Je populärer, desto bedrohlicher.
[zuerst erschienen in: Elke Dubbels/Jürgen Fohrmann/Andrea Schütte (Hg.): Polemische Öffentlichkeiten. Zur Geschichte und Gegenwart von Meinungskämpfen in Literatur, Medien und Politik. Bielefeld 2021, Transcript Verlag, S. 185-203.]
1. Polemik als ein Fall unerwünschter Popularität
Öffentlich wirksam wird Polemik nur dann, wenn sie hinreichend populär wird. Ihren „konflikthaft-polemogenen Charakter“[1] entfaltet Kommunikation folgenreich nur dann, wenn sie auf Resonanz stößt, also bei vielen Beachtung findet.[2] Das am 18. Mai 2019 auf der Plattform Youtube publizierte Video „Die Zerstörung der CDU“ des Youtubers Rezo hat politische Folgen nicht deshalb gezeitigt, weil es „überspitzt, wütend und unfair“[3] zumal die Umwelt- und Klimapolitik der CDU kritisiert, sondern aufgrund der unübersehbaren Popularität des Videos, das binnen einer Woche fünf Millionen Aufrufe zu verzeichnen hat und unter anderem die Parteivorsitzende und den Generalsekretär der CDU zu einer öffentlichen Entgegnung nötigt, mit der nicht jeder rechnen kann, der gegen die CDU polemisiert:
„Der YouTuber „Rezo“ postet ein Video und rechnet gnadenlos mit der CDU-Politik ab. Der Clip wurde bisher fast fünf Millionen Mal angeklickt. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak verbucht das Video unter „persönlicher Meinung“ und kritisiert die Quellen des YouTubers.“[4]
Am 23. Mai 2019 veröffentlicht die CDU auf ihrer Homepage[5] eine – übrigens ungezeichnete – „Offene Antwort an Rezo: Wie wir die Sache sehen“, die Relationen zwischen Polemik, Öffentlichkeit, Populismus und Popularität erkennen lässt, denen ich in diesem Beitrag nachgehen möchte. Es geht mir nicht um Polemik als „rhetorische Gattung“, sondern um einen Zusammenhang von Populismus und Popularität, der allerdings von „Bedeutung im Hinblick auf den grundsätzlich konflikthaften und polemogenen Charakter politischer und sozialer Ordnungen“ ist.[6]
Die Antwort der CDU beginnt mit der Feststellung, Rezos Video habe von vielen Beachtung gefunden, um daran die Beobachtung anzuschließen, der Beitrag spitze zu und verkürze, um so zu provozieren, was allerdings in der parteipolitischen Debatte, zumal im Wahlkampf nichts Ungewöhnliches sei. Rezos Video wird damit als Beitrag zum Wahlkampf gegen die CDU eingeordnet; es könne daher kein Wunder sein, dass es der CDU nicht unparteilich begegnet.
„Viele Menschen haben in den vergangenen Tagen über Dein Youtube-Video gesprochen. Es spitzt Kritikpunkte zu und verkürzt um zu provozieren. Das ist nichts Neues in der politischen Auseinandersetzung – zumal im Wahlkampf.“[7]
Die CDU folgt Fridtjof Küchemanns Einordnung des Videos in der FAZ vom 20. Mai 2019, die zwei Tage nach der Veröffentlichung der „Zerstörung der CDU“ auf Rezos Youtube-Kanal die bis dahin verzeichneten eine Million Aufrufe zum Anlass für eine Kommentierung genommen – und damit zugleich, wie andere Zeitungen auch, die Popularisierung des Videos weiter befördert hat, insofern viele Zeitungsleserïnnen von diesem neuesten Youtube-Trend erst in der Presse erfahren und dann, von einem gewissen Nachrichtenwert der Sache überzeugt, das Video selbst aufgerufen haben. Auch Küchemann hält Rezos Rundumschlag gegen die etablierten Parteien im Allgemeinen und die CDU im Besonderen für eine Polemik:
„Und auch wenn Rezos Video in manchen Punkten schmerzhaft verkürzt, verzerrt und polemisiert, sollten dem Youtuber auch diejenigen dankbar sein, die auf „Die Zerstörung der CDU“ zuvörderst mit Empörung reagieren wollen: Immerhin steht die Tür zu den Jugendzimmern jetzt offen – offen für eine politische Auseinandersetzung.“[8]
Als Polemik wird dem Video gattungsgemäß Subjektivität, Parteilichkeit und Überspitzung konzediert, zugleich aber auch ein argumentativer Kern, der sie als „legitime Form der Kritik“ ausweist[9] – die also, um im Bild des ‚Jugendzimmers‘ zu bleiben, aus dem Rezos Stimme laut Küchemann an die Öffentlichkeit dringe, von den älteren Semestern der CDU als Beitrag zur „politische[n] Auseinandersetzung“ ernst genommen werden sollte. Dass im Konrad-Adenauer-Haus reagiert wird, liegt aber weniger daran, dass die CDU sich diese Chance, mit der „jungen Generation“[10] in ein Gespräch zu treten, nicht entgehen lassen möchte, sondern an den Tag für Tag steigenden, immens hohen Zahlen der Aufrufe des Videos, die die Plattform Youtube in ihrem unaufhörlichen und instantanen digitalen Count verzeichnet. In der Region Deutschland wird es schließlich auf der Top Ten-Liste von Youtube als erfolgreichstes Video des Jahres 2019 platziert – und so nochmals ungemein wirkungsvoll popularisiert,[11] insofern viele, die das Video noch immer nicht wahrgenommen haben, es nun als Platz 1 eines populären Chart beachten. Diesen Millionen, die Rezos Video „aufgerufen“, also in irgendeiner Weise beachtet, vielleicht sogar zur Gänze rezipiert haben, stellt die CDU „Millionen“ eigener Gefolgschaft entgegen: „Wir – das sind Hunderttausende Mitglieder, Unterstützer und Millionen von Wählerinnen und Wählern der CDU – nehmen Kritik sehr ernst.“[12]
