Genie, Künstler, zerstreuter Professor, Nerd – und jetzt?
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 120-143]
Die erste Folge der seit Mai 2019 ausgestrahlten und von der »bildundtonfabrik« produzierten deutschen Netflixserie »How to Sell Drugs Online (Fast)« trägt den Titel »Nerd Today, Boss Tomorrow«. Das ist zugleich das Motto der bislang sechs Episoden umfassenden Coming-of-Age-Comedyserie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die »Generation Z« zu beschreiben: »Jeder von uns hat das gesamte Wissen der Menschheit in der Hosentasche, könnte mit einem Klick berühmt werden, von seinem Kinderzimmer aus die Welt verändern, unbegrenzte technologische Möglichkeiten«.
Auf diese Weise fasst Moritz Zimmermann seine Alters- und Zeitgenossen zu Beginn der ersten Folge zusammen. Er steht im Zentrum des Seriengeschehens und sieht keinesfalls zufällig so aus wie Mark Zuckerberg in »The Social Network«, David Finchers Verfilmung der Entstehungsgeschichte von Facebook aus dem Jahr 2010. Moritz wird nicht nur von anderen als Nerd wahrgenommen, vorher inszeniert er sich bereits selbst als solcher. Er interessiert sich mehr als alle anderen für Computer- und Informationstechnologie, und mit einem Freund arbeitet er an der Programmierung eines aufwendigen Onlineshops mit dem Namen »Mytems«, das »Ebay für Onlinegamer«. Lisa Novak, die erste und einzige Freundin von Moritz, trennt sich nach ihrem Auslandsjahr von ihm. Ähnlich wie Mark Zuckerberg mit Facebook in »The Social Network« plant er nun, mit dem Shop für Game Items Millionär zu werden, denn dann käme »Lisa von ganz alleine zurück«.
An Moritz’ Zimmerwand hängt ein Foto von Steve Jobs, darunter dessen bis heute bekanntester Slogan aus der gleichnamigen Apple-Werbekampagne von 1997: »Think Different«. Moritz hat ihn sich zum Lebensmotto gemacht. Sosehr er sich im digitalen Zeitalter wähnt, in dem alle Menschen die Möglichkeit besitzen, ihre Kreativität unbegrenzt zum Ausdruck zu bringen, sieht er aber niemanden mehr, der »Anderes denkt«: »Keiner versucht mehr etwas Besonderes zu sein. Warum auch, man kann ja im Internet einfach so tun, als hätte man das aufregendste Leben der Welt. Und in der Realität – naja.« Für Soziale Medien interessiert er sich offenkundig reichlich wenig; dass er wenig Kompetenzen in zwischenmenschlicher Kommunikation besitzt, markiert ihn ebenfalls als Nerd. Nerd zu sein ist für Moritz allerdings keine Beleidigung, er ist im Gegenteil sogar sehr froh darüber, »schließlich waren alle erfolgreichen Menschen mal unbeliebte Nerds, Typen wie wir, die von allen für Looser gehalten werden, bis es irgendwann Klick macht und wir es allen zeigen.«
Hier bestätigt sich das Motto der Serie: »Nerd Today, Boss Tomorrow« bzw. die als filmisches Narrativ bereits etablierte und sog. ›Rache des Nerds‹ (Thomas Vasek). Längst gehört sie zum festen Bestandteil der Nerd-Figur; sie vollzieht sich durch den späteren Sieg, etwa den (finanziellen) Erfolg im Erwachsenenleben. Sosehr der Nerd als Teenager aufgrund seiner Andersartigkeit verspottet wird, sei ihm ein später Triumph über seine Peiniger sicher, lautet der Plot. Indem Moritz von Beginn an nach diesem Motto handelt und lebt und Steve Jobs als Vorbild in seinem Jugendzimmer hängen hat, thematisiert die Serie nicht nur das Narrativ selbst, sondern auch seine Folgen: Die Popularisierung der Nerd-Figur. Nerd zu sein, ist durchaus wünschenswert und sogar lukrativ, und nicht etwas, das lediglich den Außenseiterstatus betont.
Dieser Image-Wandel hat sich allerdings nicht erst in den letzten Jahren vollzogen, sondern findet schon seit den 1980ern statt. In zahlreichen Serien, Filmen, Dokumentationen, Medienberichten, Aufsätzen hat sich erst das Narrativ der Rache verfestigt und schließlich auch die Diagnose des Image-Wandels etabliert. Gekoppelt ist das nicht zuletzt an den Erfolg von Computer-Start-up-Unternehmern wie Steve Wozniak oder Steve Jobs, die immer wieder zum Großthema der Medien wurden und in ihren Biografien den Mythos der Rache entfalteten. Wurde der Nerd in Teenagerfilmen bis in die 1980er Jahre noch tendenziell als asozialer unhygienischer Eigenbrötler beschrieben, wird er in Serien wie »Big Bang Theorie« als sympathischer Insider gezeigt, als Eingeweihter, der alle Codes durchschaut, knackt und daher nicht nur die technische, sondern auch die gesellschaftliche Gegenwart prägen kann. Mittlerweile ist ›nerd chic‹ daher sogar ein Modetrend und ›nerd is the new cool‹ ein beliebtes Internetmem. »While some see them as the crazy ones, we see genius«, hieß es in der besagten »Think Different«-Kampagne von Apple 1997. Darüber herrscht heute Konsens.
