Ein demokratietheoretisches Problem
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 84-89]
Die Institution des Eigentums steht immer wieder im Mittelpunkt sozialer Konflikte. Dass die Eigentumsfrage eine hochpolitische Angelegenheit bleibt, zeigen die Auseinandersetzungen um die deutsche Wohnungsbaugesellschaft Deutsche Wohnen und die vom Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert begonnene Debatte um die Kollektivierung führender Unternehmen. Die Frage nach Eigentum und Enteignung ist deshalb keineswegs nur eine Angelegenheit der Ökonomie, sondern muss als demokratietheoretisches Grundsatzproblem behandelt werden.
In den meisten Ländern der westlichen Welt leben die Menschen unter gesellschaftlichen Bedingungen, die sich als demokratischer Kapitalismus oder auch kapitalistische Demokratie bezeichnen lassen. Die Unterscheidung von ›Kapitalismus‹ und ›Demokratie‹ ist insofern eine analytische (nicht unbedingt eine praktische), als es sich in beiden Fällen um Prinzipien handelt, die das gesellschaftliche Zusammenleben ordnen. Als ›kapitalistisch‹ wollen wir eine Ökonomie verstehen, deren Produktion und Verteilung von Gütern hauptsächlich über den Markt funktioniert. Zumindest in der Theorie wird die Produktion von privaten Anbietern nach dem Prinzip der Konkurrenz organisiert und zielt auf einen anonymen Markt. Eine starke Konzentration von Kapital in den Händen weniger – Rudolf Hilferding sprach in diesem Zusammenhang auch vom »Organisierten Kapitalismus« – bedingt nicht nur die Spaltung der Gesellschaft in Lohnabhängige und Kapitalisten. Die Verfügungsgewalt der Kapitalseite über die Produktionsmittel erlaubt es ihr außerdem, die Lebensbedingungen aller Menschen in weitreichendem Maße zu gestalten. Sie bestimmt nicht nur die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (mit), sondern auch die Entwicklung und Herstellung von Produkten und damit schließlich die Konsummöglichkeiten sowie deren etwaige ökologischen Folgen.
Den historischen Übergang in eine entsprechende Gesellschaftsordnung beschreibt Karl Marx im letzten Kapitel des ersten »Kapital«-Bandes mit dem Begriff der »Ursprünglichen Akkumulation« als »historischen Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel«. Um industrielle Produktion im größeren Maßstab etablieren zu können, musste der Staat die gewaltsame Enteignung der einzelnen Produktionsmittelbesitzer – wie im von Marx beschriebenen Fall der Expropriation der britischen Landbevölkerung im 15. Jahrhundert – organisieren. Eine grundsätzliche Restrukturierung der Eigentumsverhältnisse fände sich damit nicht bloß am Ende, sondern bereits zu Beginn kapitalistischer Entwicklung.
Ganz in diesem Sinne ist die Entwicklungsdynamik kapitalistischer Gesellschaften an den Zwang zur erweiterten Reproduktion des Kapitals gebunden. Diese Expansionsbewegungen des Kapitals lassen sich – anschließend an die Arbeiten von Rosa Luxemburg – als kapitalistische Landnahme zuvor nicht kapitalistischen Terrains beschreiben. Um kontinuierliches Wachstum zu gewährleisten, müssen kapitalistische Gesellschaften immer neue Bereiche des sozialen Lebens einem Warencharakter unterwerfen. Hieraus ergibt sich seine konflikthafte Entwicklungsdynamik, wie sie etwa in Auseinandersetzungen um die Inwertsetzung von Natur im Hambacher Forst, in wirtschaftlich bedingten Zwangsräumungen in ›Szenebezirken‹ oder Arbeitskämpfen zum Ausdruck kommt.
Bei der Demokratie wiederum handelt es sich um eine politische Organisationsform, der gemäß das (Wahl-)Volk die gesellschaftliche Ordnung selbständig legitimiert. Ihre übliche historische Form findet die Demokratie im Staat, dem sie – zumindest in den gängigen Konzeptionen – eine verfassungsmäßige Struktur vermittelt. Grundlegende Bezugspunkte dieser Ordnungsbildung stellen die Prinzipien von Gleichheit und Freiheit dar. Während Freiheit die (zumindest innerhalb eines bestimmten, z.B. kommunal oder national segmentierten Gemeinwesens) gültige Möglichkeit bezeichnet, sich an kollektiven Entscheidungen zu beteiligen, meint das Prinzip der Gleichheit die grundsätzliche Voraussetzung, dass diese Beteiligung (zumindest formal) unter allgemeingültigen Bedingungen stattfinden kann.
