zwischen beidem verschwunden sei. Eher ist es jedoch andersherum: Nur weil es keine strenge Grenze mehr zwischen Kunst und Mode gibt, kann der Austausch so selbstverständlich stattfinden, ja kann man sich Ideen und Motive gegenseitig zuspielen, ohne dass sich durch den Transfer etwas an deren Charakter oder Status ändert. Es macht einfach keinen Unterschied, ob man einen Dixon-Versace in einem White Cube oder auf einer Modenschau sieht. Das heißt auch: Man kann (und muss) auf einmal ganz unabhängig von der Frage, ob es sich um Kunst oder um Mode handelt, entscheiden, ob einem die Teile gefallen.
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Dass heute dasselbe sowohl als Kunst wie als Mode lanciert werden kann und damit einen interessant uneindeutigen oder vielmehr doppelten Status einnimmt, wurde in letzter Zeit an einigen Produkten der Marke Off-White besonders deutlich. Exemplarisch sei eine Handtasche erwähnt – aus schwarzem Leder und schlicht rechteckig in der Form. Auf einer Seite sind Zweige mit hellen Blüten aufgedruckt – dies das einzige liebliche Element, das noch an die traditionelle Funktion einer Handtasche als dekoratives Accessoire erinnert. Viel auffälliger hingegen ist ein in seriphenlosen weißen Großbuchstaben fast über die gesamte Breite gesetztes Wort: »Sculpture«. Ausdrücklich steht da also, dass es sich bei dem Objekt nicht einfach nur um eine Handtasche handelt, sondern um eine Skulptur, gar um ein Kunstwerk.
Doch steht das groß gedruckte Wort auf der Tasche in Anführungszeichen, so als handle es sich um ein Zitat, sei somit nur ein indirektes Sprechen und deshalb vielleicht nicht ganz ernst gemeint. Muss man »Sculpture« also augenzwinkernd, im (postmodernen) Modus der Ironie lesen? Andererseits aber wirkt das Schriftbild streng, nüchtern, geradezu monumental. Damit entsteht der Eindruck, die Ironie werde selbst nicht ernst genommen, ja werde ihrerseits relativiert. Gerade dieses Schillern im Tonfall verleiht der Tasche eine Fülle an Dimensionen. Ohne Anführungszeichen manifestierte sie nur ein etwas humorlos-pathetisches Kunstwollen, mit zusätzlichen und einheitlichen Ironie-Signalen hingegen – etwa einer collagiert wirkenden Schrift oder künstlichen Rissen im Leder – würde man sie für ein neckisches Stück Mode halten, das sich selbst dementiert und daher auch nur ein Leichtgewicht sein kann.
Da ihre mögliche Wahrnehmung als Kunstobjekt auf der Tasche bereits zum Thema gemacht wird, weist diese auch darüber hinaus. Sie definiert sich gerade nicht darüber, Kunst zu sein, bedarf nicht deren Aura – und wirkt deshalb noch selbstbewusster als von Künstlern entworfene Taschen. Sie bietet das, was man herkömmlich von Kunst erwartet – gerade weil sie selbst nicht Kunst ist.
Gründer und Chef von Off-White ist Virgil Abloh. Er verkörpert besser als irgendjemand sonst, wie irrelevant die einst so feste Grenze zwischen Kunst und Mode oder, allgemeiner, zwischen Kunst und Nicht-Kunst geworden ist. Obwohl er eine der führenden Persönlichkeiten der Modewelt und seit 2018 sogar zugleich Markenchef der Männerabteilung von Louis Vuitton ist, wird er nämlich auch in der Kunstwelt ernstgenommen. Nachdem er schon mehrere kleinere Ausstellungen hatte, eröffnete im Juni 2019 eine große Retrospektive im Museum of Contemporary Art in Chicago, die bis 2021 etliche Stationen absolvieren und im Brooklyn Museum in New York enden wird. Zu sehen sind neben Kleidern und Sneakern Installationen und Skulpturen – und alle Exponate zeichnet es aus, dass sie genauso gut als Kunstwerke wie als Modeartikel gelten können. Im Katalog zur Ausstellung unterscheidet Abloh zwar zwischen »Mode«, »Skulptur«, »Produktdesign« und »Malerei«, doch allein die Einordnung der Exponate unter verschiedene »Disziplinen« verrät, dass er sie grundsätzlich gleichberechtigt – als miteinander vergleichbare Leistungen – ansieht und sich selbst als zeitgemäßen Mehrkämpfer einschätzt.
Aber nicht nur zwischen Kunst und Mode, freien und angewandten Disziplinen ›high‹ und ›low‹ bewegt sich Abloh ganz selbstverständlich. Vielmehr vermag er auch innerhalb der Mode und des Designs lange gültige Grenzen zu überwinden. Im März 2019 startete er eine Kooperation mit IKEA, und auf einmal wurden einige seiner Produktideen, die bis dahin für den Luxusbereich reserviert waren, kostengünstig und in viel höherer Auflage umgesetzt. Hätten Designer früher die Sorge gehabt, einen Imagenachteil zu erleiden, wenn sie ihre Exklusivität zugunsten von Engagements bei populären Marken aufgeben, so bedeutet das für Abloh offenbar nur eine weitere Disziplin – und mehrt seinen Ruhm und seine Reichweite.