Nun zeigt »How to Sell Drugs Online (Fast)« eine Welt, in der sich nicht nur alle auf das Narrativ ›Nerd Today, Boss Tomorrow‹ verständigt haben, sondern es einigen bereits ein Vorbild, ein Lebensmodell, eine Zielstellung geworden ist. Und es ist wohl kaum ein Versehen, dass die Serie keine Erfolgsgeschichte darstellt, sondern von einem Jungen erzählt, der zwar Nerd sein und damit Boss werden will, und auch danach handelt – aber schließlich scheitert. Auf seinem Onlineshop wird Moritz nämlich keine Game Items, sondern Drogen verkaufen (nicht, weil er diese selbst konsumiert, sondern ebenfalls um seine Freundin zurückzugewinnen) und deshalb am Ende verhaftet werden. Die Serie kann somit als Symptom für einen neuen Wandel der Nerd-Figur gedeutet werden, die – um es an dieser Stelle wenigstens kurz angedeutet zu haben – so ›in‹ ist, dass sie schon wieder ›out‹ ist.
Was ist ein Nerd?
Was ist der Nerd für eine Figur? Für die meisten stellt er sich als eine Person mit vermeintlich spezifischen Charakteristika (z.B. asozial, autistisch, schlau) und einem ebenso spezifischen optischen Erscheinungsbild (z.B. klein, untrainiert, ungepflegt, Brillenträger) dar. Allerdings ist durch den Nerd keine individuelle Person benannt, sondern verschiedene Personen mit ähnlichen bis gleichen Eigenschaften; er repräsentiert einen Typus, der dazu dient, Menschen nach bestimmten Schemata zu klassifizieren und sich damit innerhalb gesellschaftlicher Gruppen zu orientieren.
Wenngleich es reale Personen gibt oder gegeben haben mag, die den Charakteristika der Nerd-Figur entsprechen bzw. entsprachen, ist die Figur selbst nie real. Denn der Nerd ist entweder von vornherein eine fiktive Figur, man denke an Sheldon aus »Big Bang Theory«, oder sie dient der Fiktionalisierung einer realen Person, wenn etwa der »Stern« über den Ruhestand des Microsoft-Gründers Bill Gates titelt: »Der mächtigste Nerd tritt ab«. Die Figur des Nerds ist zwar selbst konstruiert, korreliert aber mit den realen Personen, die sich durch sie klassifizieren lassen. Sosehr der Begriff ›Nerd‹ fiktiv ist oder der Fiktionalisierung dient, geht ihm doch ein reales Phänomen – Personen aus der Erfahrungswelt vieler, die sich deshalb auf den Begriff verständigt haben – voraus. Das ist vor allem durch die fehlende etymologische Herkunft des Begriffes belegt; bevor er im heutigen Sinnzusammenhang aufkommt, gibt es bereits verschiedene Versuche, den Typus, den er benennt, anderweitig zu beschreiben. In Deutschland wird z.B. zunächst von ›Computerfreak‹ gesprochen, bevor der Begriff ›Nerd‹ aus dem Amerikanischen importiert wurde.
Sosehr das Wort in den letzten Jahrzehnten gleichblieb, ist doch eine Veränderung dessen festzustellen, was unter dem Begriff verstanden und von ihm repräsentiert wird. »How to Sell Drugs Online (Fast)« führt Moritz explizit als Nerd vor, nicht zuletzt mithilfe der Verwendung des Begriffs. Allerdings ließe sich durchaus anzweifeln, dass der Begriff hier richtig oder sinnvoll angewendet wird. Dem optischen Stereotyp entspricht Moritz jedenfalls nicht notwendigerweise. Er hat auch keine autistischen Züge, geschweige denn ein ungepflegtes Erscheinungsbild, wie viele andere, deutlich klischeehaftere Nerds. Die Frage, wer als Nerd zu bezeichnen ist, kann offenbar nicht so leicht beantwortet werden, wie man vielleicht vermuten würde. Auch ist es schwer, Prototypen zu finden, auf die sich die meisten Menschen ohne große Einsprüche einigen könnten. Die Nerd-Figur ist demnach nicht einfach über Eigenschaften oder (optische) Merkmale zu definieren, sondern vielmehr über ihre Verwendung, z.B. in Serien, aber auch darüber hinaus. Warum wird an der jeweiligen Stelle gerade die Nerd-Figur zum Einsatz gebracht, wozu wird sie benötigt?
Der Begriff ›Nerd‹ dient nicht dazu, eine Figur oder einen Typus aus der Vergangenheit nachträglich zu bestimmen, er steht vielmehr in wechselseitiger Beziehung zu kollektiven gegenwärtigen Erfahrungen und Beobachtungen. Nachdem aber der Begriff für die Figur gefunden wurde, wirkt er natürlich auf ebenjene zurück. Dadurch wird seine Bedeutung geschärft und bietet somit wiederum die Möglichkeit der Identifikation. Kann sich keiner mit der Figur identifizieren, ist sie nicht evident genug und wird sich auch nicht durchsetzen. Insofern ist eine Figur wie der Nerd angewiesen auf die Anerkennung von Rezipient*innen. Zeitgenossen müssen die Nerd-Figur skizzieren, schärfen und immer wieder bestätigen.