Zwischen dem Rezo-Video, das auf der zweitpopulärsten Plattform der Welt millionenfach Beachtung gefunden hat,[13] und den „Millionen von Wählerinnen und Wählern der CDU“ wird allerdings ein großer Unterschied gemacht: Die Popularität des Youtube-Videos sei populistisch, die Popularität der CDU dagegen das Ergebnis einer „überlegten, reflektierten“ Politik „mit kühlem Kopf“. „Denn gerade von der CDU wird in aufgewühlten Zeiten erwartet, dass sie überlegt, reflektiert und mit kühlem Kopf antwortet. Verkürzen, verzerren, verdrehen – das ist Populismus. Überzeichnen, übertreiben, überspitzen: wir distanzieren uns zu Recht von dieser Art, Politik zu machen.“[14]
„Populismus“ ist aber noch mehr als „verkürzen, verzerren, verdrehen“, „überzeichnen, übertreiben, überspitzen“, er braucht auch „Quote“. Populismus, das wäre demnach die erfolgreiche Einfügung des bösen Geschreys[15] der „Fama mala“ in die „Zirkulation des Populären“.[16] „Die Währung von YouTubern sind Klickraten. Die Währung einer Volkspartei wie der CDU ist Vertrauen.“[17]
Diese Unterscheidung geht davon aus, dass der Popularität der CDU etwas fundamental anderes zugrunde liegt als der Popularität von Youtubern. Der Popularität der CDU muss man vertrauen; der Popularität Rezos ist zu misstrauen. Es handelt sich um einen Sonderfall des Populären, um bedrohliche, unerwünschte, problematische Popularität.[18]
2. Beliebte und unbeliebte Popularität
„Populär ist, was viele beachten. Populäre Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie dies ständig ermittelt. In Charts, durch Meinungsumfragen und Wahlen wird festgelegt, was populär ist und was nicht.“[19]
Diese Definition Thomas Heckens soll das mögliche, ja häufige Missverständnis ausschließen, Popularität im 21. Jahrhundert sei ein Indikator für Beliebtheit, für Trivialität oder für beides. Für die hergebrachte Konzeption der populären Kultur als Gegenteil der Hochkultur, die dem Populären den Platz des Simplen, Gemeinen, Leichten, Vergänglichen, Massenhaften, Produktförmigen zugewiesen hat, mag es zwar immer noch Indizien geben, doch lässt sich nicht übersehen, dass die quantitative Dimension des Populären unterdessen ein Gewicht gewonnen hat, das die tradierte, hierarchische high/low-Differenz unter erheblichen Rechtfertigungsdruck setzt: Was in den Charts führt, was am meisten aufgerufen oder gestreamt wird, was häufig konsumiert wird, wer in Umfragen vorne liegt, ist populär – und kann kaum mehr ignoriert werden. Es fällt schwer zu begründen, warum etwas, das viel Beachtung findet, keine Beachtung finden soll.[20]
Ob derartig ausweislich von Charts und Bestsellerlisten, Rankings und anderen quantitativen Rangordnungen aller Art populäre Werke, Artefakte, Produkte, Parteien oder Personen deshalb trivial, anspruchslos, niveaulos oder pöbelhaft sind, weil sie von sehr vielen beachtet werden, ist noch lange nicht ausgemacht. Was in den Hitparaden und TopTen-Listen vorne liegt, kann durchaus auch mit hohen Qualitätseigenschaften belegt werden. Bob Dylan ist Nobelpreisträger – und hatte große Erfolge in den Charts. Der Roman „Tschik“ ist ein Bestseller (2,2 Millionen verkaufte Exemplare im Jahr 2016) – und doch wird sein Autor Wolfgang Herrndorf keineswegs der Kulturindustrie zugeschlagen. Und zu den Wissenschaftlern, die in der Besten-Liste der meistzitiertesten Autoren geführt werden (Top H-Index For Scientists in Germany), zählen sicher auch bedeutende Forscher.
Auch Popularität und Beliebtheit sind zu unterscheiden: Die Politikerin mit der zweitgrößten Präsenz in deutschen Fernsehnachrichten (AKK) des Jahres 2019 ist sicher prominent, allerdings nicht sonderlich beliebt. Dieter Bohlen verbindet große Bekanntheit mit hoher Unpopularität, insofern er auch als besonders „unangenehm“, „unerträglich“, „unbeliebt“ gilt.[21] Sucht man nach diesem Muster unbeliebter Prominenz in einschlägigen Ratings und Rankings, dann trifft man schnell auf Personen, die zwar sehr populär sind, weil sie von vielen Beachtung finden, aber zugleich sehr schlechte Zustimmungswerte aufweisen. 2019 belegt Donald Trump im deutschen Ranking der unbeliebtesten Personen den ersten Platz (Statista, Alter 6–19 Jahre). Zugleich ist der amerikanische Populist ungemein populär: Im Ranking der Staats- und Regierungschefs nach der Anzahl ihrer Twitter-Follower im Januar 2019 (Daten von Statista) belegt er ebenfalls den ersten Platz, noch vor dem Papst und Narendra Modi.[22]
Dieses Phänomen unbeliebter oder unerträglicher Popularität lässt sich im Politischen als Populismus beobachten. Zwei Bedingungen müssen hier gegeben sein: Die Popularität einer Position oder Person und die normative, grundsätzliche Ablehnung dieser Position oder Person – also eine prinzipielle Diskriminierung zwischen legitimer und illegitimer Popularität, wie sie die CDU im Blick auf Rezo eingenommen hat. Populisten werden von vielen beachtet, und dass diese Beachtung ständig ermittelt und die Ergebnisse der Beachtungsmessung ausgestellt werden, gehört selbst zum Phänomen dazu. Die Popularität wird jedoch nicht wie sonst üblich (Top-Hit, Bestseller, trending topic, viral…) prämiert, sondern als Bedrohung diskursiviert. Diese Unterscheidung zwischen einer Popularität, die Vertrauen einflößt, und einer Popularität, der zu misstrauen ist, lässt sich als „Spaltung der Gesellschaft“[23] semantisieren.
