Unverrottbare Zukunft
von Sonja Eismann
22.3.2022

Leben mit Plastik

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 85-88]

Plastik ist tot und lebt ewig. Plastik ist out of fashion und doch in Mode. Wörtlich. Denn während weltweit immer mehr Einwegplastikartikel wie Tüten, Strohhalme oder Wattestäbchen gesetzlich verboten werden, finden sich heute in über 60% aller Kleidungsstücke Anteile von Plastik. Plastikflaschen, -becher, -zahnbürsten und ähnliche Wegwerfobjekte werden zunehmend gesellschaftlich geächtet und als drastische Symbole für die Verschmutzung der Meere benutzt, aber jeder Waschmaschinengang mit Synthetikteilen kann bis zu 700.000 Mikrofasern absondern, die in Gewässer oder an deren Ufer weiterwandern. 30% der Plastikabfälle im Meer bestehen aus winzig kleinen Teilchen, der sog. Mikroplastik, 35% davon entstehen wiederum durch das Waschen synthetischer Kleidung, schätzt die International Union for Conservation of Nature.

Große Brands wie Adidas oder Gucci oder kleinere Labels wie Norden oder Girlfriend Collective passen ihre Produktions- und Marketingstrategien mit Recyclingtechnologien an aktuelle Nachhaltigkeitsideale ihrer Kund*innen an und bieten neue Waren aus altem Plastik. Dafür werden z.B. PET-Flaschen gereinigt, in millimeterkleine Pellets zerrieben, die wiederum erhitzt und dann zu neuen Plastikgarnen gesponnen werden können. Das amerikanische Label für ethisch produzierte Basics, Everlane, hat sich zum Ziel gesetzt, ab dem Jahr 2021 gar kein ›virgin plastic‹, also neu produziertes Plastik, mehr zu verwenden.

Aufgeschreckt von der Meldung, dass 2050 voraussichtlich mehr Plastikteile als Fische in den Ozeanen schwimmen werden, unterschrieben Ende 2018 250 Unternehmen aus verschiedensten Branchen, darunter Big Player der Modeindustrie wie H&M, Inditex, Burberry oder Stella McCartney, das »New Plastics Economy Global Commitment«. Diese freiwillige Selbstverpflichtung sieht eine Eindämmung der ›Plastikkrise‹ durch die Reduktion von Plastikverpackungsmaterialien und der Erhöhung der Recyclebarkeit der eigenen Produkte vor. Fieberhaft wird nach ›organischen‹ Alternativen zum herkömmlichen Erdöl-Plastik gesucht, sei es aus Milchproteinen, Pektinen, Maisstärke, Seetang, Kaffeesatz, Kombucha oder sogar völlig unveganen Stoffen wie Schlachtabfällen oder Krebsschalen, die ein Beiprodukt der Krabbenfischerei darstellen. Die Entdeckung des Bakteriums Ideonella sakaiensis 201-F6 im Jahr 2016 löste sogar Hoffnungen auf eine organische Lösung des Problems aus. Dieses Bakterium kann nämlich PET nicht nur fressen, sondern auch verdauen und dabei in Wasser und Kohlenstoff aufspalten – nur viel zu langsam, um eine Lösung für die Massen von bereits zirkulierendem Plastik zu sein.

Seit 1950, hat eine Studiengruppe aus Santa Barbara kalkuliert, wurden über neun Milliarden Tonnen Plastik produziert, von denen sieben Milliarden nicht mehr in Gebrauch sind, von denen wiederum 5,5 Milliarden unrecycelt zu Land und im Wasser herumdümpeln. Der Chemiker Anthony Andrady, ein ausgewiesener Plastik-Experte, vermutet, dass Plastik bis zu 100.000 Jahre bestehen könne, womit nicht nur der Meeresboden, sondern die ganze Erde mit einer neuen, dabei von ihr abgesonderten Schicht bedeckt wäre – voraussichtlich in Ewigkeit.

Daher sind all die Initiativen für ›eine plastikfreie Zukunft‹ oder die freiwilligen Selbstbescheidungen bezüglich des Plastikkonsums hinfällig, ist doch all das Plastik, was seit der Erfindung des ersten synthetischen Polymers, Bakelit, im Jahr 1907 hergestellt wurde und wird, immer noch irgendwo um – und in uns. Denn mittlerweile ist in 100% aller auf dem Boden des tiefsten Tiefseegrabens lebenden Organismen Plastik nachweisbar. Dieses Mikroplastik schwimmt aber nicht nur im Meer, es löst sich auch täglich aus Textilfasern in Kleidung, Möbeln, Teppichen oder als Autoreifenabrieb und schwebt durch die Luft. Schottische Forscher*innen haben 2018 herausgefunden, dass wir uns jeden Tag im Schnitt mehr als 100 dieser winzigen Plastikteilchen einverleiben, die bei uns auf dem Teller landen oder die wir einatmen.  Bisphenol A (BPA), ein so genannter Plastikweichmacher, der u.a. auf Kassenbons und in Konservenbüchsen vorkommt, soll mit seiner hormonellen Wirkung für Fettleibigkeit, Diabetes, Brustkrebs und Unfruchtbarkeit verantwortlich sein. Sogar im deutschen Bier ist mittlerweile schon Plastik enthalten – und durch das »Vorläufige Biergesetz« aus dem Jahr 1993 trotz Reinheitsgebot erlaubt – , denn um die verderblichen Trübstoffe, die eine lange Lagerung verunmöglichen, loszuwerden, darf mit dem nicht komplett entfernbaren Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP), einem Granulat aus Plastik, gefiltert werden.