Der Nerd ist nicht nur eine Figur, er ist insbesondere eine Sozialfigur. Denn für Sozialfiguren gilt, was für andere Figuren nicht notwendigerweise gilt: Sie sind ein Werkzeug, »um denjenigen Fragen nachzugehen, die den Menschen der Gegenwartsgesellschaft ›unter den Nägeln brennen‹«, wie es in dem einzigen grundlegenden Aufsatz zur Sozialfigur (»Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose«, 2018) von Sebastian J. Moser und Tobias Schlechtriemen heißt. Sozialfiguren dienen den Menschen also dazu, sich zu artikulieren. Wie für die Sozialfigur charakteristisch, besitzt auch der Nerd eine Nähe zur sozialen Wirklichkeit, gibt diese aber nicht eins-zu-eins, sondern in Form eines figurativen Typus wieder. In der Sozialfigur werde »Sinn […] konfiguriert – und nicht definiert«, schreiben sie beiden Soziologen. Auch die Figur des Nerds akzentuiert und bündelt Merkmale sozialer Realität. Wer sie verwendet, will ein ganz bestimmtes Verhältnis zu bestimmten gegenwärtigen Phänomenen, Entwicklungen, Veränderungen zum Ausdruck bringen und verhandeln.
Der Nerd als Sozialfigur
Als Kategorie entstammt ›Sozialfigur‹ der Soziologie, ihre Erforschung wird aber selbst dort erst seit wenigen Jahren als eigenständiges Feld begriffen und ihre Untersuchung als Methode von Gegenwartsanalysen und »soziologischen Zeitdiagnosen« anerkannt und erarbeitet. In einem Sammelband über »Sozialfiguren der Gegenwart« definieren die Herausgeber Stephan Moebius und Markus Schroer Sozialfiguren explizit im Unterschied zu gesellschaftlichen Rollen, die sich »meist einer bestimmten Sphäre des Sozialen zuordnen« lassen, etwa »Wähler im politischen, Väter im familiären«. Sozialfiguren – und das ist trifft auch auf den Nerd zu – zeichnen sich dadurch aus, dass sie »die verschiedenen Sphären übergreifen. Für sie ist typisch, dass sie zwar aus verschiedenen Feldern stammen, ihre Tätigkeiten sich aber mehr und mehr verselbstständigen.«
Man muss demnach z.B. keine Diva ›sein‹, um als solche bezeichnet zu werden. Eine Sozialfigur kann ähnlich wie ein Begriff auch metaphorisch verwendet werden. Ein ›divenhaftes‹ Verhalten muss nicht alle Merkmale des Stereotyps in sich vereinen, wenige Aspekte reichen völlig aus. Auch die Figur des Nerds tritt längst nicht mehr nur in ihren Herkunftsbereichen (Computer und Technik, Comics und Spiele) in Erscheinung. Das wird deutlich, wenn Naturliebhaber »Nature Nerds« genannt werden. Sogar im Sportbereich ist etwa von »Basketball Nerds« die Rede, was zu der Vermutung anregt, dass die Verwendung des Begriffs mittlerweile sogar gerade dann besonders effektvoll ist, wenn er mit seiner ursprünglichen Bedeutung bricht oder nur noch in reduziertester Form daran erinnert (in diesem Fall die Konzentration auf ein ganz bestimmtes Fachgebiet, sei es nun Computer, Natur oder Basketball). Gleichzeitig handelt es sich dabei dann allerdings nicht mehr um eine sehr sinnhafte Verwendung. Sozialfiguren sind laut Moebius und Schroer »nicht mit Berufen oder Professionen gleichzusetzen«. So wenig wie die Diva ist auch der Nerd ein Beruf. Die beiden Sozialfiguren eint, dass sie als ›Berufung‹ beschrieben werden und Eigenschaften aufweisen, die man zwar ›naturgemäß‹ haben, keinesfalls aber erwerben, erlernen oder vorspielen kann.
Um als Ausdrucks- und Reflexionsform anwendbar und wirksam werden zu können, sprich von Zeitgenossen immer wieder bestätigt zu werden, müssen Sozialfiguren eine gewisse Popularität ausgebildet haben. Das gelingt ihnen, indem sie erstens schematisch dargestellt werden, damit sie evident und anschlussfähig sind. Zweitens müssen sie in Medien transportiert werden, auf die viele Menschen Zugriff haben. Deshalb werden sie nicht – oder zumindest nicht nur – von der Wissenschaft oder in der ›Hochkultur‹ hervorgebracht. Auf den Nerd trifft beides zu. Durch wenige einprägsame und anschauliche Merkmale – seien es optische, wie die Brille, oder habituelle, wie Tollpatschigkeit – ist er schnell und einfach zu erfassen, egal ob der Nerd jeweils als Held oder Anti-Held auftritt: Durch das karikaturartige Erscheinungsbild lässt er sich mit wenig Aufwand nachzeichnen, kopieren, wiederholen und damit verbreiten. Zudem tritt er (zumindest in klischeehaft vereinfachter Form) überwiegend in Massenmedien auf, hauptsächlich in Filmen und Fernsehserien, Comics, Zeitgeistartikeln, Werbung und Internetphänomenen (z.B. Memen). Darüber hinaus ist der Begriff ›Nerd‹ Bestandteil der Alltagskommunikation.