In kapitalistischen Demokratien ist das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ein genuin dialektisches. Denn wo das Prinzip der Gleichheit die Freiheit der Menschen grundsätzlich einschränkt, wenn sie diese daran hindert, ihre Fähigkeiten zum Schaden anderer einzusetzen, ermöglichen erst gleiche Partizipationschancen den Menschen, ihr Wahlrecht in Anspruch zu nehmen. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich besonders deutlich in einer der zentralen Institution kapitalistischer Demokratien – dem Eigentum.
Festgeschrieben in Artikel 17 der Menschenrechte sowie im Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes erlaubt das Recht auf Eigentum seinen Trägerinnen, über bestimmte Dinge zu verfügen sowie andere von der Verfügung auszuschließen. Mit Blick auf die genauen Konstellationen lässt sich hier zwischen privatem und kollektivem Eigentum unterscheiden. Für den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang strukturiert die Institution des Eigentums die gesellschaftliche Arbeitsteilung und gewährleistet Integration und Stabilität (mal mehr und mal weniger effektiv). Gleichzeitig können die normativen Implikationen von Eigentum in kapitalistischen Demokratien zumindest als umstritten gelten. Während das Grundgesetz im besagten Artikel zumindest eine lose Verbindlichkeit formuliert (»Eigentum verpflichtet«), lassen sich in der westlichen Kultur von der Sparsamkeit über die Mildtätigkeit bis hin zur enorm engagierten Ausweitung des Eigentums verschiedene Spielarten finden.
Wegen der hieraus entstehenden Diskrepanzen ist die Institution des Eigentums immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Diese ergeben sich vor allem aus der Struktur des Eigentums, welche individuelle und kollektive Interessen kollidieren lässt. Gemessen an der stabilitätsstiftenden Wirkung des Eigentums ist es vor allem die Konzentration individuellen Eigentums, die eine ausgewogene soziale Ordnung zur Disposition stellt (etwa wenn renitente Anlieger den Bau einer wichtigen Verkehrsstraße verhindern). Doch auch der demokratische Prozess selbst kann – wie im Falle einer Konzentration monopolistischer Medienmacht – gefährdet werden. Handlungsperspektiven bietet hier im politischen Repertoire das Instrument der Enteignung.
Im allgemeinsten Sinne bezeichnet der Begriff der ›Enteignung‹ den Entzug der Eigentumsrechte an bestimmten Dingen im Rahmen der geltenden Gesetze. Während die Konfiskation (etwa von illegalen Drogen oder Waffen) durch den Staat ersatzlos geschieht, ist für die Enteignung im juristischen Sinne eine Entschädigung vorgesehen, deren Höhe im Einzelfall festzulegen ist. Zwei verschiedene Formen der Enteignung lassen sich – abgesehen von Annexionskriegen, Landreformen und Revolutionen – je nachdem unterscheiden, welcher Gruppe das kollektivierte Eigentum zufällt. Zum einen beschreibt eine ›Verstaatlichung‹ (formaljuristisch in Artikel 15 des Grundgesetzes und ab den 1980er Jahren auch im alltäglichen Sprachgebrauch als ›Vergesellschaftung‹ bezeichnet) die Überführung bestimmter Güter an die öffentliche Hand. Zum anderen sieht die Umwandlung von Unternehmen in Genossenschaften die Übertragung ins private Eigentum der Beschäftigten vor. Die politische Begründung erfolgt – zumindest in Deutschland – in Bezug auf das Grundgesetz, welches Enteignungen (ebenfalls in Artikel 14) als »nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig« charakterisiert. Beide Formen unterscheiden sich allerdings entsprechend der Reichweite der Kollektivierung. Wer diese Allgemeinheit genau ist, lässt sich demnach unterschiedlich interpretieren.
In einem Anfang Mai 2019 erschienenen Interview mit der »Zeit« hatte der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert – wohl nicht zuletzt bedingt durch die geschickte Gesprächsführung der beiden Journalisten – zwei entsprechende Forderungen gestellt, welche sich auf die Enteignung von Unternehmen aus zwei Schlüsselbranchen der deutschen Ökonomie richteten – der Wohnungswirtschaft und der Automobilindustrie.