Der Dualismus von Natürlich- versus Künstlichkeit, der davon träumt, sich von der Schädlichkeit alles ›Unnatürlichen‹ befreien oder zumindest reinigen zu können, ist im Anthropozän, also dem Zeitalter der menschengemachten geologischen und klimatischen Veränderungen, jedoch eine Illusion. Spätestens seit 2016 von der Geological Society of America offiziell ein »Plastiglomerate«, eine Mischung aus geschmolzenem Plastik und Fels, als neues Gestein anerkannt wurde, müssen wir der Erkenntnis von Cord Riechelmann zustimmen, der in der »Jungle World« (39/2017) schrieb, »dass die Menschheit Plastik nicht mehr los wird und nicht nur mit ihm leben, sondern es auch als Bestandteil dessen betrachten muss, was bisher unter dem Begriff Natur gefasst wurde«.

Plastik ist also aus den gleichen Gründen böse, die es so verführerisch machen, weil es zum Wegwerfen erschaffen ist und dabei ewig hält, weil es nichts von der Natur fordert und sie dabei zerstört, weil es alle denkbaren Formen und Stofflichkeiten annehmen kann und dabei doch keine eigentliche Substanz hat. Schon Roland Barthes schrieb in seinen »Mythen des Alltags« im Essay »Plastik« über den Stoff, er sei »die erste magische Materie, die sich damit begnügt, prosaisch zu sein«. Die US-Wissenschaftlerin Heather Davis, die die Verbindungen von Plastik und Petrokapitalismus erforscht, fängt in ihrem Beitrag »The Domestication of Plastic« zum »The 3D Additivist Cookbook« die zutiefst ambivalente Natur des Materials ein: »At once a material of utopia and anxiety, of abundance and waste, of democratic access and ecological horror, plastic can be understood as the material distillation of advanced capitalism. It gives rise to the pleasures and desires of an increasingly large section of the population, resulting in the most fabulous and imaginative sex toys, prosthetics, a wide array of guns, artist projects, replicas of lost cultural monuments and statues, and all of the banal and endlessly reproducible objects that increasingly populate our everyday lives and can be found discarded and broken in every location on earth.«

Plastik ist nur Oberfläche und Form, es hat weder Kern noch Herkunft noch Umwelt, es kennt keinen definitiven Ort, keine Zeitlichkeit und damit nur eine anti-utopische Unendlichkeit. Michael Hardt setzt diese Überzeitlichkeit konkret mit dem ultimativen Sieg des Kapitalismus in Beziehung, wenn er im Beitrag »Plastic / Money« zu Pinar Yoldasʼ Ausstellung »An Ecosystem of Excess« ausführt: »Accumulation is always against metabolism and against use. I mean the dream of the permanence of money, of an infinite ability to accumulate value without its degrading… The end point of accumulation, and specifically the accumulation of plastic, is the death of metabolism.« Die unendliche Flexibilität des Materials, das keinen Stoffwechsel kennt, garantiert damit die infinite Fixierung des Systems.

Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Plastik als kulturelles Material und Strategie immer wieder heftige Reaktionen hervorruft – von den ironisch kulturpessimistischen Tiraden gegen »Plastic People« wie bei Zappa ­ oder »Art-I-Ficial« Role Models wie bei Poly Styrene bis zur vehementen Verteidigung von Künstlichkeit als künstlerischer Strategie, die mit kompletter Transparenz (=durchsichtiges Plastik) erst recht Opazität erlangt, weil es nichts zu lesen gibt. So wurde Shirin David anlässlich der Veröffentlichung ihres Debütalbums »Supersize« im September, das es auch in einer »Deluxe-Box« für 49,99 Euro mit u.a. zwei durchsichtigen Plastiktaschen zu erwerben gab, von Fans und Medien kritisiert: »Wir ham 2019 der Regenwald brennt und Shirin bringt ne Box raus fast nur aus Plastik!« (starszip.de) Der »Spiegel« (38/2019) gibt in einer Magazingeschichte Davids Äußerungen über die CD-Box so wieder: »›Es war immer dieses Schönheits-OP- und Plastikding, was die Leute verschreckt hat, immer: Plastik, Plastik, Plastik. Das greifen wir jetzt auf: Das Material ist Plastik, trotzdem ist alles transparent […], alles Bling-Bling, aber außen ist alles clean.‹ Sie lächelt in die Runde: ›Ich gebe ein Stück Plastik zurück.‹« Es geht aber selbstverständlich auch teurer. Der Blog des nachhaltigen Modelabels Know The Origin echauffiert sich unter der Überschrift: »Plastic. Fashion’s Toxic Trend« über den Hype ›gewagter‹ Plastic Pieces: »Plastic is a cheap material to produce, yet Maison Margiela are selling a clear plastic belt for $480, with no conversation on reducing plastics in our clothes.«

Plastik in Pop und Mode steht dafür, nichts zu sein – billig, substanzlos, ephemer und wegwerfbereit – und sich dabei doch toxisch in die Ewigkeit einzuschreiben. Das taugt nicht als Emanzipationsstrategie, allerdings sind Reinheitsfantasien plastikfreier Existenzweisen ebenso wenig produktiv. Stattdessen gilt es, trotz und mit dieser immanenten bzw. bereits realen Toxizität eine Vision für eine ökologische und solidarische Welt zu entwerfen und dadurch mit der potenziellen Geschichtslosigkeit einer unverrottbaren Zukunft zurechtzukommen. Oder, um es mit den Worten der Wissenschaftshistorikerin Bernadette Bensaude-Vincent (aus dem Band »Accumulation: The Material Politics of Plastic«) zu sagen: »While the manufacture of plastics destroys the archives of life on the earth, its waste will constitute the archives of the twentieth century and beyond.«

 

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