Sozialfiguren verdichten zeitgenössische gesellschaftliche Erfahrung. Aber nicht alle, sondern nur solche, die auch wahrnehmbar sind: »Unter Rückgriff auf Sozialfiguren werden krisenhafte Erfahrungen artikuliert, auf die es noch keine klaren oder gar institutionalisierten Antworten gibt«, erklären Moser und Schlechtriemen. Hier stellt sich das Entwerfen von Sozialfiguren als eine Kompensation von (politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, technischen) Veränderung dar, von »Tendenzen […], zu denen sich die Zeitgenossen (noch) nicht klar positionieren können«, wie Moser und Schlechtriemen präzisieren. Zudem geht es um ein Erproben im Umgang mit diesen Veränderungen: »Sozialfiguren emergieren […] innerhalb von Praxisfeldern, in denen sich ein struktureller Wandel andeutet beziehungsweise sich in Ansätzen bereits vollzieht. […] In latenten Krisensituationen zeigen Sozialfiguren mögliche neue Reaktionen und Verhaltensweisen auf, die durch sie diktiert werden können.«
Inwiefern ist nun der Nerd als Sozialfigur Ausdruck eines strukturellen Wandels? Die Nerdfigur begegnet uns nicht nur, aber insbesondere im Bereich Computer und Technik. Entweder werden durch ihre Darstellungsweise die Umgangsformen (z.B. mit dem Computer) kritisiert (dann wird der Nerd als asozialer Außenseiter dargestellt) oder befürwortet (dann wird der Nerd als begabter Insider gezeigt). Häufig allerdings werden Nerds – und damit auch die in ihnen reflektierten Umgangsformen oder Entwicklungen – ambivalent gezeigt. Auch in »How to Sell Drugs Online (Fast)« wird kein eindeutiges Urteil über die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten (am Beispiel des Online-Drogenhandels) gefällt, es wird vielmehr durch Moritz, den Nerd, zur Diskussion gestellt, inwiefern es sich um eine positive freiheitliche Entwicklung handelt oder aber um eine nicht nur illegale, sondern auch gefährliche Bedrohung. Moritz ist den Zuschauern sympathisch, wenn er trotz der Schmähung durch seine Mitschüler den eigenen, abwegigen Gedanken und Ideen folgt. Er ist uns aber gleichermaßen unsympathisch, wenn er etwa viel zu wenig Reue zeigt, obwohl eine Mitschülerin durch die schlecht verträglichen Drogen, die sie in seinem Online-Shop erworben hat, ins Krankenhaus muss. Hier zeigt sich gut, wie die mithilfe der Figur über die gesamtgesellschaftlichen Wünsche, aber auch Ängste, die mit Veränderungen verbunden sind, nachgedacht wird. Insofern trifft auch zu, dass die Sozialfigur »ethisch-moralische Debatten« durchaus »initiiert und provoziert, ermöglicht und unterstützt«, wie es bei Moser und Schlechtriemer heißt, und dass sie vor allem »in Zwischenzeiten« Aufmerksamkeit erhält.
Es ist nicht schwer, nachzuweisen, dass die Nerd-Figur eng mit dem Aufkommen des ›Informationszeitalters‹ in Zusammenhang steht. In diesem Umfeld ist sie Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden und hat schließlich eine Popularisierung erfahren, die als Ausdruck einer zunehmenden Akzeptanz dieser neuen Technologien und eines neuen Technikoptimismus gedeutet werden kann. In der Nerd-Figur werden gezielt die überaus ambivalenten Gefühle und Einstellungen gegenüber dem technischen Fortschritt artikuliert. Dass er als Einzelgänger dargestellt wird, reflektiert die Sorge um die Isolation und Vereinsamung durch den zunehmenden Gebrauch und die (ausschließliche) Vernetzung mit Computern, die dem ›echten‹ Sozialleben nachstehe. Wenn er als nachlässig bezüglich der Körperhygiene gezeigt wird, dann spricht sich darin die Angst vor der Suchtgefahr der neuen Medien aus, die so immersiv und bindend sind, dass sie alle anderen noch so basalen Tätigkeiten in Vergessenheit geraten lassen. Dass Nerds in Filmen und Serien oft Teenager sind, die mit Computern und anderen technischen Hochleistungsgeräten ›spielen‹, die ursprünglich als Herrschaftswerkzeuge konzipiert wurden, reflektiert die Angst vor dem Kontrollverlust über all die Bereiche, in denen Computer wichtige und verantwortungsvolle Arbeiten übernehmen. Ja, das unverständliche Verhalten des Nerds gegenüber seinen Mitschülern steht sinnbildlich für die Unzugänglichkeit gegenüber dem, was mit Computern (und von wem) programmiert wird, und das Gefühl der Ohnmacht, das durch die Unfähigkeit seine Beschaffenheit und Funktionsweise im Detail zu verstehen, entsteht.