Obschon der Populismus seit einigen Jahren ein überaus populäres Thema darstellt, das breite Resonanz erfährt, ist dieser Zusammenhang von Populismus und Popularität bislang als Forschungsthema kaum beachtet worden. In dem von Frank Decker herausgegebenen einschlägigen Band Populismus wird die Beziehung in einem einzigen Aufsatz zumindest angedeutet,[24] während häufig von „populären“ Politikern, Parteislogans oder Inszenierungen nur ganz umgangssprachlich die Rede ist, also ohne eine Bestimmung der quantitativen und qualitativen Dimension des Populären, von den spezifischen Popularisierungschancen sozialer Medien ganz zu schweigen. Dabei kann durchaus bezweifelt werden, dass es überhaupt Forschungen zum Populismus gäbe, wären es nicht Tausende, Zehntausende, Hundertausende oder Millionen, die dem, was die sozialwissenschaftliche Forschung als Populismus definiert oder in den Massenmedien als Populismus firmiert, ihre Beachtung schenken würden. Popularität, nämlich die Beachtung von vielen, wie sie in Wahlumfragen, Abonnentenzahlen, Teilnehmermessungen, Ratings oder Rankings, Downloadzahlen, Like-, Retweet-, Usage-Countern auf Plattformen wie Facebook, Youtube, Twitter, aber auch SpringerLink oder ResearchGate ihren Niederschlag findet, ist nicht nur ein wichtiger Grund für die Konjunktur des Populismus in der Forschung, sondern auch eine dem Populismus immanente Dimension. Das „Problem des Populismus“, das Jan-Werner Müller zu bestimmen fordert,[25] stellt sich dann, wenn etwas bei vielen Beachtung findet, aber keine Beachtung finden soll.
Das Populäre, also die graduelle und daher auch immer steigerungsfähige Beachtung durch viele, zählt einerseits zu den Voraussetzungen von Populismen; andererseits streben Populismen nach Popularität. Auch die Umkehrprobe scheint zu stimmen: Populismen, die keine Beachtung finden, gibt es nicht – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie bei der Wirklichkeitskonstruktion und Selbstbeschreibung der Gesellschaft eine Rolle spielen. Und allein darauf kommt es hier an: Nicht auf substanzielle oder normative Ausführungen,[26] sondern, mit Niklas Luhmann formuliert, auf die Beschreibung von Kommunikation und dem, „was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint.“[27] Kommunikative Realität hat der Populismus aber gerade seiner Popularität zu verdanken. Sie muss so hoch sein, dass eine Person, eine Position, eine Bewegung, eine Meinungsbekundung, eine Demonstration breitere Beachtung findet und Nichtbeachtung nur schwer zu legitimieren wäre – und genau deshalb wird in den Massenmedien berichtet und kommentiert, in der Politik aufgegriffen und kritisiert, in der Forschung beschrieben und eingeordnet.
Um dem Populismus zugeschlagen zu werden, genügt es nicht, um Müllers einschlägige Definition des Populismus anzuführen,[28] antielitäre und antipluralistische Meinungen zu vertreten; erst wenn diese Meinungen von vielen Beachtung finden und zugleich diese Beachtung von vielen beanstandet wird, sind sie populistisch virulent. Ein Tweet von @realDonaldTrump vom 12. März 2012 entfaltet erst seit dem Jahr 2017 Resonanz: „When I was 18, people called me Donald Trump. When he was 18, @BarackObama was Barry Soweto. Weird.“
Im Jahr 2012 war es einfach die dumme, rassistische Aussage eines Milliardärs, die innerhalb der nächsten fünf Jahre überhaupt nur ein einziges Mal retweetet worden ist (von Sam Stein: @samstein am 12. März 2012). Fünf Jahre später hat der Tweet eine konfliktträchtige Beachtung entfaltet. Auch Trumps Tweets benötigen die Beachtung von vielen, um als populistisch eingeordnet und kritisiert zu werden.
Urs Stäheli hat im Jahr 2005 dem Populären in einer ausdifferenzierten Gesellschaft die Funktion zugewiesen, einem unbekannten Publikum die Inklusion in sehr spezifische Teilsysteme zu ermöglichen.[29] Vom „Inklusionspotenzial“[30] populärer Semantik handelt seine Monographie „Spektakuläre Spekulation“.[31] Auch Populismen inkludieren – ohne Zweifel sind auch Trump-Wähler Wähler, seine Follower sind Kunden von Facebook, Twitter und Instagram, sein Publikum abonniert Fox News oder die Washington Times (nicht Post). Diese gelungene Inklusion in funktionsspezifische Kommunikation, so wären Stähelis Überlegungen zu ergänzen, mobilisiert zumal bei den Funktionseliten Gesten der Exklusion: ‚Ja, es sind Wähler, aber sie wählen den falschen. Ja, sie partizipieren an sozialen Medien, aber es sind Trolle. Ja, sie schauen Nachrichten und lesen Zeitungen, aber es sind fake news. Ja, es ist populär, aber es ist Populismus. Ja, es ist das Volk, aber es sind Lümmel.’[32]
3. Rekursion: Populäre Populismus-Begriffe
Um die Funktion des Populären für Beobachtung und Beschreibung zeitgenössischer Populismen ein wenig zu illustrieren, möchte ich ein sehr naheliegendes, trivial erscheinendes Beispiel geben: Gibt man das Wort „Populismus“ als Suchbegriff in die Suchmaschine Google ein, dann zeigt diese meistbesuchte Website Deutschlands und der Welt (Ranking von Alexa Internet) an, es stünden 1.910.000 Ergebnisse zur weiteren Auswahl zur Verfügung.[33] Dies ist, im Vergleich zu anderen politisch relevanten Begriffen wie „Gewaltenteilung“, „Parlamentarismus“ oder „Wissenschaftsfreiheit“, wo auf 813.000, 478.000 und schließlich 159.000 Ergebnisse indiziert werden, sehr viel. Die 1.910.000 Websites, die Google bei seiner Suche berücksichtigt haben will, werden von einem Algorithmus in eine Rangfolge gebracht, bei der mehrere Parameter eine Rolle spielen, unter anderem die Zahl anderer Seiten, die mit einer bestimmten Seite, die den Begriff „Populismus“ aufweist, verlinkt sind, sowie die Häufigkeit, mit der Nutzer der Suchmaschine diese bestimmte Seite bereits besucht haben. Die Ergebnisse, die Google auf der ersten Seite seiner Suche anzeigt, spiegeln die durch den Page Rank-Algorithmus ermittelte hohe sog. „Linkpopularität“ wider und haben jedenfalls (vergleichsweise) allergrößte Beachtung gefunden; zugleich ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese angezeigten Websites erneut aufgerufen werden – und die übrigen Millionen Seiten nicht. Wie üblich in skalenfreien Netzen werden wenige Knoten von vielen beachtet, die allermeisten aber von sehr wenigen.[34] Die Ermittlung und Inszenierung von Linkpopularität ist eine populäre wie folgenreiche Form der „Welterzeugung durch Zahlen“.[35]
Wie stellt sich nun diese populäre Welt dar? Auf der Startseite der Suche ist zunächst ein Wörterbucheintrag zu sehen, der eine Kurzdefinitionen anzeigt: „Po·pu·lis·mus. Substantiv, maskulin [der]. 1. POLITIK von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen“. Dann folgt der Wikipedia-Artikel. Zu lesen ist auf der Startseite ein Fragment des Artikels als Preview: „Dem Begriff Populismus (von lateinisch populus ‚Volk‘) werden von Sozialwissenschaftlern mehrere Attribute zugeordnet. Charakteristisch ist eine mit… Kategorie: Populismus – Rechtspopulismus – Linkspopulismus“. Immerhin, grundsätzlich anderes erfährt man auch nicht, wenn in den politischen Feuilletons Populismus als Politikstil, als Strategie der Machteroberung, als antielitäre Bewegung oder als unmittelbare Hinwendung zum Volk beschrieben wird.