Auch in der etablierten Kunstwelt scheint man nach und nach entspannter darauf zu reagieren, wenn etwas ohne den Stallgeruch der Hochkultur auftaucht. So äußerte der Berliner Großgalerist Johann König im Oktober 2019 in einem Gespräch mit der »Stuttgarter Zeitung«, die Kunstwelt könne sich die »Arroganz nicht leisten«, weiterhin zu ignorieren, was in der breiten Öffentlichkeit am besten ankomme. Er nannte nicht Abloh, aber dafür Banksy und KAWS als Beispiele, ferner, sicher speziell für das Stuttgarter Publikum, den von dort aus vor allem mit Sandbildern zu einer Weltkarriere gestarteten Tim Bengel. Auch der, so König, werde »immer populärer, und das geht an den Elitemuseen nicht vorbei«. Das sei gut so, er begrüße diese Entwicklung, »auch wenn ich damit bei vielen in der Kritik stehe«.
Nun, Kritik war nach diesem Statement nicht zu vernehmen, dafür verbreitete Bengel es über eine Insta-Story voller Stolz an seine mehr als 300.000 Follower. Je mehr die Grenze zwischen ›high‹ und ›low‹ verschwindet, desto mehr dürfte sich aber auch der Kunstmarkt verändern. Vielleicht läuft es sogar darauf hinaus, dass der Kunstbetrieb künftig ähnlich strukturiert sein wird wie der Literaturbetrieb. Bekanntlich beschädigt es die Hochliteratur ja auch nicht, dass sie in denselben Buchhandlungen verkauft wird wie triviale, kitschige und reißerische Bücher. Dafür hat es der gemeinsame Markt hier ermöglicht, dass unzählige Misch- und Zwischenformen entstanden sind, in der Literatur also die Frage, ob ein Buch ›high‹ oder ›low‹ ist, nie eine so große Rolle gespielt hat wie in der bildenden Kunst. Daher könnte es vielleicht sogar auch für sie befreiend wirken, würden Miriam Cahn und Tim Bengel, Banksy und Richard Prince künftig in denselben Galerien angeboten.
Das wäre noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen. Man denke etwa an das avancierte Konzept, mit dem die Fotogalerie LUMAS im Jahr 2003 begann. Auch sie wollte schon weg von elitärem Gebaren und eine breite Käuferschaft für Kunst gewinnen. Populäre Motive und hochklassig-anspruchsvolle Werke sollten gleichermaßen vertrieben werden, man bemühte sich, den Spagat zwischen Kunstgalerie und Poster-Shop hinzubekommen. Das aber genügte damals noch, um vom kunstinteressierten Publikum weithin ignoriert zu werden, mit der Folge, dass sich bald auch das Angebot einseitig veränderte. Offenbar wollten Sammler und Kunstkenner also auf keinen Fall Gefahr laufen, mit Leuten verwechselt zu werden, die Bilder einfach nur kaufen, weil sie ihnen gefallen.
Würde LUMAS heute gegründet, so darf man mutmaßen, ginge es anders aus. Wie das Statement von Johann König belegt, ist es bei wichtigen Figuren der Kunstwelt nicht mehr angesagt, Türsteherqualitäten zu beweisen und möglichst viel auszuschließen, nur weil es populär ist. Vielmehr kommt es cool, gerade keine – inhaltlichen oder formalen – Kriterien für Kunst einzufordern. Wer hingegen die Frage stellt, ob Abloh, Banksy oder Bengel denn auch wirklich Kunst sind, muss mittlerweile damit rechnen, als spießig und beckmesserisch dazustehen.
Doch warum erscheint es gerade jetzt möglich, dass sich der Kunstbetrieb in einen Ort verwandelt, an dem für ›high‹ und ›low‹ gleichermaßen Platz ist? Das ist sicher vor allem der Macht der Sozialen Medien geschuldet. In ihnen hat das breite Publikum erstmals eine gut hörbare Stimme. Viel wichtiger aber ist, dass es auf den großen Plattformen, insbesondere bei Instagram, eine einheitliche neue Währung gibt, nämlich Follower. Das sorgt für ganz neue Vergleichsmöglichkeiten, zumal sowohl Künstler aus dem etablierten Kunstbetrieb wie auch viele derer, die dort bisher keine Chance hatten, über Accounts verfügen. Tatsächlich sind Banksy, Abloh und KAWS die wohl followerstärksten Künstler, andere wie Daniel Arsham oder Mark Ryden darf man ebenfalls als Superstars bezeichnen, aber auch Takashi Murakami, Cindy Sherman oder Jeff Koons, also feste Größen des ›High‹-Segments, brauchen sich alles andere als zu schämen.
Hier mischt sich somit vieles, was bisher strikt getrennt war. In den Sozialen Medien werden neue Hierarchien etabliert, neue Sichtweisen und Kriterien eingeübt – und wandern schließlich über sie hinaus in die etablierten Institutionen des Kunstbetriebs. Der Post-Internet-Kunstmarkt, der dadurch vielleicht entsteht, hat Followerzahlen als zentrales Kriterium, und statt diejenigen auszuschließen, die zu populär sind, wird es in ihm für Künstler schwierig, die nicht genügend Follower aufweisen. In einer nicht-elitären Post-Internet-Museumswelt werden die Besucher ebenfalls das zu sehen bekommen, was am meisten Follower hat. Wie Abloh in großen US-Museen gezeigt wird, so ist Banksy seit dem Frühjahr 2019 etwa in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen. Followerpower wird also zum Türöffner für die Galerien und Museen. Die Angst, ›high‹ und ›low‹ könnten verwechselt werden, spielt keine Rolle mehr.
[Teile dieses Artikels sind in das Buch von Wolfgang Ullrich, »Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie«, eingegangen.]