Selbstredend muss eine Zwischenzeit nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende besitzen. »Sobald innerhalb der sich wandelnden Verhältnisse neue normative Verhaltensstandards elaboriert werden konnten, verschwindet die Sozialfigur bzw. das ausgeprägte Interesse an ihr. Sie wird unattraktiv und gerät in Vergessenheit«, heißt es bei Moser und Schlechtriemen weiter. Hat der Begriff ausgedient, bleiben dennoch verschiedene Eigenschaften oder Charakteristika, die ihr nachgesagt werden, erhalten. Oftmals werden dann einzelne Funktionen einer solchen Figur durch andere, neue Sozialfiguren übernommen oder gehen zumindest teilweise in deren Charakterisierung ein.
Genie, Künstler, zerstreuter Professor, Nerd – und jetzt?
Die besagte »Think Different«-Kampagne von 1997 war deshalb so erfolgreich, weil sie eine Umdeutung vornahm und das vorwiegend schlechte Image von Nerds ins Positive gewendet und damit nachvollziehbar gemacht hat. Wie schon in dem Werbespot »1984«, mit dem im gleichen Jahr der Macintosh eingeführt wurde, ging es auch in »Think Different« darum, typische kulturpessimistische und technikskeptische Ressentiments abzubauen und umzukehren. Während in »1984« eine junge Frau sich und eine Gruppe ausdrucksloser Arbeiter, zu denen der ›Große Bruder‹ spricht, befreit, und der Hinweis gemacht wird, dass bei der Einführung des Macintosh alle erkennen werden, dass »1984 won’t be like ›1984‹«, also ganz grundsätzlich die dystopischen Erzählungen, die mit der Computer- und Informationstechnologie verbunden sind, und die potentielle Kritik an Entwicklungen, wie sie Apple forciert, vorwegnimmt und positiv umdeutet, wird Gleiches in der »Think Different«-Kampagne anhand von Sozialfiguren vorgenommen.
Der im Fernsehen ausgestrahlten Werbung lag ein Text zugrunde, der zugleich als eine Art Firmenphilosophie auf der Website veröffentlicht wurde. Ohne den Nerd explizit zu benennen wird er doch implizit durch eine Reihe von verwandten Figuren vor das innere Auge geholt, denn angesprochen werden hier (potenzielle) Computernutzer: »Here’s to the crazy ones. The mistfits. The rebels. The troublemakers. The round pegs in the square holes. The ones who see things differently. They’re not fond of rules. And they have no respect for the status quo. You can praise them, disagree them, quote them, disbelieve them, glorify or vilify them. About the only thing you can’t do is ignore them. Because they change things. They invent. They imagine. They heal. They explore. They create. They inspire. They push the human race forward. Maybe they have to be crazy. […] We make tools for these kinds of people. While some see them as the crazy ones, we see genius.“ Freilich war es nicht (nur) Apple, die durch entsprechende Kampagnen ein positives Bild der technischen Zukunft heraufbeschworen haben, vielmehr musste bereits eine optimistischere Einstellung dazu vorgeherrscht haben, damit die Werbung überhaupt auf Resonanz stieß. Und natürlich geht diese Entwicklung mit den technischen Veränderungen einher, mit der Etablierung des Heimcomputers und dessen zunehmender Benutzerfreundlichkeit. Dass nun jede*r die bisher rätselhaft erscheinenden Geräte wenn auch nicht verstehen, so aber wenigstens bedienen konnte, hat gewiss dazu geführt, den technischen Fortschritten mithilfe einer deutlich positiveren Gestaltung der Nerd-Figur optimistischer zu begegnen.
Interessant an dem »Think Different«-Werbespot ist aber nicht nur, dass er Zeichen des Image-Wandels des Nerds und mit ihm der neuen Medien ist, sondern auch, dass er erkenntlich macht, in welche Traditionen der Computernutzer eingereiht werden kann, welche Sozialfiguren ihm vorausgegangen sind, die deshalb nun wieder als Referenz herangezogen werden können: das Genie, der Künstler, der zerstreute Professor. Nur durch die Verknüpfung mit diesen Figuren konnte der Nerd fortan weniger mit mechanischen, automatischen, sondern mehr mit experimentellen, kreativen Vorgängen assoziiert werden. Er erhielt dadurch etwas, das bei der Gestaltung seiner Figur zwar bereits vorhanden war, bis dahin aber nicht im Zentrum stand: Authentizität. Seine Fähigkeiten waren nicht mehr eine notwendige Kompensation fehlender Sozialkompetenz, sondern eine Gabe. Aus einer dienenden Figur (weil sie technische Geräte ›bedienen‹ kann, aber von deren Leistungen und Möglichkeiten abhängig ist) wurde eine gestaltende, ja sogar schöpfende mit höchster Autorität, die nicht nur versiert, sondern geradezu virtuos im Umgang mit einem Werkzeug ist. Noch gesteigert wird diese Konnotation in einer benachbarten Figur, dem ›Hacker‹, die der Künstlerfigur insofern nähersteht, als sie ihre eigene Tätigkeit – einzelne ›Hacks‹ – durchaus auch unter ästhetischen Gesichtspunkten verhandelt und dabei, stets frei von Moralvorstellungen, viel deutlicher und auf eine beinahe romantische Art und Weise idealisiert oder als Held stilisiert wird, obwohl oder gerade weil ihre Tätigkeit illegal ist (etwa im Zuge der NSA-Affäre 2013). Selbst wenn die Figur des Hackers nicht durchweg positiv ausgestaltet ist, so wird ihr doch die Fähigkeit nachgesagt, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft zu unterlaufen.