An dritter Stelle der Google-Suche rangieren Videos, die Titel tragen wie „Was ist Populismus?“ oder „Populismus einfach erklärt“. Die Links verweisen auf Internet-Seiten der Tagesschau oder der NZZ, die in eigenen Mediatheken oder auf Plattformen wie Youtube kurze Tutorials zum „Populismus“ bereithalten, die im Falle von Youtube wiederum selbst anzeigen, wie oft – zehntausendfach, hunderttausendfach – sie bereits konsultiert worden sind. In diesen Videos werden in wenigen Minuten die gängigsten Populismustheorien der Politikwissenschaften popularisiert. Man sieht hier sehr gut, welche Konzepte reüssiert haben und damit die soziale Realität, die als populistisch beobachtet und beschrieben wird, herstellen helfen. Stichworte, die die Videos liefern, sind: Vereinfachung und Dramatisierung, Wendung ans „einfache“ Volk, inhaltlich offene, also linke wie rechte „dünne“ Ideologie, die die Welt in Freund und Feind einteilt; Alleinvertretungsanspruch für das Volk, Lautsprecher, anti-elitäre oder anti-pluralistische Mobilisierung von Empörung, an Stimmungen, nicht an Sachproblemen ausgerichtet. Darin findet sich viel von dem wieder, was in der Populismusforschung in den letzten 15 Jahren dazu publiziert worden ist:[36]
1.Politikstil, der vor allem Modernisierungsverlierer anspricht. (Tim Spier)
2.Dünne Ideologie, „thin ideology“, die Gesellschaft in Freund und Feind unterscheidet und unversöhnlich gegenüberstellt. (Cas Mudde)
3.Politische Bewirtschaftung einer einfacheren Mentalität, die Massen affektiv-emotional und vordiskursiv anspricht. (Karin Priester)
4.Strategie der Machteroberung einer charismatischen Führerfigur. (Kurt Weyland)
5.Moralisch-politischer Alleinvertretungsanspruch, der zugleich anti-elitär und anti-pluralistisch auftritt. (Jan-Werner Müller)
6.Konflikt aufgrund der Spaltung der Gesellschaft in kosmopolitisch-globale Elite und lokal-nationale Unterschicht. (Cornelia Koppetsch)
Dominant und rekurrent sind in den Videos die Verweise auf Vereinfachung, Spaltung, Anti-Elitismus und Anti-Pluralismus. Die Kurzformel wäre: „Populisten nehmen für sich in Anspruch, sie, und nur sie, vertreten das wahre Volk.“ Es handelt sich bei den Videos im Grunde um Varianten und Ausschmückungen der prägnanten wie populären Definition Müllers.
Auf Platz Vier des Google Page Ranks rangiert ein Beitrag, den der Siegener Politikwissenschaftler Tim Spier 2014 für die Bundeszentrale für Politische Bildung geschrieben hat. Der Text beginnt mit der Feststellung: „Es ist das ironische Schicksal des Populismus-Begriffs, populär geworden zu sein.“[37] Eine Übersicht über die wichtigsten Aspekte des politikwissenschaftlichen Populismus-Begriffs schließt sich an: Konstruktion eines wahren Volkes, Freund/Feind-Zuspitzung, Führerfigur, Bewegung statt Partei, dünne Ideologie, Eliten- und Parteienkritik. Was die Popularität des Begriffs angeht, teile ich diese Beobachtung Spiers, für ein „ironisches Schicksal“ halte ich die Popularität des Populismus dagegen nicht, sondern für eine dem Populären eingeschriebene Konsequenz. Um diese Annahme zu plausibilisieren, muss ich meine allgemeinen Beobachtungen zum Populären noch einmal aufgreifen und spezifizieren.
4. Populismus als Problem unerwünschter Popularität
Dass Spitzenpositionen in Nullsummen-Rankings aller Art von der Bestsellerliste und Top Ten-Reihen bis zu den Tabellen, Charts oder Diagrammen der Sonntagsfrage eine beachtenswerte und auch erstrebenswerte Sache sein sollen, scheint der populärkulturelle Normalfall zu sein. Auf einer Rangliste, die Beachtung vergleicht und in eine Reihenfolge bringt, ganz oben platziert zu sein, gilt nicht nur als ein quantitativer Ausweis spitzenmäßiger Popularität, sondern häufig auch als ein Wert eigener Qualität. Donald Trump weist auf seine eigene Popularität regelmäßig und superlativistisch hin und lässt keinen Zweifel daran aufkommen,[38] dass dieser quantitativ nachweisbaren Popularität auch eine besondere Qualität zukomme: Was massenhafte Beachtung finde, verdiene sie auch.
Aufgrund dieser Überzeugung finden sich auf vielen Artefakten Paratexte, die eigens die relationale Popularität in Form der Chartplatzierung hervorheben: Bestseller; Top Hit; No. 1. Werbung weist häufig schlicht darauf hin, dass das beworbene Produkt häufig nachgefragt worden ist. Streaming-Dienste berücksichtigen bei dem Arrangement ihrer Startseiten ebenfalls die rein quantitative Dimension des View Counts. Und auch bei Wissenschaftsportalen wie SpringerLink oder ResearchGate wird die sog. Usage von Artikeln zu einem entscheidenden Kriterium der Anordnung des Wissens. Obschon vielgelesene Aufsätze, vielgesehene Filme, vielgehörte Songs oder vielgekaufte Produkte nicht allein deshalb wichtig, gut oder interessant sein können, wird die Popularität zunehmend als Ausweis von Qualität aufgefasst und dient der Legitimierung der Sache: Was millionenfach Beachtung gefunden hat, kann nicht ohne weiteres abgewertet oder exkludiert werden.