Mit seiner Forderung, Immobilienbesitzer, die mehr als 20 Wohnungen besitzen, zu enteignen, knüpfte Kühnert an eine Diskussion an, die vor allem in der Bundeshauptstadt Berlin seit einiger Zeit mit wachsender Vehemenz geführt wird. Unter dem Eindruck zunehmender internationaler Kapitalströme und eines in immer stärkerem Maße deregulierten Wohnungsmarktes hatten Wohnungsbaugesellschaften in Berlin im Laufe der letzten Jahrzehnte ihren Besitz an Wohnraum in der beliebten Metropole erweitert. Vor dem Hintergrund immer weiter steigender Mieten sowie einer Verdrängung der eingesessenen Bevölkerung aus ›ihren‹ Stadtteilen formierte sich eine Initiative zum Volksbegehren »Deutsche Wohnen enteignen«, deren Forderungen sich insgesamt auf die Enteignung aller in Berlin tätigen Konzerne im Besitz eines Kontingents von über 3.000 Wohneinheiten richtet (so z.B. die Unternehmen Akelius und Vonovia). Kühnerts im Interview geäußerte Kritik, er fände »nicht, dass es ein legitimes Geschäftsmodell ist, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten«, bedeutet in letzter Konsequenz, jeder solle »maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt«.
Es ist höchstwahrscheinlich kein Zufall, dass die momentan relativ große Popularität der Enteignungsforderung auf Häuser und Wohnungen in Großstädten beschränkt bleibt. Die frühere sozialistische Maxime der ›Vergesellschaftung‹ findet keine Resonanz, stattdessen erweist sich vielmehr der Bezug auf das ›Eigene‹, die ›Nachbarschaft‹, die ›gewachsene Lebenswelt‹, die ›sozialen Kontakte‹, die ›Vertrautheit‹ und ›Verwurzelung‹ als attraktiv – Vorstellungen, die aus marxistischer Perspektive als ›kleinbürgerlich‹ abzutun wären.
Mit einer metropolitanen, oberflächlichen Popkultur ist das ebenfalls schwer zu vereinbaren, hier liegen aber immerhin Bindeglieder bereit, die von der sehr publikumswirksamen, optisch hochgradig einprägsamen Alternativbewegung der 1970er Jahre gestiftet wurden. Zwar wollten ihre Protagonisten kein individuelles Eigentum erwerben, sondern bemühten sich um kollektive Praktiken, viele von ihnen waren jedoch nicht nur theoretisch bereit, kleine Bauernhöfe oder einzelne Altbauwohnungen gegen den Willen von Agrarunternehmen und Hausbesitzern zu bewirtschaften oder zu renovieren. Der Weg zu den erhofften großen Formen des geteilten, gemeinschaftlichen Eigentums lief hier über die Besetzung oder den Erwerb von Kleineigentum, er bestand in einer Aufhebung der Arbeitsteilung, wie sie nur in sehr überschaubaren, lokalen Zusammenhängen möglich ist. Trotz verbal noch oft stark linker Ausrichtung zeigt der ökologische Ansatz der Alternativbewegung bereits den Weg zu nicht sozialistischer Popularität. Sehr gut vermittelbar ist bis heute der (konservative) Aspekt der Bewahrung des ›organisch‹ Gewachsenen. Enteignungsvorschläge erfolgen nicht im Namen einer Entfesselung der Produktivkräfte, die von den Beschränkungen kapitalistischer Verfügung über die Produktionsmittel befreit werden sollen, sondern im Zeichen des ›Schutzes‹.
Darum ist es nur konsequent, wenn sich die Automobilindustrie nach dem jüngeren Abgasskandal – vor allem die Marken des VW-Konzerns, aber auch Daimler, Opel und BMW hatten in ihre Einheiten wissentlich unzureichende Abgasreinigungssysteme installiert – ebenfalls Enteignungsforderungen ausgesetzt sieht. Möglich wäre es aber auch, diese Forderung mit anderen Gründen vorzubringen. Neben sich verschärfenden ökologischen Problemlagen lässt sich insgesamt ein zumindest angespanntes Verhältnis der Branche zu ihren Gemeinwohlverpflichtungen erkennen, besonders mit Blick auf die Flexibilisierung sozialpartnerschaftlich gerahmter Beschäftigungsverhältnisse. Während die Stammbelegschaft bei Auftragsspitzen weiterhin von Sonderprämien profitiert, gibt das Unternehmen den Kostendruck häufig an Subunternehmer und Zeitarbeitsfirmen weiter und befördert so die Erosion sozialpartnerschaftlicher Arbeitsmarktpolitiken im liberalen Kapitalismus. Ähnlich wie bereits im Falle der Deutsche Wohnen lässt sich Kühnerts Forderung, BMW zu kollektivieren, demnach als Reaktion auf eine Sequenz kapitalistischer Landnahme im oben beschriebenen Sinne interpretieren.