Zurück zum Nerd: Nicht erst seit den einschlägigen Apple-Werbespots ist die Figur des Nerds in die Tradition von Darstellungsweisen besonders theorieorientierter und spezialisierter Personen einzuordnen. Von Beginn an wird er als Gegenfigur zu Protagonisten entwickelt, die für Popularität sehen, zum Beispiel im Teenagerfilm als Pendant zum Sportler. Während der Sportler in dieser Konstellation für das Beliebte steht, markiert der Nerd das Unbeliebte, Spezielle. Der Sportler gilt zwar als oberflächlich (wie die Populärkultur auch als oberflächlich gilt), wird aber deshalb auch von vielen verstanden; der Nerd wird hingegen nicht verstanden, weil nur wenige Zugang zu seinem Spezialwissen und dem damit verbundenen Verhalten haben. Der Sportler und der Nerd stehen damit exemplarisch für Mainstream- und Massenkultur auf der einen Seite und eine Spezialisten- und Insiderkultur auf der anderen Seite. Während der Sportler beispielhaft für Sichtbarkeit und Präsenz steht, wird der Nerd mit Unsichtbarkeit assoziiert – besonders aufgrund des Außenseiterstatus, der gerade wegen seiner Begeisterung für ein ganz bestimmtes Spezialgebiet entsteht. Ihre Konstellation ist demnach exemplarisch für die Spannungen zwischen Lebenswelt und Theorie.
Nun können verschiedene Figuren im Umfeld von Theorie, Wissenschaft oder Spezialisierung als Vorläufer des Nerds identifiziert werden. Ein populäres Beispiel ist gewiss der zerstreute Professor; er wird in Gestalt von Albert Einstein auch in der »Think Different«-Kampagne aufgeführt. Was eint den zerstreuten Professor und den Nerd? Zunächst kann man Ähnlichkeiten in der visuellen Darstellung ausmachen: beide werden als unattraktiv dargestellt, haben mal ungekämmtes Haar, manchmal eine Brille, bewegen sich weniger koordiniert als andere etc. Beide vernachlässigen ihr Äußeres, weil ihre Prioritäten bei dem jeweiligen Fach-, Spezial- oder Wissensgebiet liegt; sie werden somit als weniger sozial und lebensweltfremd dargestellt. Zudem wird beiden Figuren gleichermaßen Unverständnis für das, was sie tun und wofür sie sich interessieren, entgegengebracht. In positiven Darstellungen werden sie als genialisch gezeigt, in Negativdarstellungen wird ihre Tätigkeit nicht als relevant anerkannt, und die Figuren werden für ihr vermeintlich verrücktes (weil nicht verständliches) Verhalten ausgelacht und ausgestoßen. Beide Figuren werden also verwendet, um die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft und Fortschritt zu reflektieren.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem zerstreuten Professor und dem Nerd liegt darin, dass ersterer institutionell legitimiert ist – er ist schließlich Professor an einer Universität. Er kommt somit zur Anwendung, um zu zeigen, wie stabil die Gesellschaft und das wissenschaftliche System sind; all seine Verrücktheiten sind zulässig, da sie ungefährlich sind. Die Figur beginnt deshalb in dem Moment zu verschwinden, wo diese Ansicht nicht mehr vertreten wird, etwa in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, als die politische Lage durch die Bedrohung eines Atomkriegs verschärft und nach der Verantwortung von Wissenschaft und Forschung gefragt wurde. Friedrich Dürrenmatts Möbius ist ein verrückter Physiker, entzieht sich aber selbst der Legitimation, in dem er sich in die geschlossene Psychiatrie einweist.
Der Nerd war und ist hingegen keine offizielle, institutionell legitimierte Figur. Deshalb steht er für das Neue – und nicht für das Tradierte – und eignet sich nicht dazu, Stabilität darzustellen. Im Gegenteil: Er ist Ausdruck der Unsicherheit gegenüber dem neuen Bereich der Informations- und Computertechnologie, von der man in ihrer Anfangszeit und der Geburtsphase des Nerds noch nicht wusste, welche Konsequenzen, Vorteile oder Gefahren daraus entstehen. Dennoch leben die Ressentiments gegenüber einer ›Bildungselite‹ im Elfenbeinturm in ihm fort. Eine Kritik am Nerd entfaltet sich immer dann, wenn der technische Fortschritt kritisiert, wenn die mit ihm assoziierte digitale Kultur pessimistisch betrachtet wird. Thomas Ramge schrieb beispielsweise 2010 in »Brand eins« unter dem Titel »Im Schwitzkasten der Nerds – Programmierer haben die Welt verändert. Und uns von sich abhängig gemacht«: »Die Nerds mit ihrer technischen Allmacht. Die sich heute noch fühlen wie die Herren über die Großrechner in den Siebzigerjahren. Die im Keller, umringt von ihrem Raumschiffmaschinenpark, einer von Lochkarten und Magnetbändern gestützten Geheimwissenschaft nachgingen, von der alle anderen zunehmend abhängig wurden. Der Unterschied zu damals: Heute sitzen die Allmächtigen meist in kleinen Firmen, in denen sich sonst niemand für IT interessiert. Sie übernehmen in Personalunion den Einkauf der Hardware, betreiben als Administratoren das System samt Telefonanlage, haben die Website aufgebaut und sind immer zur Stelle, wenn irgendwo ein Computer streikt.«