Es ist aber keineswegs notwendig der Fall, dass das, was derart vermessen und als vielbeachtet ausgestellt wird, denn auch von vielen geschätzt wird. Vielmehr ist es offenbar unvermeidlich, dass erfolgreiche Popularisierungen nicht nur begrüßt, sondern auch abgelehnt werden können. In der westlichen Kultur ist dies sehr vertraut: Nicht jeder Bestseller gilt als gutes Buch, nicht jeder Blockbuster als sehenswerter Film, nicht jeder vielgespielte Song als bedeutender Beitrag zur Musikgeschichte, nicht jedes ausgebuchte Stück als erstklassiges Theater. Populär bedeutet nicht unbedingt beliebt – vielmehr können Personen oder Artefakte hochgradig populär sein im Sinne ihrer quantitativen Beachtung und zugleich überaus unbeliebt oder gar gering geschätzt. Was massenhaft beachtet wird, gilt hochkulturell als das „Unbeachtliche“ schlechthin, das keine Beachtung verdient hätte.[39] Im Kulturellen wird dieses Unbeachtliche, aber Populäre bekanntlich Schund, Kitsch, Trivialliteratur, Massenware usw. genannt. Im Politischen markieren Populismen die hohe Popularität von Positionen oder Personen, die missbilligt und abgelehnt werden. Populismen kommt eine nach Zahlen bedeutende Beachtung zu, die als erschreckend und inakzeptabel gilt.
Peter Strohschneider hat in einem Aufsatz „POTUS als Twitterer“ die „Vulgarität“ der medialen Selbstinszenierung Trumps betont und in dieser Vulgarität ein Element des Populismus ausgemacht.[40] Die Popularität der Vulgarität Trumps, der sich als „Nicht-Leser“ offenbare, der „Fernsehschauen“ allem anderen vorziehe, läge darin begründet,[41] dass er in aggressiver Distanz zur Hochkultur die amerikanische „low culture“ zugleich verkörpere und anspreche.[42] Seine Popularität kann demnach also nur auf inakzeptablen Ursachen gründen: Ein „Troll“, der sich in primitivster Weise an die „Ungewaschenen“ der Unterschichten wendet.[43] Trumps Popularität finde ihren Grund also in einem medialen Stil, der die niedersten Instinkte der untersten Schichten anspreche. Dies klingt ein wenig so, als sei Trump 1944 Präsident geworden und Adorno und Horkheimer hätten seine Kampagne als kulturindustrielles Produkt entlarvt, das die Massen mit schlichten, aber starken Reizen manipuliere, dressiere, steuere.[44] Die für die Frankfurter Schule ganz selbstverständliche hierarchische Asymmetrie zwischen Kunst und Kulturindustrie, zwischen „high culture“ und „low culture“ bestimmt die bereits skizzierten populärsten Populismus-Theorien und auch eine Vielzahl der Beobachtungen und Analysen, die Trump gewidmet sind: In der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung ist immer wieder auf „Trumps Rüpelhaftigkeit“ hingewiesen worden.[45] Trump sei vulgär.[46] In einem jüngeren Artikel von Kommunikations- und Politikwissenschaftlern wird konstatiert:
„A common narrative portrays Donald Trump as impetuous and quick to anger, thin skinned, constantly lying, brazen, vulgar, and boasting a grandiose sense of self and his accomplishments.“[47]
Wie konnte nur dieser vulgäre, unberechenbare, narzisstische, sexistische Clown eine Wahl gewinnen und Präsident werden? An diese Frage, so kritisiert Philip Manow im Merkur diesen Diskurs, wird gerne die Vermutung angeschlossen, es könne etwas mit den Wählern nicht stimmen, die offenkundig „Idioten“ sein müssten,[48] Verführte oder Schlimmeres. „Trump did extremely well with voters that some analysts have called ‘white trash’“.[49] Wie konnte noch am Tag der Wahl am 3. 11. 2020 „a rude, vulgar, and sexist president[]“[50] gute Chancen auf eine zweite Amtszeit hegen?
Die Popularität Trumps stößt auf größte Ablehnung, und diejenigen, die Trump zur Beachtung verhelfen, geraten unter Generalverdacht, genauso aggressiv, sexistisch, rassistisch, vulgär und ignorant zu sein wie ihr Präsident. Seine 74.224.501 Wähler werden abgewertet, herabgesetzt, delegitimiert. Trumps Fans und Wähler, die ihn popularisieren, gelten als schnell erregbare und leicht manipulierbare Anhänger simpelster Freund-Feind-Unterscheidungen und Stereotypen, sie seien ungebildet, ja „trash“. Gemäß der populärsten Populismusdefinitionen kann es gar nicht anders sein. Es sind „Massen“ von Verlierern und Abgehängten, die sich durch demagogische, emotionale, simplifizierende und zuspitzende Mittel erregen, mobilisieren und steuern lassen.