Im (Presse-)Spiegel der Reaktionen auf Kühnerts Forderung offenbart sich die politische Brisanz der Enteignungsfrage. Beispielhaft für den Krisendiskurs: Während Mike Schier als stellvertretender Chefredakteur des »Münchner Merkur« den Juso-Vorsitzenden als »echten Hoffnungsträger« bezeichnet, der jetzt daran arbeite, sich mit »blühender Phantasie« ins »Aus zu manövrieren«, schreibt Johannes Kahrs, seines Zeichens Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, bei Twitter: »Was für ein grober Unfug. Was hat der geraucht? Legal kann es nicht gewesen sein.« Und während die »Bild«-Zeitung seine Vorschläge auf dem Titelblatt noch als »irren Vorstoß« bezeichnet, geht ihr täglicher Kolumnist Franz Josef Wagner so weit, Kühnert als »Universitäts-Lusche« ohne »schwielige Hände« zu diffamieren (wer, wie Kühnert, über drei Jahre im Call-Center gearbeitet hat, wird diese Niederträchtigkeit besonders zu schätzen wissen).
Diese heftigen Reaktionen zeigen, dass der junge Politiker mit seinen Äußerungen einen Nerv getroffen hat. Denn nachdem die Wirtschaft unter neoliberaler Ägide im Verlauf der letzten Jahrzehnte weitgehend von der (zumeist demokratischen) Kontrolle durch den Staat entkoppelt worden war (dies nicht nur in Form einer Erosion der Tarifsysteme und Wohlfahrtsstaaten, sondern auch in austeritätspolitischen Maßnahmen wie der Schuldenbremse oder dem Euro-Plus-Pakt auf EU-Ebene), mehren sich unter Bedingungen immer ungleichmäßiger Verteilungsergebnisse und angesichts politischer Ohnmachtserfahrung weiter Teile der Bevölkerung die Anzeichen für eine Zeitenwende (der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Pendelbewegung zwischen Entbettung und Wiedereinbettung von Märkten in der Gesellschaft). Der Frage der Enteignung, dies zeigt Kühnerts Vorstoß sehr deutlich, kann in diesem Prozess eine Schlüsselbedeutung zukommen.
Fasst man das Problem der Enteignung als ein demokratietheoretisches Problem, bietet die Enteignungsfrage für die politische Entwicklung ein starkes progressives Potenzial. Anstatt Marktergebnisse im Nachhinein durch Umverteilungspolitiken zu korrigieren, kann die Politik Produktions- und Verteilungsentscheidungen auf diese Weise von vornherein (mit-)gestalten. Doch mit Blick auf die konkrete Anwendung des Enteignungsinstruments stellen sich perspektivisch eine Reihe offener Fragen.
Zum einen können sich diese auf die Rolle des Staates und der Zivilgesellschaft in der Enteignung beziehen. Denn die Frage, zu wessen Gunsten Eigentum zu kollektivieren ist, bestimmt die solidarische Dimension der Enteignung. So ließe sich etwa eine Vergenossenschaftlichung des BMW-Konzerns mit Blick auf ihre Reichweite kritisieren. Profitieren würde augenscheinlich nicht die Allgemeinheit (wie immer man sie fassen will), sondern vor allem die Beschäftigten des Unternehmens. Am äußeren Ende des moralischen Spektrums müsste eine Solidargemeinschaft im Sinne einer kosmopolitischen Argumentation konstruiert werden. Die nationalstaatliche Ebene wäre hierbei nur ein Fragment innerhalb einer global gedachten Gemeinschaft. Von der Rekommunalisierung lokaler Energienetze bis hin zur klassenlosen Weltgesellschaft (›Arbeiter aller Länder vereinigt Euch!‹) ist also erstmal eine Menge denkbar.
Weiterhin betreffen diese Fragen aber auch die ökologische Dimension sozialer Transformationen. Denn wenn mit dem Klimawandel die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt, werden an den Ufern (und damit wohl nicht zuletzt auf privatem Grund) früher oder später Dämme gebaut werden müssen. Nun ist es – sogar nach allem, was uns die formal für wirtschaftliche Fragen zuständigen (effizienz- und dezidiert nicht demokratietheoretisch argumentierenden) Fachdisziplinen der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre vermitteln – unwahrscheinlich, dass dieses Problem ein effizient funktionierender Markt von selbst regeln wird. Viel eher, so scheint es, markiert die politische Bewältigung der sozialökologischen Folgen das Ende der liberal-kapitalistischen Demokratie.