Hier werden die typischen Nerdklischees wachgerufen, um ein düsteres Bild jener Gegenwart zu zeichnen, die von Nerds wesentlich mitgestaltet wird. Eine deutlich positivere Zukunft prognostizierte wiederum Thomas Vasek, ebenfalls in »Brand eins«, in seinem Artikel »Die Rache der Nerds« von 2010, wenn er bereits einleitend schreibt: »Sie ernähren sich von kalter Pizza, stehen auf Rollenspiele und haben schon in der Schule kein Mädchen abgekriegt – so viel zum Klischee. Dabei hätten Nerds einiges zu bieten. Zum Beispiel Antworten auf die Fragen von morgen.« Schließlich endet sein Text mit der Zeile: »Und ja, es gibt Frauen, die Nerds ziemlich erotisch finden.« Er referiert gezielt auf den Topos der Rache, um die mit dem Nerd assoziierten Tätigkeitsfelder und ihre Folgen für die Gesellschaft positiv zu bewerten. Denn: »Wer sagt, dass nur Sozialkompetenz den Weg zum Erfolg ebnet?«
In Deutschland ist der Nerd-Begriff und die damit in Zusammenhang gebrachte Figur erst 2009 öffentlichkeitswirksam in Erscheinung getreten – und zwar im Zuge des Aufstiegs der Piratenpartei. Insbesondere der von Frank Schirrmacher 2009 für die »FAZ« und angesichts der ersten Piratenpartei-Erfolge in Deutschland verfasste Artikel »Die Revolution der Piraten« trug zur Popularität des Motivs (und der Partei) bei. Darin nutzt er die Nerd-Klischees, um ihre Leistungen und ihre Fortschrittlichkeit zu rühmen: »Die Nerds, die die Sprites auf ihrem C-64-Homecomputer programmierten, während ihre Mitschüler in Clubs oder auf Demos waren, haben buchstäblich die Welt programmiert, in der wir uns heute bewegen […]. Nerds, heißt es, haben es in der Pubertät etwas schwerer als die Raver, eine Freundin zu finden. Das stachelt sie umso mehr an«, und diagnostiziert ihnen eine positive Zukunft: »Der Nerd ist ein Wunder der Technik. Aber jetzt wird er zu einem Wunder unserer Gesellschaft.« Ganz anders liest sich das überraschenderweise bei Sascha Lobo, der sich 2009 in seiner »Spiegel-online«-Kolumne ebenfalls mit den Piraten als Nerds auseinandersetzt: »Vernetzung ist ein sozialer Vorgang, und das Soziale ist dem Nerd nicht völlig fremd – wenn es zu seinen Bedingungen geschieht. Das aber funktioniert nur mit anderen Nerds wirklich gut, denn Berechenbarkeit ist nicht gerade die Grundeigenschaft sozialer Vorgänge. Das von den Nerds als nerdsoziale Nerdsphäre geschaffene Internet dehnt sich aus und durchdringt immer größere Teile der Gesellschaft, von Kultur, Politik, Wirtschaft. […] Für den Nerd – der die Welt mit Messwerten begreifen möchte – besteht die Welt aus Daten, und Daten sollen frei und unabhängig fließen, das ist die Funktion des Netzes. Dagegen besteht für den Kulturschaffenden die Welt aus Werken, und Werke sollen bleiben.« Lobo nutzt die typischen Merkmale der Nerd-Figur also, um sich gegen die Piratenpartei auszusprechen, die Unvereinbarkeit ihrer Forderungen und Ziele mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Status Quo zu betonen.
Sosehr der Nerd in den 1980er, 1990er und frühen 2000er Jahren durch Filme, Serien und vor allem Medienberichte eine positive Deutung erfuhr, ja, sogar zur Stilfigur avancierte, sosehr sich also seine ›Rache‹ vollzogen hat, deutet sich mit dem Text von Lobo bereits eine gegensätzliche Entwicklung an, die die Darstellung der Nerd-Figur in den vergangenen Jahren zunehmend geprägt hat. Wie die Piratenpartei ist auch die Nerd-Figur im Verschwinden begriffen und wird unter anderem abgelöst durch eine Figur, die derzeit viel diskutiert wird: der (alte) weiße konservative Mann. Die damals gängige Kritik an der Piratenpartei entspricht auch der gegenwärtigen Kritik am Nerd: Er ist zu männlich, zu sexistisch, zu chauvinistisch und zu privilegiert. Tatsächlich wird der Nerd überwiegend von Männern (wenngleich durchaus auch weibliche Nerds – Nerdettes – in Film und Fernsehen präsent sind, die sich dann aber am männlichen Stereotyp orientieren) und überwiegend von weißen Menschen verkörpert (eine gerühmte Ausnahme bildet hier Steve Urkel aus der 1990er-Serie »Family Matters«). Die Kulturwissenschaftlerin Lori Kendall kritisierte bereits 1999: »The possibility that the figure of the nerd will provide a position from which to form alliances across genders, races, and sexualities remains mainly unfulfilled.« Vielmehr würden die Nerds den aktuellen Zustand – die Herrschaft des weißen Mannes, des Patriarchats – unterstützen und sogar subtil fortsetzen, weil sie durch ihre vermeintlichen Schwächen und die Stilisierung als Randgruppe ihre Privilegien vergessen machen.