Dieses Kommunikationsmuster der Exklusion führt aber nicht zu einer Lösung des Populismus-Problems, sondern zu seiner Verschärfung. Denn all diese Exklusionsgesten und Abwertungen steigern die Popularität, die Trump ausmacht und auf die er selbst in vielen seiner Tweets, auf seinen Rallies, in seinen Reden immer wieder verweisen kann, um die eigene Position zu legitimieren. Selbst auf seine eigene Popularität zu verweisen, gehört zum Tagesgeschäft des Präsidenten, und dass er von vielen beachtet wird, ist selbst sehr leicht zu beobachten, sei es an den digitalen Countern der Beachtungsmessung in den sozialen Medien, sei es in der Präsenz der vielen Anhänger auf seinen öffentlichen Veranstaltungen – und auch an seinen vielen Gegnern, die sich online wie offline bemerkbar machen. Die Popularität Trumps aber dient der Legimitierung politischer Entscheidungen und Positionen.[52]
Umgekehrt steht die Diskursivierung dieser Positionen Trumps als unerwünschter, bedrohlicher Popularität, die keine Beachtung verdienen, vor einem demokratietheoretischen, normativen Problem. Trump und seine Wähler werden herabgesetzt und verachtet; die Forderung, sie aus dem politischen System zu exkludieren, ist weitverbreitet. Aber wie ließe sich begründen, dass diese politische Position, die von vielen beachtet wird, keine Beachtung verdient hätte? Sich am liebsten ein „anders Volk“ wählen zu wollen, wie Philip Manow diejenigen verspottet, die den Wählern vorhalten, anders zu wählen (Trump, AfD…), als sie es sich wünschen, trägt zum Verständnis der Populismen nicht viel bei. Die Exklusionsversuche („die dürften eigentlich gar nicht wählen“) sind schwer zu legitimieren und fördern allenfalls jenes Gefühl der Herabsetzung, das nicht nur Trump erfolgreich bewirtschaftet.[53]
Die vielen, die Trump beachten, verhelfen aber nicht nur den Populisten zu seiner großen Popularität, sondern verschaffen sich zugleich auch selbst Beachtung. Nicht nur Trumps Tweets finden größte Resonanz, auch die vielen Retweets, Likes und Kommentare werden ihrerseits retweetet, geliked oder kommentiert. Die Inklusion durch das Populäre gelingt. Selbstverständlich reagieren viele Kommentare empört, kritisch, polemisch oder abwertend auf Trumps Tweets und auf die Tweets seiner Anhänger. Zugleich lässt sich aber die große Beachtung nicht leugnen, die Trump und seine Fans finden – und die Versuche zu begründen, warum ihre Positionen und Meinungen keine Beachtung verdient hätten, führt in repräsentativen, freiheitlich verfassten Demokratien in die geradezu paradoxe Situation, im Namen der Demokratie, der Verfassung, der guten Regierung usw. Partizipationsrechte großer Gruppen der Bevölkerung zu bestreiten und die Legitimität ihrer Positionen in Zweifel zu ziehen. Die Unterstellung, die Popularität Trumps lasse darauf schließen, dass ihre Anhänger ungebildet, irregeleitet, manipuliert, unverbesserlich oder dumm seien und daher an der politischen Willensbildung erst gar nicht teilnehmen dürften, gerät unter Rechtfertigungsdruck – und alle Begründungsversuche rühren an das Böckenförde-Paradox, dass der demokratische Staat die „Voraussetzungen“, von denen er lebt, zwar pflegen, nicht aber durch „Verbot und Zwang garantieren“ kann. Sobald diese etablierten „Voraussetzungen“, die unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten kultureller Art, die Böckenförde im Blick hat, herausgefordert und damit expliziert werden, gerät der demokratische Staat in die Krise, weil sichtbar wird, dass er eben von Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht schaffen kann“. Gerade die Versuche, diese Voraussetzungen nicht kulturell, sondern durch staatliches Handeln zu schützen, lassen den Staat als „anfällig, empfindlich und gefährdet“ erscheinen.[54]
Die hohe Popularität populistischer Positionen führt in eine solche Krise, denn die nachweisliche und unübersehbare Beachtung der Populismen macht ja gerade deutlich, dass der kulturelle Common Ground, auf dem der „freiheitliche, säkularisierte Staat“ beruht, von diesem Staat selbst „nicht garantier[t]“ werden kann. Für Böckenförde ist es die „Kultur, eine kulturelle Grundlage, aus der staatstragendes Ethos und Gemeinsinn erwachsen“.[55] Die Popularität jener Positionen, die diese Grundlage aufkündigen, führt einerseits zu den vielen Versuchen, diese Popularität zu delegitimieren, und anderseits zu einer Verschärfung der Grundlagenkrise des Staates, weil die Verachtung und Herabsetzung von vielbeachteten Positionen selbst an den kulturellen Grundlagen des freiheitlichen Staates rühren. In einer Sonderbeilage der Zeitschrift Das Parlament zum Populismus wird festgehalten:
„Es gibt Kernbestände von Normen und Verhaltensweisen in einer Gesellschaft, die nicht verhandelbar sind. Sie können Einzelne und Gruppen in ihrer Privatsphäre schützen und vor Herabsetzung und Beleidigung bewahren.“[56]
Genau diese „Kernbestände von Normen und Verhaltensweisen“, das ist ja gerade die Sorge Böckenfördes gewesen, können sich aber sehr wohl als „verhandelbar“ erweisen, wenn sie nämlich ignoriert oder gar attackiert werden und diese Verletzungen des Common Grounds eine solche Popularität erlangen, dass sie nicht ohne weiteres als extremistische Position auszugrenzen sind, sondern zu einer Aushandlung der „Normen und Verhaltensweisen“ zwingen, deren Notwendigkeit zugleich demonstriert, dass es die nichtverhandelbaren „Kernbestände“ nicht gibt. Gerade in der Abwehr populärer Populismen verlieren die Kernbestände ihren Latenzschutz. Was etwa der Anstand demokratisch gewählter Abgeordneter oder die Würde eines Amtes erfordern, also vermeintliche Selbstverständlichkeiten, erscheint nunmehr – nicht nur in den USA – als prekär.
Populären Positionen und Personen nun mit „Herabsetzung und Beleidigung“ zu begegnen, wie es sehr häufig der Fall ist, führt nicht zu reuiger Besserung der fehlgeleiteten, manipulierten, enragierten Massen, sondern zur Skandalisierung der Herabsetzung. Der Nachweis, dass AfD-Wählerïnnen schlechter gebildet sind, schlechter verdienen, starke Ressentiments gegen „Fremde“ und „Politiker“ hegen und die eigene Lebensführung wie die der deutschen Gesellschaft als ganzer ökonomisch wie kulturell für gefährdet halten,[57] unterstützt – genau wie die oben angeführten populären Populismus-Tutorials – jene asymmetrische Semantisierung, die der Populist für die Popularisierung seiner Positionen benötigt: Gerade seine Etikettierung als vulgär, dumm, unseriös, brutal usw. befeuert die weitere Unterstützung durch diejenigen, die sich genauso beschrieben glauben. Die Exklusionsversuche verstärken die Inklusion in die populistische Kommunikation. Dass dieser Popularitätsspirale der Social Media, welche die normalistische, von Noelle-Naumann berühmt gemachte „Schweigespirale“[58] der alten analogen Massenmedien abgelöst zu haben scheint, wiederum mit Delegitimationsversuchen begegnet wird, führt zur weiteren Popularisierung der Populismen. Die der bedrohlichen Popularität entgegengebrachte Empörung oder Verachtung führt nicht zum Verstummen der Populismen, sondern in die Krise der kulturellen Voraussetzungen des demokratischen Staates.
Zusammenfassung
1. Der Ausgangspunkt dieses Beitrages ist die These, dass unter dem Label „Populismus“ nur solche Positionen, Interventionen, Meinungsäußerungen etc. als Brüche mit gesellschaftlichen Usancen, dem Common Ground, dem Boden der Verfassung, den guten Sitten etc. abgelehnt werden, die populär geworden sind und nachweislich (also nach Zahlen) hohe Beachtung gefunden haben. Aus dieser Beachtung durch viele und der gleichzeitigen Ablehnung durch Gatekeeper, traditionelle Eliten etc. geht „bedrohliche Popularität“ hervor. Sie wird von beiden Seiten so gesehen: Von denen, die mit ihren Positionen die etablierten Ordnungen attackieren, und von denen, die diese Positionen als Herausforderung erfahren, als Bedrohung des Gemeinwesens, der Demokratie etc. ausgeben und zu exkludieren suchen. Beides setzt den Common Ground politischer Wissensbildung und die kulturellen Voraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaates aufs Spiel.
2. Die Exklusion populistischer Positionen muss gerechtfertigt werden, und zwar deshalb, weil sie nachweislich populär sind. Man kann große Zahlen nicht einfach ignorieren; und die Positionen verschwinden nicht mehr nur deshalb, weil sie nicht der Mehrheitsmeinung entsprechen. Es genügt, dass eine Person oder Position die Beachtung von vielen findet. Und die Zustimmung bzw. Beachtung wird im Zeitalter sozialer Medien und ihrer digitalen Counter stets instantan registriert und repräsentiert. Die Exklusionsversuche („es sind Populisten“ / „wir sind Demokraten“, es sind „‘low information voters’”[59] / wir sind gut informierte, mündige Bürger) müssen gerechtfertigt werden; und diese Legitimationsversuche kommen ohne Explikationen nicht aus, nehmen daher Usancen, Traditionen, Sitten ihren Latenzschutz und verwandeln sie in Kontingenzen. Insofern es sich bei Populismen nicht um Justiziables handelt, kann der Staat mit seinen Mitteln von „Verbot und Zwang“ nichts tun, obschon seine Voraussetzungen erodieren.
3. Die Abwehr der „bedrohlichen Popularität“ als unanständig, unmoralisch, böse, totalitär, intolerant etc. sorgt zugleich für ihre permanente Thematisierung in den alten und neuen Medien und verstärkt so weiter ihre Popularität. Umgekehrt können die Vertreter dieser Positionen eine große und sogar wachsende Gefolgschaft für sich reklamieren: Wie in der Populärkultur üblich, rechtfertigt die Popularität die Legitimität ihrer Positionen. Die „Selbstlegitimierung der Medienindustrie durch die Logik der Quote“ hat in den politischen Raum erfolgreich Einzug gehalten.[60]
4. Populismus ist bedrohliche Popularität. Je populärer, desto bedrohlicher.
Anmerkungen
[1] Dagmar Ellerbrock u.a.: Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2, 2017, Heft 1, S. 2–24, hier: S. 6.
[2] Niels Werber: Populismus und Herablassung, in: Zwischen Feindsetzung und Selbstviktimisierung. Gefühlspolitik und Ästhetik populistischer Kommunikation, hg. v. Lars Koch, Torsten König, Frankfurt/Main, New York 2020, S. 63–84, hier: S. 82.
[3] Hannes Schrader: Auch Rezo ist das Volk, in: Zeit Campus vom 22.05.2019, https://www.zeit.de/campus/2019-05/youtuber-rezo-kritik-zerstoerung-der-cdu-amthor (zuletzt 21.12.2020).
[4] Vgl. [AFP/hof]: Kramp-Karrenbauers Rezo-Konter geht daneben, in: Die Welt vom 23.05.2019, https://www.welt.de/politik/deutschland/article194032923/YouTuber-Rezo-Annegret-Kramp-Karrenbauers-Konter-geht-daneben.html (zuletzt: 21.12.2020).
[5] O.V.: Offene Antwort an Rezo: Wie wir die Sache sehen, in: CDU.de vom 23.05.2019, https://www.cdu.de/artikel/offene-antwort-rezo-wie-wir-die-sache-sehen (zuletzt: 21.12.2020).
[6] Ellerbrock u.a. [Anm. 1], S. 7.
[7] Offene Antwort an Rezo [Anm. 5].
[8] Fridtjof Küchemann: Kommt damit klar!, in: FAZ.net aktualisiert am 20.05.2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/youtuber-rezo-sorgt-mit-anti-cdu-video-fuer-aufregung-16197065.html (zuletzt 11.01.2021).
[9] Roman Widder: Streit, Infamie, Hass: Figuren der Kritik im Fragmentenstreit, in: Hass/Literatur. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte, hg. v. Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum, Bielefeld 2019, S. 261–290, hier: S. 283.
[10] Naemi Goldapp: Youtuber postet vernichtendes Video über die CDU. Rezo appelliert an junge Menschen, zur EU-Wahl zu gehen, in: Frankfurter Rundschau, 22.05.2019, S. 4.
[11] Andreas Briese: YouTube Rewind: Das sind die erfolgreichsten Videos des Jahres, in: YouTube Official Blog vom 05.12.2019, https://blog.youtube/intl/de-de/culture-and-trends/youtube-rewind-das-sind-die/ (zuletzt 11.01.2021).
[12] Offene Antwort an Rezo [Anm. 5].
[13] A. Poleshova: Social Networks mit den meisten Nutzern weltweit 2020, in: statista.com vom 14.08.2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181086/umfrage/die-weltweit-groessten-social-networks-nach-anzahl-der-user/ (zuletzt 11.01.2021).
[14] Offene Antwort an Rezo [Anm. 5].
[15] Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste (64 Bde.), Bd. 9 (1731–1754), Spalte 199.
[16] Jürgen Fohrmann: Ruhm, Popularität, Populismus. Analyse eines Beziehungsgeflechts [Typoskript], S. 19f.
[17] Offene Antwort an Rezo [Anm. 5].
[18] Vgl. zu Vertrauen und Misstrauen Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität [1968], Stuttgart 1989.
[19] Thomas Hecken: Populäre Kultur. Mit einem Anhang ‚Girl und Popkultur‘, Bochum 2006, S. 85.