Heute ist dieser Vorwurf in amerikanischen Diskursen über den Nerd längst etabliert, 2016 beschrieb die Journalistin Vicky Osterweil den Nerd im »Real Life Mag« sogar als Faschisten bzw. den Faschisten als Nerd. Ihre These lautet, dass die heutige amerikanische faschistische Jugend nicht mehr stämmige »arische« patriotische »Jock« – der Sportler – sei, auch nicht der Springerstiefel und Bomberjacke tragende Nazipunk. Der faschistische Millennial sei ganz im Gegenteil der schmächtige, pickelige Nerd, der sich auf YouTube rechte Meme-Videos ansieht, EDM hört und schwarze Frauen auf Twitter belästigt.
In den deutschsprachigen Raum hat Adrian Daub diesen Diskurs importiert, wenn er in der »NZZ« über die »verklemmte Tech-Welt« berichtet, in der »Homosexualität [nicht] offen zelebriert« – wie gegenwärtig üblich –, sondern »im Verborgenen gelebt« wird. Zwar sei Nerdkultur traditionell stark homosozial, da sich in ihr die Männer überwiegend auch mit Männern umgeben, deshalb würden sie aber »Homoerotik […] umso entschiedener verbannen.« An der Entstehungsgeschichte von Facebook zeigt Daub, inwiefern Nerds von Beginn an Männer »mit lupenrein sexuellen Beweggründen« seien. Denn die Website sei nur deshalb gegründet worden, »weil sie [die Nerds] sonst keine Frauen kriegen.« Auch die Unterscheidung zwischen Plattform und Content sei stark sexuell codiert: »Die Programmierer stellen die Form, für den Inhalt sind die User zuständig – was pickelige Nerds am Computer erarbeiten, füllen gelangweilte Hausfrauen mit Rezensionen, Katzenbildern und Nachrichten über die Kinder.«
Hier deutet sich an, dass die Nerd-Figur nicht mehr so recht in das gegenwärtige Wertesystem passen will. Zum Ausdruck gebracht wird das etwa, indem neue Konkurrenzfiguren eingeführt werden. Während der Sportler als Gegenfigur immer weniger in Erscheinung tritt, etablieren sich gerade zunehmend andere, als unterdrückt anerkannte Gruppen als Gegenspieler: Homosexuelle, Schwarze und Frauen. So ist es Gerda, die in »How to Sell Drugs Online (Fast)« wegen einer Überdosis an dem in Moritz’ Onlinedrogenshop erworbenem MDMA ins Krankenhaus muss. Gerda, die einzige schwarze Person der Serie, wird ebenfalls in Opposition zu den populären Protagonisten entworfen – sie ist also wie Moritz eher eine Außenseiterin. Bei ihrem ersten längeren Auftritt äußert sie sich abfällig über die Beliebtheit und das gute Aussehen von Daniel »Dan« Riffert, dem Liebling aller Schüler. Gerda steht ebenfalls im Schatten ihrer angesagten Freundin, »Everybody’s Darling« Lisa; sie ist diejenige, die nach einer Party für die anderen sauber macht – ansonsten ist sie aber »nicht so die Partymaus«. In der Schule sitzt sie in der ersten Reihe, sie zockt exzessiv Computerspiele und sucht das Darknet auf. Gerda ist also im Grunde ebenfalls eine Nerdfigur. Sie ist in Moritz verliebt, der sich aber nicht im Geringsten für Gerda interessiert und sie bei all ihren Annäherungsversuchen immer wieder abweist. In diesen Momenten ist er den Zuschauer*innen besonders unsympathisch, weil er die Gleichgesinnte nicht als solche zu erkennen vermag.
In dem Wissen, dass Moritz, der Nerd, an seiner geplanten Rache scheitern wird, weil man ihn wegen Drogenhandels zu mehrjähriger Haft verurteilt, kann die Serie als Abschied der Nerd-Figur gedeutet werden. Womöglich benötigt man den weißen männlichen Brillenträger nicht mehr, um den versierten Umgang mit Technik zu thematisieren. Denn Computer- und Informationstechnik ist heute jedermanns Begleiter, sie wird nicht mehr von der Mehrheit infrage gestellt, weder von dystopischen noch utopischen Zukunftsvorstellungen begleitet, sondern ist selbstverständlicher Teil des Alltags geworden. Die Verwendung der Sozialfigur ›Nerd‹ ist nicht mehr gefragt, um etwas zu beschreiben oder zu verhandeln, mit dessen Umgang und Beurteilung man eine Zeitlang noch haderte. Offen bleibt hingegen, wie sich die Rolle von Gerda in den kommenden Staffeln entwickeln wird.
Literatur
Lobo, Sascha (2012): Das Nerd-Dilemma, in: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobos-kolumne-zu-piratenpartei-und-internet-nerds-a-826515.html [10.4.2012].
Moebius, Stephan; Schroer, Markus (Hg.) (2010): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt am Main.
Moser, Sebastian J.; Schlechtriemen Tobias (2018): Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose, in: Zeitschrift für Soziologie, 47 (3), Oldenbourg.
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