[20] Dies gilt gerade auch für Parteien, die keine Beachtung finden sollen und deren Wählergruppen für ihre Wahl kritisiert oder exkludiert werden. Vgl. Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Berlin 2020, S. 17.
[21] Bernhard Weidenbach: Umfrage zu den unbeliebtesten Personen bei Kindern und Jugendlichen 2019, in: statista.com vom 11.01.2021, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/461160/umfrage/unbeliebteste-personen-bei-kindern-und-jugendlichen/ (zuletzt 11.02.2021).
[22] Vgl. auch Thomas Hecken: Der populäre Donald Trump, in: Pop. Kultur und Kritik 6, 2017, Heft 10, S. 10–21.
[23] Karin Priester: Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt/Main, New York 2012, S. 12; Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 277–285.
[24] Populismus: Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, hg. v. Frank Decker, Wiesbaden 2006, S. 96.
[25] Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?, Berlin 2016, S. 11.
[26] Vgl. die Kritik von Wolfgang Knöbl: Über alte und neue Gespenster. Historisch-systematische Anmerkungen zum „Populismus“, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 25, 2016, Heft 6, S. 8–35.
[27] Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. Opladen 1996, S. 14.
[28] Müller [Anm. 25], S. 26.
[29] Urs Stäheli: Das Populäre als Unterscheidung – eine theoretische Skizze, in: Popularisierung und Popularität, hg. v. Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz, Köln 2005, S. 144–167, hier: S. 154.
[30] Ebd., S. 159.
[31] Urs Stäheli: Spektakuläre Spekulation: Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt/Main 2007.
[32] Vgl. Philip Manow: „Dann wählen wir uns ein anderes Volk…“ Populisten vs. Elite, Elite vs. Populisten, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 72, 2018, Heft 4, S. 5–14; Manow [Anm. 20], S. 53.
[33] Abgerufen am 08.02.2020, 8:57 Uhr. Am 02.01.2021 um 18:30 Uhr sind es 1.690.000 Ergebnisse. Die erste Seite der Suche sieht aber noch immer genauso aus wie vor einem Jahr. Das heißt, die power law distributions halten den head (die populärsten Ergebnisse) recht stabil, während das lange tail ohnehin kaum Beachtung findet. Vgl. Albert-Laszlo Barabasi: The New Science of Networks, Cambridge (Mass.) 2000.
[34] Ebd.
[35] Bettina Heintz: Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948–2010, in: Soziale Systeme 18, 2012, Heft 1–2, S. 7–39.
[36] Vgl. Müller [Anm. 25]; Dirk Jörke, Veith Selk: Theorien des Populismus. Zur Einführung, Hamburg 2017, S. 79–88; Decker [Anm. 24]; Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld 2019; Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018, S. 14f.
[37] Tim Spier: Was versteht man unter „Populismus“?, in bpb.de vom 25.09.2014, http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/192118/was-versteht-man-unter-populismus (zuletzt: 11.01.2021).
[38] Vgl. Niels Werber: Donald Trumps Medien, in: The Great Disruptor. Über Trump, die Medien und die Politik der Herabsetzung, hg. v. Lars Koch, Tobias Nanz, Christina Rogers, Stuttgart, Berlin 2020, S. 115–133 und Anne Ulrich: »He quickly became obsessed« – Donald Trump und die Medienlogik der Quote, in: Trump und das Fernsehen. Medien, Realität, Affekt, Politik, hg. v. Dominik Maeder u.a., Köln 2020, S. 83–123.
[39] Peter Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/Main 2000, S. 46.
[40] Peter Strohschneider: POTUS als Twitterer, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 12, 2018, Heft 3, S. 61–75, hier: S. 62, S. 65.
[41] Ebd., S. 65.
[42] Norman Birnbaum: Trump is Here to Stay, in: The Political Quarterly 89, 2018, Heft 4, S. 695–701.
[43] Manow [Anm. 32], S. 5, S. 7.
[44] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt/Main 1986, S. 128–176.
[45] Lars Koch, Tobias Nanz, Christina Rogers: Donald Trumps Medien, in: The Great Disruptor. Eine Annäherung, hg. v. Lars Koch, Tobias Nanz, Christina Rogers, Stuttgart, Berlin 2020, S. 1–19, hier: S. 1.
[46] Ebd., S. 12.
[47] Alessandro Nai, Ferran Martínez i Coma, Jürgen Maier: Donald Trump, Populism, and the Age of Extremes: Comparing the Personality Traits and Campaigning Styles of Trump and Other Leaders Worldwide, in: Presidential Studies Quarterly 49, 2019, Heft 3, S. 609–643, hier: S. 609.
[48] Manow [Anm. 32], S. 5.
[49] Manuel Castells: Rupture: The Crisis of Liberal Democracy, Cambridge 2018, S. 76.
[50] Jorgen Johansen: The Impact of Populist Presidents an Public Discourse, in: Trumpism: The Politics of Gender in a Post-Propitious America, hg. v. Laura Finley, Matthew Johnson, Newcastle upon Tyne 2018, S. 35–55, hier: S. 49.
[51] Vgl. Werber [Anm. 38].
[52] Ulrich [Anm. 38], S. 113.
[53] Vgl. Georg Seeßlen: Trump! Populismus als Politik, Berlin 2017, S. 62. Dazu auch: Zwischen Feindsetzung und Selbstviktimisierung. Gefühlspolitik und Ästhetik populistischer Kommunikation, hg. v. Lars Koch, Torsten König, Frankfurt/Main 2020.
[54] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht: Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, Berlin 2011, S. 479.
[55] Ebd., S. 480.
[56] Karlies Abmeier: Zur Fragwürdigkeit von verschwiegenen Bereichen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: 62, 2012, Heft 5–6 [Populismus], S. 37–42, hier: S. 41f.
[57] Vgl. etwa Susanne Rippl, Christian Seipel: Modernisierungsverlierer, Cultural Backlash, Postdemokratie, in: KZfSS. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70, 2018, Heft 2, S. 237–254.
[58] Elisabeth Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung: Die Entdeckung der Schweigespirale, Frankfurt/Main 1989; Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997.
[59] Birnbaum [Anm. 42], S. 700.
[60] Ulrich [Anm. 38], S. 89.
Literaturverzeichnis
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Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Halle, Leipzig 1731–1754.
Nähere Hinweise zum Band „Polemische Öffentlichkeiten“ (Transcript Verlag), aus dem dieser Aufsatz stammt: hier.